Efeu - Die Kulturrundschau

Schade, dass du weg bist

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13.07.2022. Der Guardian entdeckt die Abstraktion in Milton Averys poetischen Landschaften. In der FAZ verabschiedet sich der Schriftsteller Wolfgang Hedewald vom deutschen PEN und dessen friedenspolitischer Ideologie. Die FR plädiert für regional unterschiedliche Bauweisen und gegen global optimierte Klimatechnik. FAZ und Welt erliegen dem Belcanto, den Tobias Kratzer mit Rossini in Aix-en-Provence aufblühen lässt.  Die taz wiegt sich zu den ultramelancholischen Chansons von Brezel Göring.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Milton Avery: Little Fox River, 1942. Bild: Royal Academy


Die Royal Academy in London widmet dem amerikanischen Maler Milton Avery eine große Schau, im Guardian betrachtet Jonathan Jones voller Begeisterung Averys Landschaften und Porträts, durch die bereits die Abstraktion hervorschimmert: "Avery hat nie den gleichen Sprung zur reinen Abstraktion gemacht wie Mark Rothko, Barnett Newman oder Jackson Pollock, aber diese brillante Ausstellung beweist, dass er das auch nicht nötig hatte. Dieser eigenwillige, experimentierfreudige amerikanische Träumer nahm die poetische Verwendung von Farben bereits Jahre zuvor vorweg, und zwar in Gemälden, in denen die Abstraktion in der Natur selbst versteckt ist. Die amerikanische Natur mag tatsächlich abstrakter sein als die beschaulichen Felder und kleinen Hügel, die wir in Europa haben. Die schiere Größe des nordamerikanischen Kontinents war sogar noch beängstigender, weil es keine lange Geschichte von Landschaftsmalern wie Claude gab, die sie vertraut gemacht hätten. Als Avery begann, Neuengland zu malen, wo er in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, konnte man das Meer und die Wälder noch als neu für die Kunst betrachten, als Terra incognita."

Für die SZ besichtigt Cornelius Pollmer in Halle-Neustadt Josep Renaus Großmosaik "Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR", das bis Ende des Jahres restauriert sein soll: "Am schlimmsten hat es, kein Witz, Karl Marx getroffen... Der große Marx nämlich überragt sogar das Dach des Plattenbaus und, auch hier grüßt spät die DDR, wer den Kopf rausstreckt, bekommt natürlich schnell mal Probleme. Über die Dachkante konnte Wasser leicht in die Scherbenmasse eindringen, es gab Frostsprengungen, Salz lagerte sich ein und drängte seinerseits an die Oberfläche."

Außerdem: "Mindestens 84 Teilnehmer der diesjährigen Documenta fifteen Aufrufe zum Israel-Boykott unterschrieben", berichtet Frederik Schindler in der Welt. Besprochen werden die Ausstellung "Die neue Nähe" mit intimen Bildern des Malers Tim Eitel im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum (SZ) und die Skulpturen des britischen Bildhauers Tony Cragg in der Albertina (Standard).
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Bühne

Rossinis "Moise et Pharao". Foto: Festival Aix-en-Provence

Das Opernfestival von Aix-en-Provence prunkt in diesem Jahr mit Mozarts "Idomeneo" und Pascal Dusapins Dante-Komposition "Il Viaggio", doch am sträksten beeindruckt hat FAZ-Kritikerin Anja-Rosa Thöming Gioacchino Rossinis geistliche Oper "Moïse et Pharaon" im Théâtre de l'Archevêché in Aix-en-Provence: "Die Akustik trägt bestens, jedes Pizzicato der Celli, jeder Oboenton ist von der Ouvertüre an deutlich zu hören. Michele Mariotti am Pult des Orchestre de l'Opéra de Lyon stellt klar, warum Rossini von seinen Zeitgenossen europaweit gefeiert wurde; durch musikalische Kompetenz und Intensität wird der Abend zu einem beglückenden Ereignis. Neben dem Einsatz Mariottis ist es die starke Regie von Tobias Kratzer, die den musikalischen Rhythmus achtet und die Räume öffnet, in denen Belcanto aufblühen kann. Dabei erzählt er durchaus eine eigene Geschichte." Auch Welt-Kritiker Manuel Brug steckte angesichts der "hoch anspruchsvollen" Werke die konstanten 36 Grad ohne zu Murren weg.

