Außer Atem: Das Berlinale Blog

Nichts zum Entspannen - die Berlinale-Presseschau

Von Thomas Groh
22.02.2020. Nach der großen Gala hat die Berlinale ihren regulären Betrieb aufgenommen. Die Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf die ersten Wettbewerbsfilme - sowohl im klassischen, als auch im neuen Wettbewerb "Encounters", der auf wagemutig-innovatives Kino fokussiert. Erstes Fazit: Die Kritiker begeben sich wohlwollend in den ersten Jahrgang unter Carlo Chatrians künstlerischer Leitung. Mit Ilya Khrzhanovskys beiden DAU-Filmen zeichnet sich allerdings ein handfester Skandal im Festivalprogramm ab.
Erzählende Klänge: Natalia Metas "El Prófugo" im Wettbewerb

Mit Natalia Metas Psychothriller "El Prófugo" wurde der Wettbewerb der Berlinale gestern offiziell eröffnet: Ein Mann dringt hier in Leben und Psyche einer Frau ein - die Realitätsebenen vermischen sich. "Kamerafrau Bárbara Alvarez arbeitet viel mit Spiegelungen, Unschärfen und Bildtiefe, um den surrealen Zustand der Unsicherheit, der Inès umgibt, ins Bildhafte zu übersetzen", erklärt Thomas Hummitzsch auf Intellectures. "Das funktioniert auch sehr gut, der Übergang ins Psychedelische der Heldin ist fließend. Das liegt aber auch an Érica Rivas konzentriertem Spiel, das eine Frau verkörpert, die nicht weiß, was genau mit ihr passiert, aber spürt, dass es von großer Bedeutung ist." Dieser "Genrefilm ist etwas konstruiert, aber sehr unterhaltsam", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ. Für sehr kompetentes Handwerk hält auch Andreas Busche im Tagesspiegel den Film: "Auf der Tonspur setzt Sounddesigner Guido Berenblum desorientierende Störgeräusche und Sinustöne ein, er weiß aber auch die Orgel, das klassische Horror-Instrument, effektvoll zu nutzen." Tatsächlich erzählt der Film "fast mehr durch Klänge als durch Bilder", erklärt Tim Caspar Boehme in der taz. "Klänge bestimmen auch das Leben von Inés. Die Sängerin arbeitet tagsüber als Synchronsprecherin in einem Tonstudio. Dort darf sie japanischen B-Movies ihre Stimme leihen: SM-Pornos, Horrorfilme, nichts zum Entspannen." Allerdings "bleibt man am Ende im Ungefähren zurück, mit viel Atmosphäre, und ein wenig ratlos." Till Kadritzke von critic.de sah "einen fantastischen Film über sehr erklärliche Dinge."

Der mit dem Federvieh tanzt: Giorgio Dirittis "Hidden Away"

Als zweiter Film im Wettbewerb lief Giorgio Dirittis Malerbiografie "Hidden Away" über den lange Zeit als Außenseiter und Sonderling in einem abgeschiedenen Dorf lebenden Künstler Antonio Ligabue: Zu sehen gibt es "die skurrile Geschichte eines Künstlers, den erst niemand ernst nehmen und in dessen Gunst plötzlich alle wollen", schreibt Thomas Hummitzsch auf Intellectures. "Der Film findet überzeugende Formen", wenn er sich "an das leidende, kämpfende, jeder Bändigung widerstrebende Subjekt" heranwirft, meint Ekkehard Knörer im Perlentaucher, doch "es mangelt, zwar nicht der Figur, aber sehr wohl ihrer Darstellung an den inneren Spannungen, die einen Film erst wirklich beleben."

