Efeu - Die Kulturrundschau

Der Autor trug Dunkelbrille

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2023. Die taz rekonstruiert mit dem Center for Spatial Technologies das Theater von Mariupol, das ein Ort der Solidarität und Kreativiät war, bevor es zu einer Chiffre des Kriegsverbrechens wurde.  Die FAZ ist überwältigt von der Berliner Fassadensinfonie, die der Hamburger Bahnhof in seiner neuen Dauerausstellung zeigt. Die SZ erlebt mit Pavel Girouds Dokumentarfilm "The Padilla Affair" beim Filmfest München, wie die kubanische Revolution einen vorlauten Schriftsteller kujonierte. Im Standard denkt Elias Hirschl über Nestbeschmutzung und Literatur nach.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.06.2023 finden Sie hier

Kunst

Holly Zausner: Still aus ihrem Film Second Breath. Bild: Hamburger Bahnhof

Der Hamburger Bahnhof präsentiert seine neue Dauerausstellung mit Kunst der Gegenwart aus und über Berlin. Schlüssig und wertvoll findet FAZ-Kritiker Andreas Kilb dieses Geschichtspanorama, das mit Werken von Sigmar Polke, Katharina Sieverding, Anselm Kiefer, Jannis Kounellis, Rebecca Horn, Barbara Klemm und Sibylle Bergemann aufgespannt wird. Aber dass er dann auch noch im internationalen Part zwischen Mona Hatoum, Sophie Calle und Kader Attia echte Entdeckungen machen kann, haut ihn um: "Die in Addis Abeba geborene Julie Mehretu hat Hunderte Zeichnungen von existierenden und verlorenen Berliner Gebäuden zu einer überwältigenden Fassadensymphonie überblendet. Ihr Bild 'Berliner Plätze' von 2009 ist wie ein grauweißes Memento mori für eine Stadt, die in den letzten hundert Jahren mehr Zerstörung und Neubau erlebt hat als in tausend Jahren zuvor."

Tuli Mekondjo: Ovadali vounona (Birthers of children), 2023. Foto: Laura Fiorio/HKW

Die Kunst, die das Haus der Kulturen der Welt zur seiner Eröffnungsausstellung "O Quilombismo" zeigt, findet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel wirklich großartig, kraftvoll und absolut sehenswert. Nur ihre Präsentation weckt bei ihm Beißreflexe: "Da werden irgendwie auch schon wieder Zäune gebaut. In den Ausstellungsräumen wird auf Beschriftung verzichtet. Die Arbeiten hängen ohne Namen. Die Informationen können über einen QR-Code bezogen werden. Oder man hat ein Begleitbuch. Dort ist zu lesen, worum es geht: um eine Bühne, 'die die Faktoren race, Wirtschaft, Geschlecht, Gender, Gesellschaft, Religion, Politik, Justiz, Bildung und Kultur berücksichtigt' und, so schließt Bonaventures Einführung, 'alle Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Lebens sowie alle Ebenen der Macht in öffentlichen und privaten Institutionen einbezieht'. Das sind umfassende, wenn nicht totalitäre Ansprüche, die jedes Kunstwerk erdrücken und fast schon ein wenig inquisitorisch befragen. Es sind gleichzeitig deutliche Signale, die hier ausgesendet werden. Das HKW sieht sich auf der Seite der Guten."

Weiteres: In der FAZ begrüßt Gina Thomas zudem die gründliche Renovierung der Londoner National Portrait Gallery, die sich endlich zur Stadt hin öffne: "Früher war es beim Betreten der National Portrait Gallery, als sei man von der benachbarten National Gallery zum Lieferanteneingang geschickt worden."
Archiv: Kunst

Bühne

Das Theater von Mariupol in der Rekonstruktion des Center for Spatial Technologies. Bild: Berliner Festspiele

