Efeu - Die Kulturrundschau

Das Raubtierhafte ist Allgemeingut geworden

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06.07.2023. Tagesspiegel und Welt begutachten Thomas Ostermeiers leichtfüßige, verführerisch gleißende, doch vom Klassenkampf sehr weit entfernte "Dreigroschenoper" im französischen Aix. Die Zeit schmilzt dahin mit dem Kammerpop von Anohni. Die FR bewundert in der Schirn die aktivistische Kunst der Martha Rosler. Die FAZ schwelgt im Prado mit J.M. Coetzee in der noblen Unergründlichkeit von Weltklassemalerei.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2023 finden Sie hier

Bühne

L'opéra de quat'sous de Bertolt Brecht, Kurt Weill et Elisabeth Hauptmann
Direction musicale Maxime Pascal - Mise en scène Thomas Ostermeier
Festival d'Aix-en-Provence 2023 © Jean-Louis Fernandez


Beim Opernfestival in Aix-en-Provence wurde Thomas Ostermeiers Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper" aufgeführt. Das passte wie die Faust aufs Auge, meint im Tagesspiegel Eberhard Spreng. Und dann wieder nicht: "Macheaths bedingungsloser Hedonismus, seine individuelle Rücksichtslosigkeit, ist heute keine Ausnahme mehr. Das Raubtierhafte ist Allgemeingut geworden, Schocks der Selbsterkenntnis beim bürgerlichen Festivalpublikum unwahrscheinlich. Die von Karl Marx prognostizierte moralische Verrohung der Menschheit im Kapitalismus ist fast ein Jahrhundert älter geworden und hat andere Formen angenommen. Die Welt ist müde geworden und die Jugend erfindet andere Posen des Protestes, um gesehen zu werden und aus dem legendären Schatten zu treten, den Brecht beschwor. Nicht in Aix, sondern im 30 Kilometer entfernten Marseille."

Welt-Kritiker Manuel Brug wurde leicht unbehaglich bei der Vorstellung, dass Mackie gleich zu den "Polizistenhunden" sagen würde: "Man schlage ihnen ihre Fressen / Mit schweren Eisenhämmern ein".  Aber dann war's doch nicht so schlimm: "Der smoothelegante Birane Ba singt das freilich unverbindlich als der nette Schwarze von nebenan, der doch nur ziemlich bester Freund aller sein will. So gibt es einen szenischen Kommentar nur hinterher. Wenn, explizit nach dem Applaus und als Zugabe ausgewiesen, noch vor roten Farbtafeln in einem Lied zu 'Geht und greift die neue Faschisten an' aufgerufen wird. ... Doch davor und dazwischen tänzelt diese 'Opéra de quat'sous' als verführerisch leichtfüßiges Kulinarikum dahin. Auf Französisch klingen die meisten der kämpferischordinären Brecht Sentenzen nach Esprit und Elegance und vor allem die unkaputtbare Kurt Weill-Musik in ihrer billigglitzrigen Instrumentierung gleißt und verführt ungemein. So wohnt man einem zwischen Music Hall und Cabaret schillernden Reigen weltberühmter Songs bei, die hier mehr nach Moulin Rouge und Cage aux Folles als nach dem Mond über Soho klingen - und nur noch sehr weit entfernt von Klassenkampf und Kapitalismuskritik tönen." (Die Aufführung kann man am 12.7. um 22 Uhr auch auf Arte sehen)

Weiteres: In der FAZ freut sich Jan Brachmann, dass es plötzlich Karten für Bayreuth gibt. Andrea Paluch macht für die Zeit eine Theaterreise nach Kiew. Im van Magazin berichtet Merle Krafeld über die Schwierigkeiten, einen rechtlichen Rahmen für Angestellte am Theater zu schaffen.

Besprochen werden Rudi Stephans Oper "Die ersten Menschen" an der Oper Frankfurt (van), die Revue "Berlin-Berlin" in der Alten Oper Frankfurt (FR) und Heidi Speckers Fotos von der Komischen Oper vor ihrer Sanierung (taz).
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Musik

Jens Balzer schmilzt in der Zeit dahin, wenn er das neue Album "My Back Was a Bridge For You to Cross" von Anohni hört: "'It Must Change': das ist das schönste und ergreifendste Lied, das es in diesem Sommer zu hören gibt, getragen von der schönsten und ergreifendsten Stimme, die der Pop seit langer Zeit hervorgebracht hat. Anohni singt, wie sonst niemand singt, soulvoll, körperlich und dann immer wieder ins Körperlose umschlagend, aus dem Tenor in den Countertenor. Zwischen dem 'Männlichen' und dem 'Weiblichen' gibt es bei ihr keinen Unterschied mehr; das Timbre des Soul beherrscht sie so sicher wie die Phrasierungen des Folk." Anohnis "früherer Kammerpop ist weitgehend Geschichte, im Setting einer Rockband durchmisst Anohni ihre Themen", schreibt Karl Fluch im Standard und beobachtet eine Entwicklung "von einer Egozentrikerin, von einer stets etwas säuerlichen Sicht auf die Welt zu einem engagierten Wesen, das sein Ich nun in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Da ist es kein Wunder, dass sie Marvin Gayes Album 'What's Going On?' als wesentlichen Einfluss für das ihre nennt."



