Efeu - Die Kulturrundschau

Gut möblierte Ratlosigkeit

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15.01.2019. Zum Bauhaus-Jubiläum erklärt der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt in der taz: Nicht vom Bauhaus kamen die relevanten Beiträge zum modernen Bauen, sondern von der Sozialdemokratie. Außerdem dechiffriert die taz die Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Lorraine O'Grady. In Beat Furrers neuer Oper "Violetter Schnee" kriecht der SZ   kosmische Kälte den Rücken hoch. Die NZZ blickt auf Japans junge Autorengeneration. Der Freitag spürt die Faust von Samuel Fuller in den neuen Berliner Gangster-Serien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.01.2019 finden Sie hier

Architektur

Die Villa des Direktors: Walter Gropius' Meisterhaus in Dessau

Der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt, einst Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau, spricht im taz-Interview mit Brigitte Werneburg recht freimütig über die morgen beginnenden Bauhaus-Feierlichkeiten und die Musealisierung der Moderne. Das neue Bauen, erklärt Oswalt allerdings, war weniger eine Frage der Architektur als eine politische Entscheidung: "Was die Wohnungsfrage angeht, hat das historische Bauhaus keine relevanten Beiträge geleistet. Die wesentlichen Beiträge zur Wohnungsfrage kamen von den Kommunen. Etwa in Berlin, Frankfurt am Main, Wien und Amsterdam wurde sehr innovativ und auch in großer Stückzahl neuer Wohnungsbau realisiert. Das war zwar ein Architektur-, vor allem aber ein politisches Projekt. Dazu bedurfte es einer anderen Finanzierung und neuer Bauherrenschaften. Man hat die spekulativen Bauherren des 19. Jahrhunderts und der Gründerzeit durch genossenschaftliche und kommunale Wohnungsbaugesellschaften abgelöst. Das waren auch immer Projekte, die aus dem Kontext der Sozialdemokratie ermöglicht wurden. Ohne diese politischen Bündnisse hätte es die Architektur der Moderne gar nicht geben können. Das ist etwas, das heute viel zu wenig verstanden wird." Und da das Bauhaus mit den Meisterhäusern vor allem das Großbürgertum bedient habe, fällt Oswalts Urteil über Walter Gropius auch recht harsch aus: "Man muss es deutlich sagen, er war, was den Wohnungsbau angeht, weitestgehend ein Versager."

Weiteres: Im Tagesspiegel erinnert Therese Mausbach an Mies van der Rohes Revolutionsdenkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, das 1935 von den Nationalsozialisten zerstört wurde.
Archiv: Architektur

Film

Szene aus "Dogs of Berlin"


Im Freitag vergleicht Sascha Westphal die im Berliner Gangstermilieu spielenden Serien "4 Blocks" und "Dogs of Berlin" - wobei er letzterer, von der Kritik weitgehend einhellig verrissen, durchaus mehr abgewinnen kann als seine Kollegen: In manchen Szenen zeigt Showrunner und Regisseur Christian Alvart nämlich "ein großartiges Gespür für die Psychologie seiner scheinbar so comichaft angelegten Protagonisten. Sie zeugen auch von einem präzisen Blick für gesellschaftliche Verhältnisse und ihre über Generationen reichenden Auswirkungen. Wie einst Samuel Fuller in seinen B-Filmen geht Alvart gezielt zu weit. Er hält der Wirklichkeit einen Zerrspiegel vor, in dem es mehr zu entdecken gibt, als der erste Blick vermuten lässt."

Weitere Artikel: Im Freitag erinnert Lutz Herden an das 1969 beim SDR entstandene, auf Youtube stehende Doku-Drama "Der Fall Liebknecht-Luxemburg", dessen Redakteure nach neueren Aktenerkenntnissen damals zu dem Schluss gekommen sind, dass Leutnant Hermann Souchon seinerzeit die tödlichen Schüsse auf Rosa Luxemburg abgegeben hat - der wiederum "klagte gegen den Süddeutschen Rundfunk vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, das den Sender prompt verurteilte, die Behauptung zu unterlassen, Souchon sei der Todesschütze gewesen." Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt einen Nachruf auf die Schauspielerin Laya Raki, die bereits im Dezember letzten Jahres gestorben ist.

