Efeu - Die Kulturrundschau

Kultivieren Sie die Mysterien!

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15.06.2023. Das Nationale Museum für Altertümer im niederländischen Leiden hat sich mit einer Ausstellung über den Einfluss ägyptischer Kultur auf afroamerikanische Künstler den Zorn ägyptischer Behörden zugezogen, die ihm kulturelle Aneignung vorwerfen. In der FR erzählt Judith Schalansky, wie sie beim Flirt mit der Nachwelt in eine mittlere Schreibkrise geriet. Die FAZ bestaunt die transzendenzoffene Philologie der Frankfurter Poetikvorlesung von Clemens J. Setz. Die NZZ begeistert sich für die betörende Tonmalerei von Giorgio Batistellis Adaption des Pasolini-Films "Teorema" an der Deutschen Oper Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.06.2023 finden Sie hier

Literatur

Judith Schalansky, Foto von Amrei-Marie unter CC-Lizenz
In der FR spricht die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky von einer unerwarteten "mittleren Krise", in die sie das Verfassen ihres nunmehr eingereichten Beitrags für die Osloer "Future Library" gestürzt hat. Das Projekt sieht bekanntlich vor, dass der Text bis zum Jahr 2114 - mit Ausnahme eines "Proof Readers" - ungelesen verschlossen bleibt und auch privat keine Archiv- und Arbeitskopie hinterlegt sein darf. Woher die Krise? "Bei der Arbeit ist der Begriff der Angemessenheit sehr wichtig für mich. Und das lässt sich nicht klären, wenn die potenzielle Leserschaft noch nicht geboren ist. Das ist eine Art Flirten mit der Nachwelt, das man vielleicht aus der Jugend kennt, wenn man noch nichts veröffentlicht hat. Jetzt aber wurde mir klar, wie sehr ich schreibe, um in Kontakt zu treten. In dieser Vehemenz war mir das nicht bewusst. ... Wie alle Erkenntnisse über sich selbst hat das etwas Ernüchterndes. Aber auch etwas Tröstliches, weil es zeigt, dass das Schreiben eben auch eine Kommunikationsform ist, eine Kommunikation über Bande." Anlass des Gesprächs war eigentlich Schalanskys Auszeichnung mit dem Wortmeldungen-Preis. Ihren dafür eingereichten Essay kann man hier lesen.

Clemens J. Setz hat in Frankfurt seine Poetikvorlesung abgeschlossen. Darin erarbeitete der Büchnerpreisträger eine "feinporige, transzendenzoffene Philologie", hält Thomas Thiel in der FAZ fest: "Was muss zuvor geschehen sein, damit eine Halbsatz wie 'das eiskalte Regenwasser der vergangenen Nacht aus dem Schloss der Fahrradkette schütten' eine Aura entfaltet? Warum hat sie der Passus 'um einen nackten Mensch, in der Arktis ausgesetzt, bildet sich eine Nebelwolke, dem Mondhof gleich' (Christoph Ransmayr) ganz von selbst? ... Suchen Sie erst das Detail, dann die Geschichte, empfiehlt Setz den literarisch Ambitionierten im Publikum. Es ist eine schöne und oft enttäuschte Vorstellung, dass sich aus einem Wort eine Liebesbeziehung und später fast wie von selbst ein ganzes Buch entwickelt. Wahr ist zumindest, dass eine Geschichte nur dann erblüht, wenn sie ihre Wörter nicht als Funktionsträger betrachtet. 'Kultivieren Sie die Mysterien!', ruft Setz zum Abschied." In der FR resümiert Judith von Sternburg den Abend.