Besprochen werden außerdem Brigitte Fassbaenders versöhnliche Inszenierung der "Walküre" bei den Tiroler Festspielen in Erl (FR) und das Tanzfestival "Colours" in Stuttgart (SZ).
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Literatur

Der deutsche PEN und kein Ende. Wobei: Für den Schriftsteller Wolfgang Hegewald hat es nun endgültig eines mit dem "literarischen Vereinsleben". Schon zum zweiten Mal in seinem Leben tritt er aus: In den Neunzigern aus Protest gegen allzu demonstrative Umarmungen von DDR-Staatsschriftstellern, jetzt, weil Interimspräsident Josef Haslinger den Aufruf in der Zeit unterschrieben hat, dass die Ukraine sich gegenüber Russland de facto ergeben sollte. "Putin wird sich das Zeit-Dokument, um Marcel Beyer zu paraphrasieren, wie zuvor schon die Emma-Epistel vergnügt in sein Poesiealbum kleben", schreibt Hegewald in der FAZ. Vor vierzig Jahren "habe ich in der DDR im Postamt Leipzig-Reudnitz meinen Ausreiseantrag per Einschreiben losgeschickt. Bevor Putin in meiner Herkunftsstadt Dresden als KGB-Offizier Posten bezog, hatte ich das Weite gesucht. Putins Obstruktionsfuror und Vernichtungswille gilt über die Ukraine hinaus einer freiheitlichen Lebensform, an der teilhaben zu wollen ich in meinem Ausreiseantrag vom 30. Juni 1982 deklarierte. Und im PEN Darmstadt, so vermute und befürchte ich, geben jene einflussreichen Intellektuellen, von denen Georg Witte spricht, den Ton an, mit ihrer friedenspolitischen Ideologie. Ich respektiere, dass Josef Haslinger unterschreibt, was er für richtig hält. Aber der Dissens ist kategorisch."

Außerdem: Katrin Hörnlein stellt in der Zeit die Arbeit einer Kinderbibliothek in Lampedusa vor, die geflüchteten Kindern textlose Bücher anbietet, um Sprachbarrieren zu überwinden. Im Museum voor Schone Kunsten in Gent bietet sich die überaus rare Möglichkeit, eine Originalseite aus Hergés "Tim und Struppi"-Comic "Kohle an Bord" bestaunen, die der Comiczeichner einst dem Haus geschenkt und somit dem eisernen Regiment seiner Nachlassstiftung entzogen hat, freut sich Andreas Platthaus in der FAZ. In der Welt verrät die Schauspielerin Anna Thalbach, welche Bücher sie geprägt haben.

Besprochen werden unter anderem Rachel Cusks "Coventry" (FR), Georgi Gospodinovs "Zeitzuflucht" (NZZ), Peter Handkes "Innere Dialoge an den Rändern. 2016-2021" (SZ), Honoré de Balzacs "Theorie des Gehens" (Zeit) und Tomas Venclovas Gedichtband "Variationen über das Thema Erwachen" (FAZ).
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Film

Ziemlich aus der Welt gefallen findet FAZler Helmut Hartung die Forderung deutscher Filmproduzenten nach einer Erhöhung der Rundfunkgebühren, um die wegen teurer Energiepreise steigenden Produktionskosten zu kompensieren. Nun wolle man bei der für solche Fragen zuständigen Kef einen Sonderbericht herbeiführen. "Abgesehen davon, dass die Bundesländer einen solchen Sonderbericht beauftragen müssten und eine 'außerordentliche' Beitragserhöhung nicht in das gesetzliche System der Beitragsfestsetzung durch die Kef passt, ist ein solches Vorhaben mehr als ungewöhnlich. Angesichts einer Inflationsrate von nahezu acht Prozent, die sowohl die Bevölkerung als auch die gesamte Wirtschaft belastet, soll nun durch ein 'Sonderopfer' aller Bürger eine einzelne Branche alimentiert werden." Beim Blick ins Filmangebot der Mediatheken drängen sich uns im übrigen diverse Einsparpotenziale auf.

