Außer Atem: Das Berlinale Blog

Irrste Abschweifungen von der Realität - die Berlinale-Presseschau

Von Thomas Groh
26.02.2020. Bei der Berlinale passen die ganz großen Kinothemen auf einen koreanischen Esszimmertisch - zumindest wenn Hong Sangsoo im Wettbewerb Einzug hält. Von solcher Konzentration in den Encounters keine Spur: Alexander Kluges und Khavn de la Cruz' exzessiver Kinorausch "Orphea" bringt die ganze Welt zum Bersten - und Lilith Stangenberg rettet die Toten. Im Forum wird derweil das Innenleben der Bilder freigelegt - und damit für Kontur zum neuen Wettbewerb "Encounters" gesorgt. Der Berlinale-Dienstag im Rückblick.
Große Kinothemen, kleines Setting: Hong Sangsoo mal wieder ganz bei sich.

Der koreanische Autorenfilmer Hong Sangsoo dreht jährlich ohne weiteres zwei, drei Filme und immer, wenn er mit einem von ihnen auf ein Festival zu Besuch kommt, erobert er die Kritik im Sturm mit einer ähnlichen Leichtigkeit, die ihm offenbar auch beim Filmedrehen zu eigen ist. In seinem neuen, im Wettbewerb gezeigten Film "The Woman that Ran" spielt Hongs Partnerin Kim Minhee erneut die Hauptrolle und zwar als Ehefrau, die nach fünf Jahren ihre Freundinnen besucht, die sie in dieser Zeit vernachlässigt hat. Perlentaucherin Thekla Dannenberg ist im Glück: "Wie immer arrangiert Hong Sangsoo die Szenen ganz schlicht. Zwei oder drei Frauen sitzen sich gegenüber am Tisch, trinken Tee oder Schnaps. Ihre Bewegungen sind verhalten, aber voller Anmut, dem Spiel ihrer Hände könnte man stundenlang zusehen. Ihr Ton ist immer höflich, diskret und zart. Es gibt keine raumgreifende Bewegungen, nur ganz diskretes Minenspiel. Und doch verhandeln sie die Beziehung von Mann und Frau, das Verhältnis des Menschen zum Tier, das Leben in der Stadt, also die großen Themen des Kinos."

Zu Hongs großen Verehrern zählt auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte: "Der Minimalismus im Kino hat viele Gesichter, aber keinem Filmemacher abseits des Dokumentarischen gelingt derzeit eine solche Zauberei. Hong Sangsoo ist ein Jongleur des Wirklichen, dem nichts Menschliches fremd ist - abgesehen von der Angestrengtheit, die er aus seinen Filmen kategorisch verdammt." Auch taz-Kritiker Michael Meyns genießt das sich nur im Detail variierende Minimalismus-Kino des Koreaners, in dessen Filme sich immer wieder das Gleiche abzuspielen scheint: "Hongs Filme sind von Melancholie geprägt, vom latenten Gefühl, falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Mit seinen vielfältigen Variationen innerhalb eines Films, aber auch über sein Werk hinweg, ermöglicht es Hong seinen Figuren, diese Entscheidungen zu ändern und andere Wege einzuschlagen. ... Je älter man wird, desto häufiger werden Momente, die man schon einmal erlebt zu haben glaubt. Die Kunst in Hongs Kino ist es, die Schönheit der Variation zu erkennen und zu schätzen." Weitere Besprechungen auf critic.de und im Tagesspiegel.

Lilith Stangenberg im Kluge/Khavn-Film: ratlos.

In den Encounters läuft mit "Orphea" die zweite Zusammenarbeit von Alexander Kluge und dem philippinischen Punk-Auteur Khavn de la Cruz. Hier deuten sie den Orpheus-Mythos um und lassen Lilith Stangenberg als Orphea in der Unterwelt nach ihrem Eurydiko suchen - ein Film über "die Rettung der Toten", schreibt Claus Löser in der Berliner Zeitung über diesen durchgeknallten Film am Rande der Hysterie: "Wenn Orphea durch das urbane südostasiatische Chaos tapst, erinnert sie weniger an eine 'umgepolte' Göttin aus der Antike als an eine europäische Alice auf ganz schlechtem Trip." Zu sehen gibt es keine Handlung, aber "ein turbulentes Nummernprogramm aus Videoclips, Stop-Motion-Animationen, statuarischen Gesangseinlagen und Rezitationen" und außerdem noch "Stepptänze auf Elektronikmüll, Voodoo-Rituale, Exorzismen, Heavy-Metal-Exzesse und Low-Fidelity-Tändeleien." Vor allem wegen Stangenberg ist ein Ereignis, schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline: Ihr "Spiel ist sensationell; allein die Kraft, mit der sie die kleinen Kästen sprengt, in die Kluge sie zwängt, lohnt das Betrachten des Films." Und "wo Kluges Ästhetik sich vom Gezeigten immer auch distanziert, zeigt Khavn noch die irrsten Abschweifungen von der Realität mit hyperrealistischem Gestus - doch gleichen beide sich in der Vorliebe für assoziative Montagen. Vielleicht könne man sagen: So wie Kluge das Material für seine Montagen in Ideen findet, so ergeben sich die Ideen von Khavn aus der Montage des Materials." Dlf Kultur hat ausführlich mit Kluge gesprochen.

Lieber einen Longread zum Thema lesen: Eliza Hittmans "Never Rarely"

Von der desolaten Situation, in der sich Frauen in manchen US-Staaten befinden, wenn sie eine Abtreibung durchführen lassen wollen, berichtet Eliza Hittmans Wettbewerbsfilm "Never Rarely Sometimes Always". Ein Thema, zu dem man sich im Netz stundenlang festlesen kann, so reich ist die Fülle an Reportagen und Hintergrundberichten, schreibt Anja Seeliger im Perlentaucher. Doch "gibt einem der Film etwas darüber hinaus? Nicht das Schwarze unterm Fingernagel." Die Regisseurin setze mit diesem Film "ihre Reihe beeindruckender Jugenddramen fort", schreibt demgegenüber Nadine Lange im Tagesspiegel. Eva-Christina Meier spricht in der taz von einem "präzisen Porträt" der Protagonistin "in einer unaufgeklärten Gesellschaft mit vielen Hindernissen".

Außerdem lief im Wettbewerb Damiano D'Innocenzos und Fabio D'Innocenzos italienisches Familiendrama "Bad Tales", besprochen auf critic.de und in der taz von Fabian Tietke, der ihn zwar bislang für "einen der stärksten Filme im Wettbewerb" hält, allerdings ohne dies so wirklich zu begründen. Beeindruckt auch Perlentaucher Thierry Chervel, de von "scharfkantigem Neorealismus" spricht: "Es sind Sommerferien, die Kinder begießen sich mit Wasser, aber eine wirkliche Ausgelassenheit kommt nie zustande. In der Zeitlupe wird das Jauchzen zum stummen Schrei. Die Kinder verstehen die Erwachsenen nicht. Sie betrachten die Pornos auf den Handys der Väter. Sie kapieren wohl, dass etwas kaputt ist, können es aber nicht benennen. Einmal fragt ein Kind seinen Vater, ob er und die Mutter glücklich seien - da rastet der Vater aus."

In der FAZ resümiert Bert Rebhandl das bisherige Programm das Forums, das in diesem Jahr mit Cristina Nord ebenfalls eine neue Leiterin hat. Sein Zwischenfazit: "Das Forum sucht die Instanz für eine Beglaubigung von Bildern nicht außerhalb von ihnen, sondern in einer Freilegung von deren Innenleben. Vielleicht liegt in dem Wechselspiel zwischen 'Encounters', der neuen, von Carlo Chatrian geschaffenen Berlinale-Sektion, und dem Forum tatsächlich eine produktive Herausforderung, von der das gesamte Festival profitieren könnte. Die ersten Tage deuten jedenfalls in diese Richtung."

Außerdem: Im Tagesspiegel spricht Christiane Peitz mit dem Filmemacher Burhan Qurbani über dessen heute im Wettbewerb gezeigte Adaption von "Berlin Alexanderplatz", die Franz Biberkopf zum Flüchtling im Berlin der Gegenwart umdeutet. Für die taz spricht Igal Avidan mit dem Filmemacher Ra'anan Alexandrowicz über dessen experimentellen Dokumentarfilm "The Viewing Booth" (mehr dazu hier). Elisabeth Binder hat sich für den Tagesspiegel mit der Filmemacherin Nanette Burstein getroffen, die auf der Berlinale ihren Dokumentarfilm "Hillary" über Hillary Clinton präsentiert. Außerdem hat sie die Pressekonferenz mit der US-Politikerin besucht. Thomas Klein spricht in der Berliner Zeitung mit der isländischen Komponistin Hildur Guðnadóttir, die bei den Berinale Talents einen Auftritt hatte. Simon Rayß hat sich für den Tagesspiegel zum Europäischen Filmmarkt an den Stand von Chile aufgemacht. Außerdem hat er Cate Blanchetts Auftritt bei den Talents besucht. Im FAZ-Blog berichtet Bert Rebhandl davon, wie er versucht hat, ein Interview mit dem Schauspieler Jason Segel zu bekommen. Im Freitag staunt Ruth Herzberg darüber, dass das Kino International im Osten Berlins noch nicht abgerissen wurde, wo doch ansonsten in Berlin alles der Abrissbirne zum Opfer fällt, was das Stadtbild verschönert. Außerdem lassen Daniel Sannwald (Ray) und Katrin Doerksen (Culturmag) das bisherige Festival Revue passieren.

Besprochen werden Sandra Wollners "The Trouble with Being Born" (taz, Dlf Kultur hat mit der Regisseurin gesprochen), Kitty Greens im Panorama gezeigter Film "The Assistant" über Machtmissbrauch in der Filmbranche (SZ), Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Undine" (Standard, unsere Kritik hier), Bettina Böhlers Schlingensief-Doku "In das Schweigen hineinschreien" (ZeitOnline), Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds Wettbewerbsfilm "Schwesterlein" mit Nina Hoss und Lars Eidinger (ZeitOnline, unsere Kritik hier), Abel Ferraras Wettbewerbsfilm "Siberia" (critic.de), Arie und Chuko Esiries "Eyimofe - This is my Desire" (Perlentaucher, Tagesspiegel), Marvin Krens auf der Berlinale gezeigte Serie "Freud" (Tagesspiegel), Andrey Gryazevs "Kotlovan" (Perlentaucher), Nader Saeivars "Namo (The Alien)" (taz) und einige der auf der Berlinale vorgestellten Serien (Freitag).

Außerdem: Viele weitere Besprechungen auf kino-zeit.de, bei critic.de und auf Artechock. Zum Hören: Der sechste critic.de-Podcast. Immer einen Klick wert: der Kritikerspiegel von critic.de. Schnelle Updates: die SMS von Cargo. Und natürlich täglich mehrfach aktualisiert: unser Berlinale-Blog.