Das ukrainische Center for Spatial Technologies (CST) hat sich in Berlin als Ableger der Londoner Gruppe Forensic Architecture gegründet, einer Mischung aus Rechercheagentur und künstlerischer Intervention. Jetzt hat das CST die Geschichte des Theaters in Mariupol rekonstruiert, das durch einen russischen Bombenangriff zerstört wurde. Bis zu sechshundert Menschen wurde dabei getötet, wie Amelie Sittenauer in der taz in Erinnerung ruft: "Doch war der Ort, wie sich herausstellte, viel mehr als der Schauplatz eines Kriegsverbrechens. In den Wochen zuvor hatte sich das Gebäude in einen Mikrokosmos zivilen Widerstands verwandelt - 'in eine Stadt in einem Gebäude'. Wie aus den Zeugenaussagen und Rekonstruktionen hervorgeht, wurde das Theater in kurzer Zeit zu einem Raum der Solidarität, der Kreativität und gemeinsamen Verantwortung. Menschen versammelten sich um die Feldküche und ums Klavier, Kinder spielten dort. Die Rekonstruktion bedeutete für die Überlebenden auch ein Stück Erinnerung zurückzubekommen, während sie die Beweise dafür unter der russischen Besatzung von ihren Handys löschen mussten."

Die Krise der Demokratie in Frankreich und die ideologische Kulturpolitik der extremen Rechten erfassen auch die Theater, wie im Interview mit Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst Joris Mathieu berichtet, der Intendant des Théâtre Nouvelle Génération in Lyon: "Wir leben in einem Land, in dem die extreme Rechte zwar nicht die Wahlen gewonnen hat, ihre Ideen aber bereits einen enormen Einfluss ausüben. Das politische Gravitationszentrum verschiebt sich leider in diese Richtung. Gleichzeitig müssen wir im Dialog bleiben - auch mit denjenigen, die für diese Parteien gestimmt haben. Als Institutionen müssen wir offen sein und bleiben. Künstler:innen müssen deutliche Worte finden, aber auch weiterhin unsere Wahrnehmung für das Imaginäre öffnen. Es ist eine ständige Spannung zwischen dem Sprechen über die Realität und dem Entwickeln von Fiktionen."

Besprochen werden Elisabeth Papes Stück "Extra Zero" über Essstörungen am Staatstheater Augsburg (das Nachtkritiker Christian Muggenthaler als ein "Epos voll gut durchkomponierter Information" lobt, in der SZ nennt es Egbert Tholl "notwendig"), Christian Weises Musical zu Schillers "Wilhelm Tell" in Mannheim (SZ) und der von Marco Goecke kuratierte Tanzabend "Sphären"am Bayerischen Staatsballett (der SZ-Kritikerin Dorion Weickmann zeigt, dass die Tanzwelt auf Goeckes "künstlerisches Genie" auch nach der Hundekot-Attacke auf eine Kritikerin nicht wird verzichten können).
Archiv: Bühne

Literatur

"Die künstlerischen Nestbeschmutzer sind diejenigen, die Österreich in Ordnung halten", schreibt der Wiener Schriftsteller Elias Hirschl in einem Standard-Essay zum Bachmann-Lesen in Klagenfurt auch in Richtung des Klagenfurter Bürgermeisters Christian Scheider: "Das geradezu Magische ist eben: Egal wie sehr die Rechten gegen die Literatur poltern, ... auf lange Sicht setzt sich die Literatur immer durch. Und die darin geäußerte Kritik hält sich so hartnäckig im Zeitgeist, dass sogar ein Christian Scheider (ehemalig FPÖ, BZÖ, FPK, jetzt Team Kärnten) dazu gezwungen ist, öffentlich zu sagen, dass er stolz ist auf diese Kritik, auf diese Kunst. Er muss sagen, dass er stolz ist auf eine Veranstaltung, in der Anna Baar in ihrer Rede zur Literatur sagt: 'Erinnern Sie sich noch, wie sich Jörg Haider selig bei Waffen-SS-Veteranen für ihren Anstand bedankte?' Das muss sich der Mann anhören, von dem Jörg Haider das Tennisspielen gelernt hat. Ist das nicht schön?"

Prosanova ist das Festival in Hildesheim, bei dem ganz grundsätzlich stets alles anders bleibt: Alle drei Jahre ausgerichtet, mit stets neuem Team und Konzept, schwärmt Ekkehard Knörer in der taz. Die Lesungen sind zuweilen experimentell, nicht selten Performances: "Am radikalsten im Fall des Künstlers, Musikers, Performers und Autors Damon Taleghani, der aus einem entstehenden Roman namens 'Macetti' vortrug, in dem es um eine leninistische Partei des Irans im DDR-Exil geht. Soweit man das verstehen konnte, denn das Ganze war eine Zer-Lesung sondergleichen. Der Autor trug Dunkelbrille, recht insektoid, hatte Mühe, irgendwas zu entziffern, bat das Publikum um Armbanduhren, nicht ganz klar, warum, schickte Sätze als stille Post durch die Reihen, entlockte einem E-Harmonium recht wehe Töne, las scheinbar wahllos aus dem Kommunistischen Manifest und dem eigenen Text, wirkte insgesamt extrem unterspannt und hörte irgendwann einfach auf. Erstaunlicherweise war das sehr toll."