Weitere Artikel: Lothar Müller liest für die SZ das von Alain Claude Sulzer beim Basler Literaturausschuss eingereichte Romanfragment, das aufgrund der Verwendung des Wortes "Zigeuner" zu Nachfragen führte (hier und dort unser Resümee), und kommt zu dem Schluss: "Hier wird ein Stereotyp eher transparent gemacht als reproduziert." Harry Nutt gratuliert in der Berliner Zeitung dem Schriftsteller Lutz Seiler zur Auszeichnung mit dem Berliner Literaturpreis. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Literaturwissenschaftler Helmut Koopmann zum 90. Geburtstag. Lars von Törne schreibt im Tagesspiegel zum Tod des "Spider-Man"-Zeichners John Romita Sr. Weitere Nachrufe auf Cormac McCarthy schreiben Dirk Knipphals (taz), Gerrit Bartels (Tsp), Alex Rühle (SZ), Claus-Jürgen Göpfert (FR) und Jan Wiele (FAZ) - hier unser Resümee der ersten Nachrufe von gestern.

Besprochen werden unter anderem Mark Aldanows "Der Anfang vom Ende" (Zeit) und Zülfü Livanelis "Der Fischer und der Sohn" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Erykah Badu bei den Soul Train Music Awards in Las Vegas, 2016 (Photo: Alamy) | Bronzestatue der Göttin Isis (collection: RMO)

Das Nationale Museum für Altertümer (RMO) in Leiden zeigt gerade eine Ausstellung, die den Einfluss ägyptischer Kultur auf afroamerikanische Künstler thematisiert: "Kemet, Egypt in Hip-Hop, Jazz, Soul and Funk". Die ägyptischen Behörden sind nicht amüsiert, haben die Ausstellung als "afrozentrisch" kritisiert und dem Museum alle archäologischen Genehmigungen entzogen, berichtet Rea Nyyar in Hyperallergic: "In einer E-Mail beschuldigte der Leiter der Auslandsvertretung der ägyptischen Altertümer das Museum der 'Geschichtsfälschung', indem es die Aneignung der altägyptischen Kultur und Ästhetik in seiner Ausstellung fördere, und hob die Ausgrabungsgenehmigung für die Ruinen von Saqqara auf. ... Obwohl dieser Widerruf ein schwerer Schlag für das RMO ist, da es seit 1975 gemeinsam mit anderen Forschungspartnern Ausgrabungsprojekte in der Nekropole von Saqqara durchführt, erklärte Museumsdirektor Wim Weijland gegenüber der niederländischen Tageszeitung NRC, dass 'wir [das Museum] uns nicht entschuldigen und die Ausstellung nicht anpassen werden'."
 
Lee Miller, Floating Head, Mary Taylor. Foto: Lee Miller Archives.

Welt-Kritiker Boris Pofalla taucht in der Ausstellung "Lee Miller. Fotografin zwischen Krieg und Glamour" im Hamburger Bucerius Kunstforum in das bewegte Leben und Werk der Künstlerin und Kriegsberichterstatterin ein. So "radikal und furchtlos" wie ihre Werke war Miller selbst, erkennt Pofalla und ist wie hypnotisiert von ihrer surrealistischen Sicht auf die Dinge: "Das Abjekte und das Attraktive fallen zusammen, es ist eine Dokumentation und zugleich eine surreale Verfremdung. Ein Ausschnitt des Realen wird im übertragenen Sinn mehrfach belichtet. Lee Miller ist eine Meisterin solcher die Wirklichkeit übersteigernder Effekte, ihr Blick isoliert, spießt auf, verfremdet."

Weitere Artikel: Phillip Meier teilt in der NZZ seine Eindrücke von der Art Basel. Für den Tagesspiegel hat Minh An Szabó de Bucs die Art Biesenthal besucht, die dieses Jahr in größerem Rahmen stattfindet. Kunstschaffende leiden unter den hohen Mieten in Berlin, berichtet Birgit Rieger ebenfalls dort: in einer Studie zur "aktuellen Atelier- und sozio-ökonomischen Situation von bildenden Künstler*innen" gaben über sechzig Prozent der Befragten an, sich kein Atelier mehr leisten zu können. Ebenfall im Tagesspiegel schreibt Lars von Törne zum Tod des Comiczeichners John Romita Sr.