Weitere Artikel: Für VAN spricht Hartmut Welscher mit dem scheidenden Dirigenten Roland Kluttig über seine Zeit in Graz. Martin Fischer fragt sich im Tages-Anzeiger, was hinter den zuletzt gehäuft beobachtbaren Angriffen auf Stars bei Konzerten steckt: Immer wieder fliegen harte Gegenstände auf die Bühne. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier María Teresa Prieto und dort Barbara Strozzi.
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Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Agnese Franceschini holt für Tell erneut Christa Wolfs Essay "Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller" aus dem Jahr 1965 aus dem Regal und stößt darin auf "das Manifest einer Schriftstellerin, die an die neue sozialistische Gesellschaft glaubt". Cornelia Geißler schreibt in der Berliner Zeitung ein Kurz-Porträt über Lothar Quinkenstein, den Übersetzer von Olga Tokarczuk. Ab 2025 können Lehrkräfte in Baden-Würtemmberg darüber entscheiden, ob sie statt Wolfgang Koeppens vor ein paar Monaten arg kritisiertem "Tauben im Gras" lieber Anna Seghers' "Transit" als Abiturlektüre vorbereiten, meldet der SWR.

Besprochen werden unter anderem Gertraud Klemms "Einzeller" (online nachgereicht von der FAZ), Esther Kinskys "Weiter Sehen" (SZ), Bodo Kirchhoffs "Nachtdiebe" (Welt) und Wulf Kirstens "Nachtfahrt" (FAZ). Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Ragnar Kjartansson, Ausstellungsfoto. Kommissioneret af Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk (C) Ragnar Kjartansson. Foto: Louisiana - Poul Buchard / Brøndum & Co.


Thomas Steinfeld ist für die SZ ins Louisiana-Museum in Kopenhagen gereist und findet das Glück in einer Ausstellung des singenden isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson: "Alle künstlerischen Werke Ragnar Kjartanssons sind Werke der Wiederholung. Ganz oberflächlich betrachtet, könnte man viele von ihnen für kulturkritische Arbeiten halten: Je häufiger dieselbe Szene zu sehen ist, desto mehr erscheint sie als etwas Gemachtes, Einstudiertes und allein auf seine Wirkung Berechnetes. Tatsächlich aber entwirft Kjartansson in seinen Bildern eine Philosophie der abgründigen Art. Denn in der Wiederholung wird nicht nur die Erinnerung geschaffen, das Band, das einen Menschen mit seiner Vergangenheit verknüpft. Vielmehr entsteht auch Gemeinschaft erst durch die Wiederholung, durch den kollektiven Bezug auf wiederkehrende Ereignisse."

Martha Rosler, Cargo Cult, 1966


Feinste Politkunst findet Lisa Berins in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, die eine Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Martha Rosler präsentiert: "Sie ist ein geschickt inszenierter Rundumblick geworden, der zur Vertiefung einlädt; in das explizite und radikale Werk Roslers, in die brennend aktuellen und zugleich immer wieder erschreckend zeitlosen Themen: Krieg, Macht, soziale Ungerechtigkeit - mitsamt ihren fatalen Folgen. Rosler ist eine präzise Beobachterin, ihr Blick durchdringt Fassaden. ... Immer wieder setzt sich Rosler kritisch mit der Rolle der Frau in einem patriarchalen System auseinander, mit dem gesellschaftlichen, männlich dominierten Blick auf sie und ihren Körper. Eine ihrer ersten feministischen Arbeiten ist die ab 1966 entstandene Serie 'Body Beautiful, or Beauty Knows No Pain'. Dafür schnitt Rosler Abbildungen weiblicher Körper aus Mode- und Erotikmagazinen aus und montierte sie in einen neuen Kontext. Fragmente des weiblichen Körpers erscheinen dort als Überspitzung des sexualisierenden und objektivierenden Blicks in surrealen, abstrusen, auch ironischen Szenen."

Paul Ingendaay (FAZ) hörte zu, als J.M. Coetzee im Prado über einige der Werke dort sprach: "Vor dem heiligen Hieronymus von Georges de la Tour (1627-29) fragt Coetzee: Können wir dieses Bild in Sprache übersetzen, sodass die Wörter an die Stelle des Gemäldes treten? Seine Antwort: Nein, denn das wäre nur Ersatz. Ist die Sprache der Bilder, so fragt er weiter, deshalb die Sprache der Wahrheit? Ebenfalls nein. 'Unter Umständen', sagt Coetzee, 'kann das Bild falscher sein als Sprache.' Ein paar Minuten lang wechseln sich die an die Wand geworfenen Bilder ab, und das Publikum darf in der noblen Unergründlichkeit von Weltklassemalerei schwelgen."

