Efeu - Die Kulturrundschau

Da muss man Druck aufbauen

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12.06.2023. Die NZZ fragt, warum der Kunstunternehmer Walter Smerling schon wieder öffentliche Gelder ohne Ausschreibung erhalten hat, diesmal für ein Kunstprojekt der Bahn. FAZ und Tagesspiegel lassen sich von Giorgio Battistellis Teorema-Oper an Pasolinis bitter-ernsthafte Selbstbefragung erinnern. Im Standard feiert Klaus Maria Brandauer das Theaterleben. ZeitOnline vertieft sich in die neue Väterliteratur, in der sich die Autoren selbst als Opfer männlicher Härte sehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2023 finden Sie hier

Bühne

Giorgio Battistellis "Teorema". Foto: Eike Walkenhorst / Deutsche Oper Berlin

Der italienische Komponist Giorgio Battistelli hat zu Pier Paolo Pasolinis Film "Teorema" eine Oper geschaffen. In der FAZ ist Gerald Felber nicht unbedingt überzeugt von Battistellis routinierter Delikatesse und seinen den Raum "durchschlurfenden Klangbändern". Aber am Ende weiß er die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin als Kontrapunkt zu unserer durchzappelten Welt zu schätzen: "Dass auch bourgeoise Clans so ihre Sorgen und leergelaufene Lebensentwürfe einen gewissen Ewigkeitswert haben - eigentlich geschenkt. Worüber man freilich nachdenken darf: ob sie damals, vor einem halben Jahrhundert, vielleicht doch ein anderes, existenzielleres Gewicht hatten als in unserer verzappelten, alle Tage neue Problemchen oder Sensatiönchen durch die Kanäle treibenden Gegenwart. Die bittere, selbst befragende Ernsthaftigkeit ins ganz Private hinein, wie sie Pasolini demonstrierte und schließlich auch selbst lebte: Sie kommt in dieser Opern-Umformung zwar einigermaßen aufgeweicht, aber immer noch deutlich genug herüber." Im Tagesspiegel schreibt Eleonore Büning.

Weiteres: Im Standard-Interview erzählt ein gut aufgelegter Klaus Maria Brandauer von den herrlichen alten Zeiten und erklärt, warum er nichts von Stundenplänen an Schauspielschulen hält und warum das Theater noch lange nicht am Ende sein wird: "Das Theater braucht nicht viel, ein Raum, ein paar Leute reichen. Wer je eine gelungene Theaterarbeit erlebt hat, vom Ich zum Du, vom Du zum Ich, der wird wieder versuchen, eine solche zu erleben."

in der taz unterhält sich Katrin Bettina Müller mit dem Intendanten des deutschen Theaters, Ulrich Khuon, der das Haus nach vierzehn Jahren verlässt, über seinen Lieblingsort, Diversität und die Notwendigkeit der Frauenquote: "Im Bühnenverein habe ich lange genug gedacht, das kommt so Schritt für Schritt. Am Anfang gab es eine Intendantin in unserer Männerrunde, 20 Jahre später waren 20 Prozent der Intendanten Frauen - aber 80 Prozent sind dann immer noch Männer, das geht zu langsam. Da muss man Druck aufbauen."

Besprochen werden die Diskursrevue "Shanzai Express" des Performancekollektivs andcompany&Co an der Berliner Volksbühne ("Die Kostüme sind der Hammer", versichert Nachtkritikerin Esther Slevogt), Jaz Woodcock-Stewarts "Jason Medea Medley" am Staatsschauspiel Dresden (Nachtkritik), Richard Strauss' "Salome" am Staatstheater Mainz (FR), Joël Pommerats Stück "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" vom Schauspiel Leipzig im Zoo der Stadt (FAZ) und Yael Ronens Weltuntergangskomödie "Planet B" am Berliner Gorki-Theater (SZ).
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Literatur

Simon Sahner bescheinigt auf ZeitOnline der "Väterliteratur eine neue Konjunktur". Junge "Schriftsteller wollen sich jetzt im Zeichen feministischer Diskurse auch mit den eigenen männlichen Untiefen auseinandersetzen" - gemeint sind Paul Brodowsky ("Väter"), Christian Dittloff ("Prägung") und Frédéric Schwilden ("Toxic Man"). "Sie sprechen nicht nur als Mächtige, sondern ebenso als Unterdrückte eines Systems, als Opfer einer Männlichkeit, die ihnen Gewalt angetan hat. ... Insbesondere Brodowsky und Schwilden zeigen von faschistoider Härte geprägte Väter, die die leistungs- und ordnungsorientierte emotionale Kälte ihrer Erziehung an die Söhne weitergegeben haben. Auch Dittloff erkennt eine Linie faschistischer Prägungen, die sogar die 68er überlebt hat: 'Ich wurde geprägt von Menschen, die selbst durch die Naziideologie geprägt wurden.' Im Hintergrund dieser Romane steht die offene Frage, was die Erziehung und die Ideologie des Nationalsozialismus mit den Vätern und dem eigenen Vatersein der Autoren gemacht haben."