Außerdem: Der Schriftsteller Norbert Hummelt erzählt in der NZZ von seinen Fremdheitserfahrungen in Südkorea. In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Richard Kämmerlings von der Welt stößt in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman "Der Leopoard" auf die "Weltformel des Konservatismus". Anja Reich rollt in der Berliner Zeitung mit den Augen, dass die in Bielefeld geborene Hera Lind jetzt auch "DDR-Tatsachenromane" schreibt. Tilman Spreckelsen gratuliert in der FAZ dem Schriftsteller Patrick Roth zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Wilhelm Genazinos "Der Traum des Beobachters" mit Aufzeichnungen von 1972 bis 2018 (online nachgereicht von der FAZ), Arnold Stadlers "Irgendwo. Aber am Meer" (taz), Joy Williams' "Stories" (TA), eine Ausstellung über Ottilie von Goethe im Romantik-Museum in Frankfurt (FR) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Mac Barnetts und Jon Klassens "Drei Ziegenböcke namens Zack" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Goethes Gedicht "Ohne Titel":

"Laß mich hören, laß mich fühlen,
Was der Klang zum Herzen spricht;
In des Lebens nun so kühlen
Tagen spende Wärme, Licht ..."
Archiv: Literatur

Film

"The Padilla Affair" läuft beim Filmfest München

Pavel Girouds beim Filmfest München gezeigter Dokumentarfilm "The Padilla Affair" zeigt das fünfzig Jahre unter Verschluss gehaltene und wohl auf klandestinem Wege außer Landes geschaffte Filmmaterial, das während der Haft und Vernehmung Heberto Padillas in Kuba 1971 entstanden ist, welche schließlich in eine öffentliche "Selbstkritik" des Schriftstellers mündete. Wahrscheinlich ist das brisante Material für Fidel Castro entstanden, schreibt Marie Pohl in der SZ. "Der Abend soll zeigen, wie die kubanische Revolution einen vorlauten Schriftsteller bekehrt, einen gefährlichen Wilden zähmt, einen Verlorenen zur Besinnung bringt, einen Verblendeten durch sorgsame Einzelgespräche in Einzelhaft zur Erleuchtung führt. 'Als Castro das Filmmaterial sah, dachte er sich wahrscheinlich, das schadet mir mehr, als dass es mir nützt,' sagt Pavel Giroud am Telefon. ... So kann man nun mitansehen, wie Padilla beim Sprechen immer mehr ins Schwitzen gerät, wie er sich biegt, windet, krümmt wie ein geschundenes Tier, und krampfhaft die Revolution verteidigt in einer Art Performance, die darauf ausgerichtet ist, dass man seine Übertreibungen als eine Art Code versteht, eine Geheimsprache, mit der er eigentlich um Hilfe fleht."

Außerdem: Cosima Lutz denkt in einem Filmdienst-Essay über Filme über Trans-Menschen nach. Marius Nobach freut sich im Filmdienst auf die Stummfilmtage Bonn im August. Andreas Scheiner erinnert in der NZZ an Timothy Wiseaus vor 20 Jahren veröffentlichtes Drama "The Room", das mit seinen unfreiwillig skurrilen Eigenheiten und grenzenlos ins Kraut geschossenen Ambitionen zum Kultfilm der "so bad it's good"-Meute avanciert ist.