Weitere Artikel: Maxi Broecking berichtet in der taz vom Fotografiefestival Les Rencontres in Arles. In der Berliner Zeitung meldet Ingeborg Ruthe bestürzt, dass sich die Wiener Albertina den Chef der Alten Nationalgalerie, Ralph Gleis, geangelt hat. In der NZZ berichtet Marion Löhndorf von der Wiedereröffnung der renovierten National Portrait Gallery in London.

Besprochen werden Bridget Rileys "Wall Works" in der Berliner Galerie Hetzler (BlZ), die Ausstellung "Am Seegarten" in Kirchmöser (Tsp) und die Ausstellung "Lose Enden" im Hamburger Museum am Rothenbaum (taz).
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Film

In den Trümmern neues Leben aufbauen: "Unser Fluss... unser Himmel" (Barnsteiner Film)

Die Exil-Regisseurin Maysoon Pachachi wirft mit ihrem Film "Unser Fluss... unser Himmel" einen Blick zurück auf die Gewalt in Bagdad in den Nullerjahren.. Es geht ihr nicht so sehr darum "die damaligen Ereignisse in den Blick zu nehmen, sondern den Zustand, der sich daraus ergeben hat: eine Alltäglichkeit in extremis, ein Leben in einem eigentlich untragbaren Widerspruch, ein Leben angesichts allgegenwärtigen Todes", schreibt Bert Rebhandl online nachgereicht in der FAZ. "Sie sucht nach einer allgemeineren, anthropologischen Ebene. Sie deutet vor allem an, dass es mit der Rolle der Frauen zu tun hat, wie eine Gesellschaft ihre Konflikte lösen kann. ... Die Ermächtigung der Frauen ist gewiss kein Allheilmittel, aber noch in den Verhältnissen des Kinos spiegeln sich die traditionellen Verhältnisse wider: Amerika erzählt sein eigenes Scheitern im Irak als Kriegsfilm, während das internationale Arthousekino dann die Frauen schickt, um in den Trümmern ein neues Leben aufzubauen."

Ausblick auf die Möglichkeit einer besseren Welt: Juliette Jouan in "Die Purpursegel"

Ein Kriegsheimkehrer und seine Tochter in der französischen Provinz, die Vermittlerin zwischen beiden und der Welt ist die Kunst - das ist der Stoff, den der italienische Autorenfilmer Pietro Marcello in "Die Purpursegel" erzählt. Perlentaucher Lukas Foerster sieht den Kern des Films vor allem in der Tochter Juliette: "Anstatt seine Protagonistin in eine gegebene Form hineinzuwachsen zu lassen, entwirft der Film, in der Musik und auch im utopischen Versprechen der Liebe, die Ahnung eines anderen, neuen Seins, das im Hier und Jetzt noch nicht ganz Bild werden kann. Die Purpursegel des Titels künden nicht nur von einer (sowieso stets nur vorläufig) geglückten individuellen Emanzipation; sondern von der Möglichkeit einer besseren Welt. Einer Welt, die der Immanenz und Permanenz des Leids ein Ende setzen könnte. Oder zumindest einer Welt, die nicht dazu verdammt ist, wieder und wieder, Generation für Generation, dieselben Traumata zu reproduzieren." Sehr glücklich ist SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier mit dem Film: Marcello "liefert den Beweis, dass Kino am schönsten ist, wenn es als Handwerk verstanden wird. Gedreht ist der Film analog auf 16-Millimeter-Material, was den Bildern einen haptischen, körnigen Charakter verleiht. ... Auf eingestreute Aufnahmen von Bienen, Blättern, wanderndem Sonnenlicht und fliegenden Pollen folgen die Bewegungen des Meisels auf einem Holzstrunk. Was für Raphaël das Holz ist, ist für Marcello die Wirklichkeit." Weitere Besprechungen in der FAS (online nachgereicht) und taz.

Weiteres: Kira Taszman spricht für den Filmdienst mit François Ozon über dessen Krimikomödie "Mein fabelhaftes Verbrechen" mit Isabelle Huppert. "Dieser nur unterschwellig böse Film stellt sich den Verbitterungstendenzen mit einem breiten Grinsen entgegen", freut sich Perlentaucher Robert Wagner über Ozons Film, den auch tazlerin Arabella Wintermayr bespricht. Besprochen werden außerdem der neue "Mission Impossible"-Film mit Tom Cruise (NZZ, Presse)  und die DVD-Ausgabe von Anita Rocha da Silveiras brasilianischen Horrorfilm "Medusa" (taz). Außerdem informiert die SZ kurz und knapp, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film