Außer Atem: Das Berlinale Blog

Spielend sterben: Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds "Schwesterlein" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
25.02.2020.

Der Bühnentod erfordert seine eignen Regeln. Er darf nicht zu unvermittelt kommen, aber auch nicht zu lange dauern. Das Drama braucht einen großen Tod, einen gewaltsamen Akt, den Prügel des Schicksals. Der Held kann erschossen, erwürgt oder erdolcht werden. Aber seinen langsamen Krebstod möchte sich eigentlich niemand im Theater zumuten.

Der Berliner Schauspieler Sven (Lars Eidinger) ist an Leukämie erkrankt, die Knochenmarktransplantation schlägt so schlecht an wie die Chemotherapien. Aber er möchte weiter den Hamlet spielen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus fährt er direkt zur Schaubühne, um der Zweitbesetzung die Rolle zu entreißen. Er kann das, er will das, er ist doch Hamlet. Wenn er spielt, wird er doch sofort wieder lebendig! Sein Regisseur windet sich, vertröstet seinen Star, aber es ist klar: Diesen Dienst wird er seinem Freund nicht erweisen. Thomas Ostermeier himself, der Chef der Schaubühne, übernimmt den undankbaren Part.

Svens Zwillingsschwester Lisa (Nina Hoss) bringt ihn in die Wohnung der Mutter, aber auch sie lässt die beiden hängen. Die Mutter war ebenfalls Schauspielerin, alte Garde, sie hat "nur mit den Besten" gespielt, Zadek, Stein und Grüber. Jetzt lebt sie am Stuttgarter Platz in ihrer riesigen Wohnung voller Erinnerungen an ihre großen Zeit. Die Welt kreist allein um sie, für einen leidenden Sohn ist da kein Platz. Allein schon, wie er aussieht. Das deprimiert sie total.



Also nimmt Lisa ihren Bruder mit in die Schweiz. Sie ist verheiratet mit dem Leiter eines Internats im noblen Leysin, auf dem Flügel dort hat schon Strawinsky gespielt. Martin (Jens Albinus) setzt gerade alles daran, seinen Vertrag verlängert zu bekommen, wovon Lisa allerdings nichts weiß. Abgemacht war, dass sie nach Berlin zurückkehren, sie will wieder ans Theater und schreiben. Sie ist Dramaturgin, ihre Spezialität sind Stücke über frustrierte Paarbeziehungen. Seit ihr Bruder erkrankt ist, hat sie jedoch keine Zeile mehr geschrieben. Sven und Lisa, die beiden Königskinder des Berliner Theaterlebens, sitzen fest, verraten und verloren, im Knusperhäuschen der Schweizer Hautevolee.

Die beiden Schweizer Filmemacherinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond greifen hoch mit ihrem edel arrangierten Krebsdrama, in das sie so vieles hineinlegen, was sich nie ganz zueinander fügen will: Hänsel und Gretel, Eichendorff und Hamlet, das Theaterleben, Geschwisterliebe und Verrat in der Ehe. Und sie lassen es in den allerbesten Kreisen spielen: Lars Eidinger stirbt in einer fahlen Traurigkeit, die einem das eigene Blut aus den Adern gerinnen lässt. Die Schweizer Schauspieldiva Marthe Keller spielt ganz zart ihre grandiose Narzisstin, und Nina Hoss fällt nicht einmal aus der Rolle, wenn sie in einem Wutanfall auf eine Berliner Mülltonne eintritt.

Wie so viele Krebsdramen will auch "Schwesterlein" dem unvermeidlichen Tod einen Sinn geben. Das Theater kann dem sterbenden Schauspieler kein Leben nach dem Tod sichern, aber wenigstens ein gutes Ende. Denn seine Schwester begreift: "Ein Schauspieler, der begehrt wird, ist ein Schauspieler, der lebt."

Schwesterlein. Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond. Mit Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller, Jens Albinus, Thomas Ostermeier, Schweiz 2020, 99 Minuten. (Alle Vorführtermine)