Besprochen werden Michael Moores "Fahrenheit 11/9" (Standard, Die Presse, critic.de, mehr dazu hier), Andreas Goldsteins Verfilmung von Ingo Schulzes Wenderoman "Adam & Evelyn" (SZ) und die dritte Staffel von Nic Pizzolattos "True Detective", die laut ZeitOnline-Kritikerin Carolin Ströbele nach der verpatzten zweiten Staffel wieder an die Qualität der ersten anschließt.
Archiv: Film

Kunst

Lorraine O'Grady "Cutting Out CONYT (1977/2017)" © Lorraine O'Grady, Privatsammlung NRW

Bettina Maria Brosowsky stellt die amerikanische Künstlerin Lorraine O'Grady vor, die jetzt in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu sehen ist und die nicht unbedingt auf geradem Wege zur feministischen Konzeptkunst kam: "O'Grady wuchs als Kind karibischer Einwanderer in Boston auf und genoss eine Eliteausbildung an einer renommierten Privathochschule für Frauen. In den 1960er Jahren war sie fünf Jahre lang Geheimdienstanalystin im US-Außenministerium. Zu ihrem täglichen Pensum während der Kubakrise zählte die Lektüre von mehr als zehn Tageszeitungen, dazu kamen Agentenberichte und die Transkripte dreier kubanischer Radioprogramme. In dieser Zeit erodierte für sie die Sprache, wurde ein unpersönliches, öffentliches System. Um sich ihre individuelle Diktion zurückzuerobern, kündigte sie, zog nach New York, wo sie als Übersetzerin sowie Kritikerin im Bereich der Rockmusik arbeitete. Sie entdeckte die Konzeptkunst für sich, deren Ideen und Techniken sie als schon lange in sich schlummernd empfand. 1977, genauer: zwischen dem 5. Juni und dem 20. November, schnitt sie aus den Sonntagsausgaben der New York Times Überschriften und Textpartikel aus und erstellte daraus lakonische kleine Gedichte. 'Cutting Out the New York Times (CONYT)' wurde eine ihrer ersten künstlerischen Arbeiten."

Besprochen werden eine Schau des Fotografen Jean Molitor, der Spuren des Bauhaus in aller Welt verfolgte, im Willy-Brandt-Haus (Berliner Zeitung) eine Ausstellung des Landschaftsmalers Heinrich Reinhold in der Hamburger Kunsthalle (SZ), eine Schau des Zeichners Alfred Kubin im Münchner Lenbachhaus (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Existenzielle Verlorenheit des Menschen: Beat Furrers "Violetter Schnee" an der Staatsoper Berlin. Foto: Monika Rittershaus

An der Berliner Staatsoper wurde Beat Furrers neue Oper "Violetter Schnee" uraufgeführt, nach einer Erzählung von Vladimir Sorokin und mit einem Libretto von Händl Klaus. Die Schneemassen bei Furrer entstammen nicht der aktuellen Wetterlage in der Alpenregion, versichert Wolfgang Schreiber in der SZ, sondern der kosmischen Kälte: "Eine Untergangsvision: Fünf Menschen sind in einem Haus vom Schnee eingeschlossen, sind in dem düster nebelhaften Ambiente, das Étienne Pluss in einem bühnenbreiten Bilderrahmen fixiert hat, auf ihre pure Existenz zurückgeworfen. Die kreischend zirkulierende Musik aus mikrotonalen Cluster-Reibungen, die Matthias Pintscher und die Berliner Staatskapelle akkurat, gründlich sich erarbeiten, kann die Situation eines aussichtslosen Kampfs durchaus 'beschreiben', die Kälte, die Angst von Menschen." FAZ-Kritiker Jan Brachmann bleibt mit gemischten Gefühlen nach dieser Weltuntergangsfantasie zurück: "So hat die Apokalyptik von 'Violetter Schnee' auch "etwas kunstgewerblich Erprobtes, der suggerierte Gattungsselbstmord am Ende etwas von gut möblierter Ratlosigkeit. Und trotzdem: Das alles hat ein Könner gemacht, ein Lauscher und meisterlicher Phantast."

Weiteres: Wolfgang Kralicek trifft die Dramatikerin Enis Maci, deren Stück "Autos" im Schauspielhaus Wien uraufgeführt wurde. Im Standard schreibt Michael Wurmitzer zu ihrem Stück, in der Nachtkritik Gabi Hift.

Besprochen werden Robert Ickes Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" in Basel ("Das hat Sog, Drive und ist ein unaufhaltsames Fallen ganz nach unten, in die tiefste Schicht menschlicher Triebe", jubelt Daniele Muscionico in der NZZ, FAZ), der Abend "Tarzan rettet Berlin" im Berliner HAU, mit chorischen Lesungen seiner Tagebücher an den Theatermann Einar Schleef erinnerte (taz), der Zürcher Ballettabend "Bella Figura" als Hommage an Jirí Kylián (NZZ) sowie Choreografien von Johan Inger und Giuseppe Spota am Nationaltheater Mannheim (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

In der NZZ skizziert Daniela Tan die Lage der jungen Autorengeneration Japans auf der Suche nach einer eigenen Stimme. Diese steht unter den Eindrücken zweier künftiger Großereignisse: Der olympischen Spiele 2020 und der kommenden Inthronisation eines neuen Tenno. Die in den 00er Jahren aktiv gewordenen Schriftsteller des Landes reagieren mit einer von "nostalgischen Reminiszenzen durchzogenen Resignation", schreibt Tan. "Der Alltag ist durchaus unerfreulich, doch erträglich durch kleine Momente des Glücks, imaginäre Begegnungen und glaubhaft durch die Erinnerung an eine Kindheit, in der irgendwie das Leben noch intakt gewesen zu sein schien. In Gestalt der Großeltern sind Erinnerungen an Japans Vergangenheit präsent."