Tobias Rüther wirft für die FAS einen Blick auf die elektrisierte Verlagsbranche, die sich nach dem unerwarteten Erfolg von Amal El-Mohtars und Max Gladstones "Verlorene der Zeiten" - die eigentlich schon 2019 veröffentliche Science-Fiction-Geschichte ist durch einen enthusiastischen Tweet nochmal zum Bestseller geworden - weitere Viral-Trends erhofft: Doch "so beispielhaft diese Dynamik [...] ist, so wenig ist sie beliebig wiederholbar. Die Magie eines Hypes liegt in der Unmittelbarkeit, in der Wahrhaftigkeit, im Augenblick."

Weitere Artikel: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Arno Widmann liest für die FR erneut Christa Wolfs vor 40 Jahren erschienene Erzählung "Kassandra". Georg Stefan Troller erinnert sich in der Welt an seine Begegnung mit Muhammad Ali. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ der Jugendbuchautorin Iva Procházková zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Erich Mühsams "Notizbücher 1926-1933" (taz), der abschließende Band von Jacques Tardis Comic-Saga "Adèle Blanc-Sec" (Tsp), Helena Baumeisters Comic "Oh Cupid" (Tsp), T. C. Boyles "Blue Skies" (Standard), Ned Beaumans "Der Gemeine Lumpfisch" (FR), Thomas Sautners "Nur zwei alte Männer" (Standard), Jürgen Kaiziks "Die gerühmte Frau" (Freitag) sowie Jugendbücher, die sich mit Künstlicher Intelligenz befassen (Standard).
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Kunst

Bettina Pousttchi: Vertical Highways, Haputbahnhof Berlin. Foto: Daniel Biskup.

Auf einmal steht vor dem Berliner Hauptbahnhof eine riesige leuchtend rote Skulptur. NZZ-Kritikerin Laura Helena Wurth würde sich dieses Werk, die "Vertikal Highways" der deutsch-iranischen Künstlerin Bettina Pousttchi, gefallen lassen, ist ja Kunst im öffentlichen Raum. Aber warum bitte, fragt Wurth, bekommt ausgerechnet der in Berlin längst in Ungnade gefallene Kunstunternehmer Walter Smerling für sein Projekt "Station to Station" von Bahn und Verkehrsministerium 7,5 Millionen Euro ohne Ausschreibung? "Das Grundproblem ist, dass man Gelder dieser Art, die den öffentlichen Raum betreffen, nicht einfach in die Hände einer Person legen darf, um langwierige und komplizierte Ausschreibungs- und Vergabeverfahren zu umgehen. Bei öffentlichem Geld muss auch eine öffentliche Entscheidungsfindung stattfinden... Der Kunstgeschmack von Walter Smerling steht jetzt für alle gut sichtbar mitten in der Stadt und verkündet allen, dass es sich dabei um wirklich wichtige Kunst handelt. Dabei ist sie lediglich durch Smerlings Privatgeschmack legitimiert. Das schwächt das Kunstwerk und kann nicht im Sinne der Künstlerin sein."

Besprochen werden die Ausstellung "Suddenly Wonderful" in der Berlinischen Galerie über die Westberliner Großbauten der siebziger Jahre (die SZ-Kritiker Peter Richter zeigt, dass die Technikmoderne in der "depressionsverliebten" Stadt immer erst dann geliebt wird, wenn sie abgerissen werden soll) und die Anti-Picasso-Ausstellung der queeren Komikerin Hanna Gadsby im Brooklyn Museum (die taz-Autorin Verena Harzer gegen die vehemente Kritik tapfer zu verteidigen versucht) und eine Ausstellung der unerschrockenen Kriegsreporterin Lee Miller im Hamburger Bucerius Kunst Forum (Tsp).
Archiv: Kunst

Film

Auf Distanz zu all dem Trubel in der Welt: Verena Altenberger im "Polizeiruf 110" (ARD)

Die österreichische Schauspielerin Verena Altenberger (35) gibt ihre Rolle als Ermittlerin Eyckhoff im bayerischen "Polizeiruf 110" auf: Nach ihrem sechsten Fall ("Paranoia", hier in der Mediathek - erneut "herrlich sonderbar", findet Sylvia Staude in der FR) tritt sie ab. Es waren "sechs Filme, die einzigartig sind: eigenwillig, mäandernd, mit assoziativer Logik erzählt", schreibt Heike Hupertz in der FAZ. Ihre Ermittlerinnenfigur "bleibt ungelöst, unvollendet", seufzt Elmar Krekeler in der Welt. Dieser Krimi-Zyklus" war geprägt durch eine verführerische Distanz zur Welt", schreibt Matthias Dell auf ZeitOnline: "Dass da inmitten des Trubels um die Figur herum auf deren Gesicht immer das Warten, Beobachten, Abwägen ablesbar war, wie sich zum Trubel verhalten werden soll. ... 'Ära' ist für sechs Filme in vier Jahren vielleicht ein großes Wort, aber bei allen Eckigkeiten und Unvollkommenheiten dieses Polizeiruf-Kapitels genau das richtige."