Besprochen werden die Ausstellung "Zur Nachahmung empfohlen" in den Uferhallen Berlin (tsp), die Ausstellung "Matter of Flux" im Art Laboratory Berlin (tsp), die Ausstellung "Who by fire. On Israel" im Haus am Lützowplatz Berlin (BlZ), die Ausstellung "Keine Illusionen-Malerei im Raum" in der Kunsthalle Hamburg (taz), die Ausstellung "Lee Miller. Fotografin zwischen Krieg und Glamour" im Hamburger Bucerius Kunstforum (Welt).
Archiv: Kunst

Film

Ein Batman aus früheren Zeiten, zurück dank Multiversum. "The Flash" 

Das "Multiversum" ist der letzte Schrei im auch schon in die Jahre gekommen Superheldenkino, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher zum Kinostart von Andy Muschiettis "The Flash": Das Blockbusterkino greift (in Anlehnung auf eine in den Comics bereits in den Achtzigern erprobte Erzählstrategie) auf aufgesprengte, sich überlappende Dimensionen zurück und inkorporiert dabei seine losen Erzählfäden und früheren Franchises. So tauchen mitunter drei Batmänner aus unterschiedlichen Franchise-Generationen wieder auf. "Bislang ist nicht abzusehen, ob es sich bei der aktuell tatsächlich ... grassierenden Multiversumswelle um eine neue Eskalationsstufe der nach wie vor kaum zu stoppenden Superheldisierung des Gegenwartskinos handelt, oder womöglich doch um den von nicht wenigen herbeigesehnten Anfang seines Endes. Es hat sich in den letzten Jahren jedenfalls selten gelohnt, gegen das Superheldenkino zu wetten. In Bezug auf 'The Flash' lässt sich dennoch feststellen: Je tiefer der Film in das Multiversum vordringt, desto öder wird es." Ähnlich sieht es Andreas Busche im Tagesspiegel: Anders als im aktuellen, sehr beeindruckenden "Spider-Man"-Animationsfilm schlägt dieser Film keine Funken aus der Multiverse-Idee, "diese 144 Minuten fühlen sich quälend lang an".

Außerdem: Chris Schinke spricht für die taz mit dem Filmemacher Marcel Mettelsiefen über dessen (in der FR besprochenen) Dokumentarfilm "Tanja - Tagebuch einer Guerillera" über die Holländerin Tanja Nijmeijer, die sich als junge Frau der kolumbianischen Guerilla Farc angeschlossen hatte. Für die Zeit wirft Christina Pausackl einen Blick darauf, wie die österreichische Filmbranche ihr Missbrauchs- und Übergriffsproblem in den Griff zu kriegen versucht. Im ZeitMagazin berichtet Khuê Phạm von ihren Begegnungen und Gesprächen mit Kevin Spacey.

Besprochen werden Wes Andersons "Asteroid City" (FR, taz, mehr dazu bereits hier, dort und da), die neue Netflix-Animationsserie des linken italienischen Zeichners Zerocalcare (tazler Ambros Waibel beobachtet "altlinke Romantik" und "wunderschöne Abschweifungen"), Masahiro Shinodas japanischer Fantasyfilm "Demon Pond" aus dem Jahr 1979 (SZ), Lori Evans Taylors Schwangeren-Horrorfilm "Bed Rest" (SZ), die DVD-Ausgabe von Tereza Nvotovás Horrorfilm "Nightsiren" (tazler Ekkehard Knörer bezeugt einen "nur zu wirklichen inneren und äußeren Schrecken") und die Westernserie "1923" mit Helen Mirren und Harrison Ford (TA). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche wirklich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Musik