Takis Würgers Roman "Stella" hält das Feuilleton auf Trab: "Literarische Hochstapelei", wettert Carsten Otte in der taz über dieses "schlampig gemachte Stück Histotainment" und epmpihelt ihm wie auch Daniel Kehlmann, noch einmal den "Roman eines Schicksallosen" von Nobelpreisträger Imre Kertész zu lesen. Die harscher Reaktionen auf das Buch sieht Christiane Peitz im Tagesspiegel vor dem Hintergrund der Relotius-Affäre - Autor Würger ist ebenfalls Spiegel-Journalist - und dem Skandal um Menasses gefälschte EU-Zitate: Seitdem "ist die Medienöffentlichkeit in Sachen Fakt und Fiktion sensibilisiert. Und auch hysterisiert."

Noch ist die Korrespondenz zwischen Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann nicht veröffentlicht, aber der frühere NDR-Redakteur Stephan Lohr konnte für die SZ bereits einen ausführlichen Blick hinein werfen. Gelesen hat er dabei die Chronik einer zwar sehr zugewandten, allerdings auch für die Öffentlichkeit sichtlich ereignisarmen Freundschaft: "Diskrete Zitate, eine normale Autorenkorrespondenz, unspektakuläre Begegnungen. Heinrich Böll war Ingeborg Bachmann wohl wirklich ein Freund, sie ihm eine Freundin, dankbar für die Ratschläge des Älteren, interessiert an seinen ausführlichen Berichten aus und über Irland und das Familienleben. Sie war eine aufmerksame Leserin seiner Bücher und fürsorgliche Managerin seines Rom-Aufenthaltes 1961."

Weitere Artikel: Für Tell-Review befasst sich Thorsten Wilhelmy mit der Welle von Romanen über Schriftsteller - seiner Ansicht nach mitunter "höherer Boulevard" und ein Symptom für "die heutige Zeitstimmung, den mild kulturpessimistischen Abendschmelz". Für die Zeit porträtiert Katja Nicodemus den Comiczeichner Mathieu Sapin. Elena Witzeck hat für die FAZ die Schriftstellerin Almudena Grandes getroffen, die in ihren Büchern und Kolumnen den Folgen des spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur nachspürt.

Besprochen werden unter anderem Oswald Eggers "Triumph der Farben" (NZZ), Marjana Gaponenkos "Der Dorfgescheite" (FR) und Lion Feuchtwängers Tagebücher (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Die britische Musikindustrie blickt sorgenvoll auf den bevorstehenden Brexit: Was die Abrechnungen im Zeitalter globalen Streamings betrifft, drohe wohl "ein gewaltiger Papierkrieg", wenn nicht gar "Chaos", schreibt Hanspeter Künzler in der NZZ. Zudem beliefert die Insel seit den 60s die Pop-Hotspots nicht nur des eigenen Landes: "Inzwischen sind aber neue Zentren dazugekommen, Städte wie Berlin, Amsterdam oder Paris. Und so hat sich der musikalische Austausch europaweit intensiviert. Deshalb glaubt das britische Musikbusiness, dass es global, mindestens aber europäisch denken und handeln muss, wenn es die Interessen der Künstler wahren will. Dass man diesem Austausch durch den Brexit Hindernisse in den Weg stellt, wird in der Musikszene deshalb als Eigentor mit Ansage betrachtet. Die Abschottung widerspricht eben allem, was die Exponenten der britischen Musikindustrie aus der Geschichte ihrer Kunst denken gelernt zu haben."

Besprochen werden der von Tugan Sokhiev dirigierte Auftritt des Bolschoi-Theater-Chors bei den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel, hier online zum Nachhören), ein von Iván Fischer dirigierter Mahler-Abend (Tagesspiegel), ein von der Mexikanerin Alondra de la Parra dirigiertes Konzert des Rundfunksinfonieorchesters Berlin (Tagesspiegel) und neue Afropop-Veröffentlichungen, darunter "Kamale Blues" von Harouna Samake: "psychedelische Tanzmusik" mit "wunderbaren, verschachtelten, von Blues-Riffs getragenen Loops", meint SZ-Kritiker Jonathan Fischer.

Archiv: Musik