Außerdem: Fabian Tietke bündelt in der taz die Informationen zur jüngsten Repressionswelle im Iran, wo binnen kürzester Zeit die Filmemacher Mohammad Rasoulof, Mostafa Al-Ahmad und Jafar Panahi festgenommen wurden. Andreas Busche (Tsp), Philipp Bovermann (SZ) und Dietmar Dath (FAZ) gratulieren Harrison Ford zum 80. Geburtstag. Besprochen wird die abschließende Staffel von "Better Call Saul" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Architektur

Es nützt nichts, für ein klimagerechtes Bauen einzelne Aspekte zu optimieren, schreibt der Architekturhistoriker Robert Kaltenbrunner in der FR, auch die beste Klimatechnik hilft wenig, wenn unabhängig von den äußeren Bedingungen gebaut wird: "In der vorindustriellen Zeit war Bauen zwangsläufig klimagerecht, wie die regional unterschiedlichen Bauweisen zeigen. Ein Gebäude in Griechenland war anders strukturiert als eines in Skandinavien. In den Bergen baut man anders als am Meer. Geometrie, Farbgebung, Fensterflächen, Dachformen, aber auch Grundrissgestaltung waren an die herrschenden Klimabedingungen dergestalt angepasst, dass mit möglichst geringem Energieeinsatz ein möglichst hoher Komfort für die Menschen erwuchs, die das Gebäude nutzten."
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Musik

Anderthalb Jahre nach dem Tod seiner künstlerischen und Lebenspartnerin Françoise Cactus hat Brezel Göring sein erstes Debütalbum veröffentlicht - ein Abschied und ein Neuanfang, schreibt Jens Uthoff in der taz. Bei Stereo Total, dem gemeinsamen Projekt mit Cactus, war Görings fürs Gefrickel zuständig, nun überrascht er mit einem neuen Ton: "Es sind ruhige, zum Teil ultramelancholische Songwriter- und Chanson-Tracks, gelegentlich mit Country-/Americana-Einschlag und Sixties-Orgelsound. Die Instrumentierung besteht meist aus Synthies, Gitarren und Drums, die im langsamen Walzer- oder Swingrhythmus anrollen. Dazu singt Brezel Göring mit schüchterner, zurückhaltender, verletzlicher Stimme. ... So singt Göring in 'Sanfter Wahn' mit traurigem, belegtem Timbre: 'Schade, dass du weg bist / Ich hätt dir gerne noch öfter zugehört / Die Straßen sind immer noch dieselben / Aber der Rest ist ziemlich ramponiert.'" Im Stück "Meine Medizin" ist Cactus nochmal zu hören, ansonsten steht die Schauspielerin Lilith Stangenberg ihm auf dem Album als Sängerin zur Seite:



Außerdem: Die FAZ hat Günter Platzdaschs Bericht vom Rudolstadt-Festival online nachgereicht. Georg Rudiger resümiert im Tagesspiegel das Brahms-Festival in Baden-Baden. Für die NMZ war Georg Rudiger vor Ort. In der FAZ gratuliert Axel Weidemann dem Komponisten Per Nørgård zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden neue Jazzklavieralben von Elias Stemeseder und Sebastian Sternal (FR), ein Konzert von Michael Kiwanuka (Presse) und G. Loves neues Album "Philadelphia Mississippi" ("Lebensfreude pur", schwärmt Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik