Außer Atem: Das Berlinale Blog

Ein Monument der Dissidenz - die Berlinale-Presseschau

Von Thomas Groh
29.02.2020. Auf der Zielgeraden hält der Bärenfavorit Einzug im Wettbewerb: Mohammad Rasoulofs "There Is No Evil" ist eine wütende Anklage der Verhältnisse im Iran - und erobert die Kritik im Sturm. Ebenfalls wuchtig, aber problematisch:  "Irradiés",  Rithy Panhs Meditation über die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts. Der letzte Tag der Berlinale im Pressespiegel.
Die Kompromittierung des Einzelnen: Mohammad Rasoulofs "There Is No Evil"


Der Berlinale-Wettbewerb (hier alle unsere Wettbewerbskritiken) geht mit zwei wuchtigen poltischen Statements zu Ende: In den vier Episoden seines Films "There is no Evil" zeigt der iranische, in seinem Heimatland derzeit festgesetzte Regisseur Mohammad Rasoulof, wie Diktaturen auf "Kompromittierung des Einzelnen" basieren, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel. Damit steht der Film im Kontext zu Ilya Khrzhanovskys Skandalfilm "DAU.Natascha". Doch "während Ilya Khrzhanovsky das Geschehen durch Wiederholung im Grunde nur verdoppelt - als wäre Wiederholung schon Therapie - ist 'There is No Evil' ein Monument der Dissidenz. Rasoulof zeigt, dass es einen Abscheu vor der Anmaßung der Diktatur, über Tod und Leben zu entscheiden, gibt, und dass Menschen das Risiko eingehen, sich zu verweigern. Auffällig ist dabei, das man bei Rasoulof anders als bei Khrzhanovsky, nie einen wirklichen Repräsentanten der Obrigkeit zu Gesicht bekommt. Im Grunde spielt sich alles in den Köpfen der einzelnen ab."

Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche sah eine "manchmal auch wortgewaltige Meditation über Moral, Schuld und Zivilcourage". Tazler Andreas Fanizadeh beobachtete hier bisweilen ein "Brecht'sches Lehrstück." Von einem "Meisterwerk über den zivilen Ungehorsam in einer Diktatur" spricht Daniel Kothenschulte in der FR und benennt mit diesem Film endgültig seinen Favoriten dieses Wettbewerbs: "Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie die Jury an Rassulofs Werk vorbeikommen kann."

Bilder der Gewalt: "Irradiés" irritiert.

Mit seinem im Wettbewerb gezeigten Film "Irradiés" will der kambodschanische Regisseur Rithy Panh "den Völkermord der Roten Khmer auch in das Gedächtnis der Welt einschreiben", schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher nach diesem "Triptychon des Schmerzes." Eher wie eine Kunstinstallation wirkt diese Anordnung von Bildern der Gewalt aus den Archiven des 20. Jahrhunderts: "Der Film ordnet nichts ein, er ist keine politische Reflexion, sondern ein Epitaph für die Toten des 20. Jahrhunderts." Erschütternd findet FAZ-Kritiker Simon Strauß den Film allerdings nur so lange, wie Panh Originalbilder zeigt. Doch sobald "sich eigene Bildphantasien untermischen, zwei weißgeschminkte Darsteller als Personifikation des Gewissens auftreten, verliert sich der Film vollends im falschen Pathos."

Vor dieser Aufwälzung der Gewalt und der Toten scheitert jeder Feuilletontext, meint Ekkehard Knörer in der taz: "Der Film ist ein zermalmender Ansturm der Bilder, die kein Auslassen, keine Pietät, kein Wegschauen kennen und alle Zeigetabus im Handstreich zertrümmern. Die Verstrahlung ist Bild für Bild, Leiche für Leiche, Bombe für Bombe, Schädel für Schädel konkret." Damit ist der Film "auch eine obszöne, des Kitschs in Bild, Musik, Text keineswegs entratende Gewalttätigkeit. Wie das ästhetisch und ethisch angehen kann, darüber muss gesprochen werden." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und auf critic.de.

"Niemand wurde vergewaltigt": Ilya Krszhanovskiys "DAU.Natascha"


Im FAZ-Blog spricht Bert Rebhandl mit Ilya Krzhanovskiy über dessen DAU-Projekt, das im Zuge seines Film "DAU.Natascha" (unsere Kritik) wegen seiner teils drastischen Szenen und den Vorwürfen, das Projekt fuße auf manipulativem Machtmissbrauch, in die Kritik geraten ist. "Niemand wurde vergewaltigt", unterstreicht Krzhanovskiy. "Das Universum von DAU ist nicht realistisch, die Gefühle sind realistisch. DAU ist ein Spiel, das uns daran erinnert, was Totalitarismus tatsächlich ist. Ein Setting mit Menschen, plus eine Kamera, die katalysiert etwas, das alles ergibt einen Prozess."