Besprochen werden die ZDF-Serie "Der Schatten" (FAZ), die auf Disney+ gezeigte Serie "Marie Antoinette" (taz), die Marvel-Serie "Secret Invasion" mit Samuel L. Jackson (Zeit) und Stephen Frears' beim Filmfest München gezeigtes Archäologinnendrama "The Lost King" (SZ).
Archiv: Film

Design



Der Popstar Pharrell Williams hat seine erste Kollektion als Chefdesigner der Männerlinie von Louis Vuitton in Paris präsentiert - und Georg Diez äußert auf ZeitOnline nach diesem "Moment von kultureller Strahlkraft" schwere Fragen: "Wie funktioniert Macht im Zeitalter der Super-Celebrities? Wer ist größer, der Designer oder die Marke? Ist es ein Triumph der Blackness, wenn jemand wie Williams nun eine französische Überluxusmarke leitet, als zweiter Schwarzer in Folge nach Virgil Abloh?" Williams "will explizit das Erbe der Schwarzen Kultur feiern - und er hat sich für seine Schau als Laufsteg genau diese berühmteste Brücke in der berühmten Stadt Paris gewählt, den Pont Neuf. Und nun sitzen dort all die berühmten Menschen und schauen den vielen meist Schwarzen männlichen Models zu, wie sie gemeinsam eine ikonische Marke in die Gegenwart tragen und ein wenig darüber hinaus. ... Die Verschiebung, die sich an diesem Pariser Abend überdeutlich zeigte, lautet: Es ist nicht mehr die Marke, die berühmt ist, es ist die Berühmtheit, die berühmt ist. Celebrities, die sich einst nur mit Statussymbolen schmückten, erschaffen nun selbst die Symbole, die ihren Status belegen."
Archiv: Design

Musik

FAZ-Kritiker Christian Gohlke stellt bei der Musica viva in München die "Ohrwascheln" auf, wenn dort Helmut Lachenmann ("einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart") mit einem Abend geehrt wird: "'Salut für Caudwell' führte in dessen Klangkosmos ein. Das Werk zeigt gerade in seiner Konzentration auf nur zwei Instrumente eindrucksvoll, wie unerwartet anders wohlvertraute Gitarren klingen können, wenn zum Beispiel durch Schaben über die Saiten fahle Geräusche wie von knisterndem Pergament entstehen, wenn einzelne Töne dann im Kontrast dazu frei ausschwingen dürfen und wie Lichtstreifen den finsteren Nachthimmel erhellen oder wenn die beiden präzise aufeinander reagierenden Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt aus der Stille heraus plötzlich hart die Saiten anschlagen und der Eindruck hochenergetischer Explosionen entsteht."

Außerdem: Hannah Schmidt porträtiert in der Zeit die iranische Komponistin Aftab Darvhishi, Thomas Lindemann in der FAS den Komponisten Peter Michael Hamel. "Mittlerweile scheint in der Causa Rammstein alles entglitten zu sein", seufzt Karl Fluch im Standard und staunt über die vehementen Reaktionen von Rammsteins Rechtsbeistand. Guido Holze (FAZ) und Judith von Sternburg (FR) berichten vom Auftakt des Rheingau Musik Festivals. Immer mehr Bands wehren sich dagegen, dass Konzertveranstalter einen Anteil von bei Konzerten verkauftem Merchandise einfordern, schreibt Konstantin Nowotny im Freitag. Stefan Grund ist in der Welt gespannt auf das erste Beatles-Festival, das Anfang Juli in Hamburg stattfindet. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mti Ben Folds. Christian Schachinger vom österreichischen Standard wirft einen Blick auf die neuentflammte Italiensehnsucht der Deutschen, die sich nicht nur in Eric Pfeils Italopop-Reader im vergangenen Jahr äußert, sondern auch in einer Reihe von Neuveröffentlichungen zeigt, etwa im neuen Album Erobique: "Heiter und lebensfroh spielt sich dieser Mann auf seinen Keyboards Richtung Badespaß im Süden."



Besprochen werden Beyoncés Auftritt in Frankfurt (FR, Tsp), das neue Album von Janelle Monáe ("Es verdeutlicht, dass ein progressives Image und hohe Zeitgeistwerte nicht automatisch besondere Kunst zeitigen", seufzt Karl Fluch im Standard), das von Andris Nelsons dirigierte Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker (Tsp, hier ein Mitschnitt), ein von Kent Nagano dirigiertes Mahler-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters (Tsp), ein Konzert von Rammstein in Madrid (taz), eine zum zwanzigjährigen Bestehen von der Berliner 8mm-Bar herausgegebene Compilation ("noch besser ist nur hingehen", schwärmt Jens Uthoff in der taz) und Sonos Cliqs Album "Kumpelmusik Vol. 1" ("große Kunst", findet Jens Winter in der Jungle World).

Archiv: Musik