Weitere Artikel: Im Filmdienst verneigt sich Patrick Holzapfel vor dem Schauspieler Michael Cera, der in den Nuller- und Zehnerjahren eine "Ikone der Jugendlichkeit" war und aktuell in Dustin Guy Defas "The Adults" (besprochen in der Jungle World) zu sehen ist. Pascal Blum ist im Tages-Anzeiger skeptisch, was die HiTech-Brille Vision Pro betrifft, mit der Apple den stagnierenden Virtual-Reality-Markt aufmischen will. In der Welt deutet Slavoj Zizek das Ende der HBO-Serie "Succession".

 Besprochen werden Mario Martones "Nostalgia" (Tsp, Standard), Steve McQueens essayistischer Dokumentarfilm "Grenfell Tower" (Standard) und die Serie "The Crowded Room" (Zeit).
Archiv: Film

Musik

Während im Bereich visueller Ästhetik und Sprache die Künstliche Intelligenz atemberaubende Fortschritte macht, "stolpern in der Musik die Algorithmen noch hinterher", muss Egbert Tholl in der SZ feststellen - und bezieht sich hier vor allem auf die Klassik und seine Begegnung mit Ali Nikrang, der zu Musik und KI forscht. Das Klassik-Dossier, mit dem KI gefüttert wird, bietet dieser "einen imaginären Raum, in dem alles, was sie gelernt hat, gleichzeitig vorhanden ist. Einen Weg durch diesen Raum zu finden, ist leichter, wenn es sich um Sprache handelt. Was die KI an Musik interessant findet und was nicht, weiß niemand. Das wäre der kreative Aspekt. Gleichzeitig soll sie Werkzeug sein, soll also gelenkt werden. Für Mahlers Zehnte spuckte sie regelmäßig fünf Vorschläge aus, einer wurde ausgewählt, das Programm machte weiter und so fort. In der Aufführung des Ergebnisses - viel Original, ein paar Minuten KI-Musik dazu - konnten die Zuhörer nicht unterscheiden, was von Mahler und was von der Maschine ist. Für Nikrang war das 2019 noch ausreichend. Erstaunlich war, dass KI-Musik gewisse Emotionen vermitteln kann. Oder besser gesagt: Dass die KI etwas ausspuckt, womit die Interpreten etwas emotional Wirksames erschaffen konnten."

In Wien haben Teodor Currentzis und sein international rekrutiertes Utopia-Orchester ihr vorerst letztes Konzert im Wiener Konzerthaus gegeben - wie einige andere Häuser geht auch diese Spielstätte allmählich auf Distanz zu dem Dirigenten, der sich zum Russland-Ukraine-Konflikt nicht äußern will und dessen Orchester musicAeterna von einer russischen Bank finanziert wird. "Statt in Wien wird Utopia im Herbst 2023 (mit Tschaikowskys Fünfter) in Brescia und Antwerpen gastieren - nicht unbedingt zentrale Metropolen der Klassikwelt", schreibt Stefan Ender im Standard. Ulrich Amling besucht für den Tagesspiegel derweil die Proben von Utopia in Berlin, wo das Orchester in den kommenden Tagen zweimal auftreten wird.

Karl Fluch hält im Standard-Kommentar nichts von den zuletzt laut gewordenen Forderungen, Rammstein-Konzerte abzusagen: Das brächte nur die Veranstalter "in existenzielle Nöte". Auch Jean-Martin Büttner vom Tages-Anzeiger hält nichts von solchen Forderungen: "Als Konsument will ich selber entscheiden, wo ich hingehen will" und "denkt man diese Forderung konsequent zu Ende, müssten da nicht auch alle Picasso-Bilder von den Museen abgehängt werden?" Harry Nutt fragt sich im Kommentar für die Berliner Zeitung, "ob Duldsamkeit und Reife auch im Rammstein-Universum gelten".

Außerdem: Jonathan Fischer durchstreift für die NZZ die Musikszene auf Kapverden. Dass in Britannien nun auch die Labourpartei gegen Roger Waters Stellung bezieht, hält Marion Löhndorf von der NZZ vor allem für ein taktisches Manöver: Die Partei wolle wohl von ihrem eigenen Antisemitismusproblem ablenken. Ilko-Sascha Kowalczuk erinnert sich in der Berliner Zeitung daran, wie es war, in der DDR ein Fan von Udo Lindenberg zu sein.

Besprochen werden Janelle Monáes Album "The Age of Pleasure" (FAS), der Auftritt von SZA in Berlin (Tsp) und Giuseppe Taccognas Aufnahme von Gabriel Duponts Klavierzyklus "Les heures dolentes" (FAZ-Kritiker Jan Brachmann hört "Musik voller Empfänglichkeit für die Schönheiten des Lebens").

Archiv: Musik