Simon Strauss verneigt sich in der FAZ vor dem "phantastischen" Schauspieler Elio Germano, "dessen physisch kompromissloses Spiel man atemlos verfolgt. Sein Körper, seine Gesten, seine Sprache - alles ist durchdrungen von der Erfahrung des Ausschlusses." Dirittis evoziere "eine Atmosphäre der Gefühlskälte. Seine Kamera lässt er immer wieder in langen Einstellungen über leere Plätze und wehende Felder, durch Arkadengänge und Treppenhäuser schweifen, der enge Seelenzwang wird kontrastiert mit einer großzügigen Bildsprache." Jonas Nestroy von critic.de war unzufrieden: Gut ist der Film lediglich dann, "wenn er gar nicht so klug sein will, wie das von ihm vielleicht erwartet wird", aber allzu zwinge der Film einen eben doch in "uninteressante Wege der subjektiven Perspektivierung."
 
Begegnungen bei "Encounters": Crisi Puius "Malmkrog"

Außerdem feierte auch der neue, experimentelleren Formen gewidmete Wettbewerb "Encounters" mit Cristi Puius "Malmkrog" und Melanie Waeldes "Nackte Tiere" seinen Auftakt: Wo Puiu eine noble Gesellschaft im verschneiten Siebenbürgen des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, geht es bei Waelde um fünf Jugendliche im Brandenburg der Gegenwart, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Jedes Mal eine Peergroup, eine verschworene Gemeinschaft, fünf Menschen, die sich balgen. Die einen auf der Turnmatte, die anderen mit Wortgefechten." Beide Filme "markieren extreme Positionen. Ein Historientableau, eine flackernde Nahaufnahme. Beide verweigern das gewöhnliche Erzählen, stellen die Zeit still, flüchten mit ihr. Früher wären die Filme wohl im Forum gelaufen."

Geradezu "spektakulär" findet es Michael Meyns in der taz, wie Puius Film dem Anspruch der neuen Sektion, innovatives und wagemutiges Kino zu präsentieren, gerecht wird. Im Mittelpunkt des 200-minütigen Kammerspiel steht die mitunter arg pathetisch-metaphysische Philosophie des Russen Wladimir Solowjow. "Dessen Hauptwerk 'Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte mit Einschluss einer kurzen Erzählung vom Antichrist' ist die Basis des Films, der um Fragen der Moral, um Krieg und Frieden, den Kampf zwischen Gut und Böse und schließlich den Antichrist kreist." Man ahnt es schon: "Ein Vergnügen im herkömmlichen Sinne ist 'Malmkrog' nicht", schreibt Till Kadritzke auf critic.de. Zudem werde "viel genippt und wenig gegessen."

Skandalkunst oder große Kunst? Ilya Khrzhanovskys "DAU"-Filme kommen nach Berlin.

Ilya Khrzhanovskys
irrwitzig ambitioniertes DAU-Projekt kehrt nach dem missglückten Versuch einer Installation im öffentlichen Berliner Raum im Jahr 2018 nun in die Hauptstadt zurück - in Form von zwei Filmen, die quasi als Nebenprodukt der auf Jahre angelegten Kunstperformance in einer nach stalinistischem Vorbild errichteten alt-sowjetischen Stadt abgefallen sind. Einer der beiden Filme läuft im Wettbewerb. Kam es bei den langjährigen Dreharbeiten zu Übergriffen, zu Machtmissbrauch und seelischen Grausamkeiten? Für eine große taz-Reportage ist Viktoria Morasch diesen immer mal wieder aufblitzenden Vorwürfen genauer nachgegangen. Eine Casterin für die Berliner Installation berichtet ihr, dass der Künstler ihr anzügliche Fragen gestellt und Gehirnwäsche betrieben habe. Sie "sagt, dass in dem Filmmaterial, das sie zu Beginn ihrer Arbeit für Dau gesehen hat, eine Vergewaltigung vorkam. Eine andere Mitarbeiterin habe deswegen gekündigt. 'Es ist bei dem Projekt immer die Frage, ob es dokumentarisch ist oder nicht. In der Szene, die ich gesehen habe, war wirklich nicht klar, ob die Frau das wollte oder nicht.' ... Auf colta.ru liest man von 16-Stunden-Tagen, Jobs, die angeboten und sofort wieder entzogen wurden, willkürlichen Beförderungen, von schlechter Bezahlung, die es mal gab, mal nicht, von einem generellen Chaos und einem Chef, der absolute Ergebenheit forderte. In anderen russischsprachigen Medien ist die Rede von etwas, was Sklaverei ähnelt, auch von 'Kult' und 'Sekte'."

In Russland sieht sich Khrzhanovsky derweil auch juristisch schweren Vorwürfen ausgesetzt: Seine Filme wurden als "Propaganda für Pornografie" verboten, damit drohe ihm Verhaftung, erklärt er im SZ-Interview. Unter anderem ist in seinem Wettbewerbsfilm "DAU.Natasha" eine brutale Verhörszene zu sehen, in deren Verlauf die Titelfigur dazu gezwungen wird, sich eine Flasche vaginal einzuführen. "Wir erfahren etwas über die menschliche Natur", verteidigt der Regisseur diese Szene. "Es ist viel zu einfach, zu sagen, das ist Stalinismus oder das ist ein böser Mensch. All diese Menschen sind Teil eines Systems, und dieses System ist in ihrem Bewusstsein. 'DAU.Natasha' spielt 1952, 1953. In dieser Zeit war in der Sowjetunion Folter bei Verhören normal. Natasha Berezhnaya und Vladimir Azhippo, der KGB-Offizier, haben die Verhör-Szene improvisiert, wie alles bei DAU. Es gab keine Regieanweisungen, nie. Und natürlich hätten sie das Verhör jederzeit abbrechen können. Man sieht vor allem, was für eine unglaublich starke Persönlichkeit Natasha ist."

Weiteres: Cornelia Geißler hat sich für die FR zum Gespräch mit Maryanne Redpath, der Leiterin des Kinder- und Jugendfilmfests, getroffen. Eva-Christina Meier spricht in der taz mit Samuel Kishi über dessen in der Jugendfilmsektion gezeigten Film "Los lobos". Kirsten Taylor trifft sich für den Tagesspiegel mit der Regisseurin Leonie Krippendorff und der Hauptdarstellerin Lena Urzendowsky des in in der Jugendfilmsparte gezeigten Coming-of-Age-Films "Kokon". Matthias Dell will auch in diesem Jahr auf Dieter Kosslick keineswegs verzichten und hat sich für den Filmdienst den von Arte online gestellten Porträtfilm "Das Kino ist tot, es lebe das Kino" zu Gemüte geführt, der ihn allerdings ziemlich angetrübt hat: "Von seinem Vermächtnis hat Kosslick einen präzisen Begriff: 'Mantel, Schal, Hut - das ist, was übrig bleibt in der Kinemathek.'"

Besprochen werden Jia Zhang-kes Dokumentarfilm "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" (Perlentaucher, critic.de, taz, Tagesspiegel), Philippe Falardeaus Festivalauftaktfilm "My Salinger Year" ("so konsensfähig wie eine Kaffeebar", konstatiert FR-Kritiker Daniel Kothenschulte matt, critic.de, unsere Kritik hier), Bettina Böhlers im Panorama gezeigte Schlingensief-Doku "In das Schweigen hineinschreien" (Artechock, Tagesspiegel), Matias Marianis "Cidade Pássaro" (Perlentaucher), das Drama "Minamata" mit Johnny Depp als Fotojournalist W. Eugene Smith (Tagesspiegel, Welt), Clarisa Navas' Panorama-Eröffnungsfilm "Las Mil y Una" (Tagesspiegel) und Dan Scanlons Animationsfilm "Onward" (taz, Tagesspiegel).

Außerdem: Die Cargo-Kritiker tippen wieder fleißig SMS vom Festival in ihre Handys. Die Critic.de-Kritiker haben sich zum zweiten Podcast ums Mikro versammelt. Und sowieso mehrfach täglich einen Klick wert ist der große Kritikerinnen-Spiegel von critic.de.