Vollkommen richtig findet es Dennis Sand im Welt-Kommentar, dass die Till Lindemann angelasteten Vorwürfe auch zu einer Diskussion über das Verhältnis der Gesellschaft zu Frauen geführt hat. Falsch hingegen findet er, dass mit einem Mal alle auch über das lyrische Ich diskutieren: "So wird früh darauf verwiesen, dass sich misogyne Gewaltfantasien ja auch schon in der Lyrik Lindemanns widerspiegeln, nicht nur in der martialischen Rammstein-Musik, sondern auch in den von ihm veröffentlichten Gedichten. Es geht von diesem Moment an nicht mehr um die mutmaßlichen Verfehlungen eines Menschen, nein, man stellt hier die Kunst an sich an den Pranger." Weitergedacht hieße dies ja, "dass man in seiner Kunst nur noch sein eigentliches Ich verhandeln dürfte" und alles jenseits von Autobiografischem unter Verdacht stünde. "Deutsche Kultur, welcome to Nordkorea!" Ronen Steinke zeigt sich im Tages-Anzeiger derweil skeptisch, dass das nun gegen Till Lindemann eingeleitete Verfahren Erfolg haben wird.

Außerdem: Im Geschichtsteil der Zeit blickt Jens Balzer auf 75 Jahre Vinyl-Schallplatten zurück. Besprochen werden Arlo Parks' "My Soft Machine" (Standard), ein Auftritt von Bruce Springsteen in Zürich (NZZ)  und ein Konzert von Peter Gabriel in Frankfurt (FR).
Archiv: Musik

Bühne

"Il teorema di Pasolini", Foto: Eike Walkenhorst.

NZZ
-Kritikerin Eleonore Büning hat sich die Giorgio Batistellis Opern-Adaption von Pier Paolo Pasolinis Film "Teorema" an der Deutschen Oper Berlin angesehen und ist begeistert. Fasziniert verfolgt sie, wie in "Il teorema die Paolini" die "Bilder laufen lernen" und ist vor allem beeindruckt von der musikalischen Gestaltung durch Daniel Cohen: "Sie beginnt mit einem krimireifen, zauberisch ins Glissando absinkenden Pistolenknall und entwickelt alsbald einen eigentümlichen Sog. Melodien sind rar. Doch betörend tonmalerische Orchesterzwischenspiele gliedern das Geschehen, auch der Warnschuss vom Anfang kehrt, wie ein Ausrufezeichen, von Zeit zu Zeit wieder. Effektvoll oszillieren die Sängerpartien, sie bewegen sich textnah, zwischen Sprechen, Sprechgesang und Rezitativischem, mit markanten Espressivo-Ausbrüchen."

Weitere Artikel: Antonia Munding besucht für das Van Magazin einen "Hidden Champion", nämlich das beherzte Theater Bielefeld. In der Zeit hat Peter Kümmel seine Freude daran, eine ganz spezielle Kulturtechnik genauer zu betrachten: den "Theaterhusten". Den gibt es nämlich in ganz verschiedenen Variationen, lesen wir. Die Palette reicht vom "feuchten Vorwurfs-" über den "Vertuschungshusten" (mit dem sich etwa Verpackungs-Knistern überdecken lässt), zum Echo-Husten (das dem Erst-Huster die Peinlichkeit ersparen soll). Im Tagesspiegel schreibt Peter von Becker einen Nachruf auf den Theaterproduzenten Jochen Hahn.

Besprochen werden Olivier Messiaens Oper "Saint François d'Assise" in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler an der Stuttgarter Staatsoper (Zeit, tsp), Julien Gosslins Inszenierung von "Extinction" bei den Wiener Festwochen, für die er Texte von Arthur Schnitzler und Thomas Bernhard fusioniert hat (SZ, Standard), die Theater-Installation "Felix' Room" von Adam Ganz am Berliner Ensemble (BlZ), Christine Wipplingers Inszenierung von Heinrich von Kleists Lustspiel "Der zerbrochn'e Krug" am Theater Meggenhofen (Standard) und Doris Harders Inszenierung von Shakespears "Ein Sommernachtstraum" im Globe Berlin (taz).
Archiv: Bühne