Patrick Heidmann hat sich für die taz mit Kelly Reichardt zum Gespräch über ihren im Wettbewerb gezeigten Antiwestern "First Cow" (hier unsere Kritik) getroffen. Im Filmdienst hält Esther Buss gemeinsam mit Ulrich und Erika Gregor Rückschau auf die Gründung des Berlinale-Forums vor 50 Jahren. Die Geschichte des Forums war auch Gegenstand des Forum Panel Day, von dem Matthias Dell im Dlf Kultur berichtet. Claudia Lennsen spricht im Tagesspiegel mit Agnieszka Holland, die ihren neuen Film "Scharlatan" im Berlinale-Special präsentiert, über die Lage in Polen. Für die NZZ spricht Andreas Scheiner mit Helen Mirren, die in Berlin mit einem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wird. Dunja Bialas spricht im Tagesspiegel mit der Kamerafrau Hélène Louvart, die in diesem Jahr gleich zwei Wettbewerbsfilme - Caetano Gotardos und Marco Dutras "Todos os Mortos" und Eliza Hittmanns "Never Rarely Sometimes Always" (hier und dort unsere Kritiken) - geschossen hat. Die Regisseurin Alice Agneskirchner fragt sich im Tagesspiegel, warum nach den Galavorführungen der Wettbewerbsfilme die Filmcrew nicht mehr zum Bad im Applaus auf die Bühne gebeten wird.

Erste Resümees zum Festival: "Nun sag, wie hast du's mit Encounters" ist sicherlich die Gretchenfrage dieses Festivaljahrgangs. Der neue, von Chatrian für besonders innovative und überraschende Filme begründete Wettbewerb wird von den einen gefeiert, von den anderen eher skeptisch betrachtet. Inhaltlich überzeugt Encounters zwar, meint Thomas Klein in der Berliner Zeitung: "Doch die Stärken der hier gezeigten Werke werden gleichzeitig zu Schwächen des Festivals. ...  Die Filmkunst braucht keine eigene Sektion, kein Avantgarde-Reservat und das Festival nicht noch mehr unklare Grenzen: Encounters ist kein Reinfall, aber doch ein Fehlstart." Man solle Äpfel nicht mit Birnen vergleichen war Chatrians Argument, warum er neben dem Wettbewerb einen weiteren installieren wolle - doch zeige sich nun, dass beide Wettbewerbe "vielerlei Obst" zeigen, meint eine ebenfalls nicht überzeugte Christiane Peitz im Tagesspiegel. Ähnlich lautet das Fazit von Rüdiger Suchsland, der für sein neues Artechock-Video die schönsten Nicht-Orte der zusehends verödenden Arcaden am Potsdamer Platz aufgesucht hat:



Tiefschläge habe es in diesem Wettbewerb, dem ersten nach der umstrittenen Ära Kosslick, dem ersten unter der künstlerischen Leitung des früheren Filmkritikers Carlo Chatrian, nicht gegeben, hält Andreas Kilb im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ fest. Allerdings vermisste er auch die ganz großen Meisterwerke. So richtig geglückt ist es dem Festival in diesem Jahr nicht, sich als Forum des Weltkinos zu etablieren: "Das Kunststück, das die neue Direktion bewerkstelligen muss, besteht darin, das Hauptprogramm zu stärken, ohne den Sektionen etwas wegzunehmen. In diesem Jahr ist das nur halb gelungen. Das liegt auch daran, dass Chatrians zentrale Neuerung, die Einführung eines zweiten Wettbewerbs für avantgardistische Filme, nicht funktioniert hat. Die zwei, drei herausragenden Beiträge dieser 'Encounters' getauften Reihe hätten um den Goldenen Bären konkurrieren sollen, der Rest hätte wie von jeher im 'Internationalen Forum des Jungen Films' Platz gehabt.

Der Festivalwettbewerb habe "sich weniger sperrig entwickelt als erwartet", schreibt Andreas Scheiner in der NZZ. Esther Buss resümiert im Filmdienst die "Woche der Kritik", eine vom Verband der deutschen Filmkritik organisierte Parallelveranstaltung zur Berlinale.

Besprochen werden Viera Čákanyovás Antarktis-Essayfilm "Frem" (taz), C.W. Winters und Anders Edströms "The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin)" (Perlentaucher), David France' Dokumentarfilm "Welcome to Chechnya" über queere Menschen, die vor Terror, Folter und Mord aus Tschetschenien fliehen (taz, Dlf Kultur hat mit France gesprochen), Josephine Deckers "Shirley" (critic.de), Kitty Grenns Spielfilmdebüt "The Assistant" über Machtmissbrauch in der Filmbranche (taz, critic.de), Johannes Nabers "Curveball" (Tagesspiegel), Anaïs Barbeau-Lavalettes "Goddess of the Fireflies" (critic.de), Sandra Kaudelkas Porträtfilm "Wagenknecht" (Welt), Alexander Kluges und Khavn de la Cruz' durchgeknallter Experimentalfilm "Orphea" mit Lilith Stangenberg als Titelheldin (Welt), Eliza Hittmans Abtreibungsdrama "Never Rarely Sometimes Always" (ZeitOnline, FAZ), Francisco Márquez' "Un Crimen común" (Tagesspiegel), Matthew Rankins "The Twentieth Century" (Tagesspiegel) und die im Panorama gezeigten Transgender-Dokus "Always Amber" von Lia Hietala und Hannah Reinikainen sowie "Petite Fille" von Sébastien Lifshitz (Tagesspiegel).

Außerdem: Viele weitere Besprechungen auf kino-zeit.de, bei critic.de, auf Artechock, beim Spiegel und bei Das Filter. Zum Hören: Der neue critic.de-Podcast. Immer einen Klick wert: der Kritikerspiegel von critic.de. Schnelle Updates: die SMS von Cargo. Und natürlich täglich mehrfach aktualisiert: unser Berlinale-Blog.

Und nicht zu vergessen: alle Berlinale-Presseschauen im Überblick.