Efeu - Die Kulturrundschau

Mit ungewisser Aura

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07.07.2023. In der NZZ erklärt die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger, warum viele Ukrainer keinen Dostojewski mehr lesen wollen. Die taz lernt im Museum Ludwig, dass nicht alles russische Kunst ist, wo russisch draufsteht. Einen sehr lebendigen Wolf Biermann erleben FAZ und FR in einer Ausstellung des DHM. Im Interview mit der Zeit erklärt die amerikanische Filmemacherin Greta Gerwig die spirituelle Geschichte hinter ihrem Barbie-Film. Die FAZ versinkt in Aix en Provence im Schmerz von George Benjamins neuer Oper "Picture a Day Like This". Der Tagesspiegel badet im Barberini Museum im Glanz impressionistischer Kunst aus den Niederlanden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2023 finden Sie hier

Musik

Das Deutsche Historische Museum Berlin ehrt Wolf Biermann mit einer großen Ausstellung zu Leben und Werk. Die Ausstellung betont die materiellen Spuren im Leben des Lyrikers, Liedermachers und DDR-Kritikers, schreibt Andreas Kilb in der FAZ: "Dieses Werk und der, der es schuf, haben Epoche gemacht, auch wenn ihn wohl nur wenige zu den ganz großen Dichtern oder Musikern der Nachkriegszeit zählen würden. Aber Biermann selbst war eine Macht, als Stimme und als Person, und deshalb überrascht es, dass die Ausstellung im DHM nicht mit einem Foto des Abends im November 1976 beginnt, an dem diese Stimme den Lauf der Geschichte veränderte, dem Abend, an dem Biermann in Köln jenes Konzert gab, das die DDR-Führung drei Tage später als Vorwand für seine Ausbürgerung nahm. ... Am Eingang steht stattdessen das Harmonium, auf dem Biermann an jenem Abend gespielt hat, ein brauner Kasten mit ungewisser Aura. Über ihm hängt ein historisches Foto, das Porträt des Werftarbeiters Dagobert Biermann, der 1943 als Kommunist und Widerstandskämpfer in Auschwitz ermordet wurde. Die Kuratorinnen des DHM, Dorlis Blume und Monika Boll, haben sich an die goldene Museumsregel gehalten, dass man Geschichte mit Objekten und Dokumenten erzählen muss."

Cornelia Geißler von der FR erlebt "eine Ausstellung über Biermann und eine für uns, seine Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, egal, welche Zipfel des Lebens wir gemeinsam mit ihm haben. Wer als Kind in der DDR erfahren hat, dass man diese Lieder nicht laut singen darf, weil sie verboten sind, findet Anknüpfungspunkte an die eigene Jugend. Wer Deutschland erst als vereintes Land kennengelernt hat, erhält Geschichtsunterricht. Es fehlt vieles, weil der Raum für dieses Leben und diese lange Zeit zu klein ist. Aber Biermann wird nicht in eine Archivkiste gepackt, sondern so offen und in so viele Denkrichtungen dargestellt, dass die Schau auch sein Werk lebendig hält." Das ist auch bitter nötig, schreibt Hilmar Klute in der SZ, denn Biermann kennen zwar alle, "aber sie kennen seine Gedichte und Lieder kaum bis gar nicht". Für "überaus gelungen" hält Kerstin Decker die Ausstellung im Tagesspiegel.

Außerdem: Thomas Wochnik freut sich im Tagesspiegel auf das Berliner Festival "Heroines of Sound", das den Anteil von Frauen an der Geschichte in der elektronischen Musik betont und in vielen Fällen überhaupt erst aufdeckt. Jakob Biazza staunt in der SZ, was Fans bei Konzerten so alles auf die Bühne ihrer Stars werfen: Vom Gender-Reveal ungeborener Kinder über Chicken Nuggets bis zur Asche der eigenen Mutter. Claudius Seidl gratuliert in der FAZ dem Sänger und Komponisten Toto Cutugno zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Anohni (taz, SZ, mehr dazu bereits hier), Harry Styles' Konzert in Frankfurt (FR, FAZ) und die restauerierte Wiederaufführung von D.A. Pennebakers Bowie-Konzertfilm "Ziggy Stardust and The Spiders From Mars" aus dem Jahr 1973 (Standard).
Archiv: Musik

Literatur

Auf Twitter gerieten sich namhafte Menschen gehörig in die Wolle darüber, ob man Dostojewski angesichts der russischen Ukraine-Invasion noch lesen, geschweige denn dessen Lektüre in der Öffentlichkeit noch ohne weiteres empfehlen könne, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger in der NZZ. Mancher Zaungast staunte über die Vehemenz der Auseinandersetzung, doch dies "beruht wesentlich auf Unkenntnis des ideologischen Charakters des russischen Angriffskriegs. ... Literatur spielt aber eine bedeutende Rolle in diesem Krieg, weil der Putinismus sein sowjetimperiales Erbe dadurch zum Ausdruck bringt, dass er russische Geschichte, Sprache und Literatur gezielt als ideologische Waffe einsetzt. ... Vor allem die Politiker der Generation der Oktober-Revolutionäre wachten in der Sowjetunion höchstpersönlich über die Stellung von Literatur und Kultur im Land: Stalin befürwortete den Erlass der Literaturdoktrin des sozialistischen Realismus von 1934. In den Dreißigerjahren befahl er die Exekutierung der ukrainischen Literaturelite und ließ 1952 jiddische Schriftsteller hinrichten. ... Für die ukrainische Literatur, die sich nach einer langen Zeit des Schreibverbots in der frühen Sowjetunion erstmals neu formierte, bedeutete diese Auslöschungsaktion für lange Zeit das Ende."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Hartmut Finkelday fragt sich in Tell, wie mutig Christa Wolf gewesen ist. Besprochen werden unter anderem Bodo Kirchhoffs "Nachtdiebe" (online nachgereicht von der FAZ), Ha Jins Biografie über den chinesischen Dichter Li Bai (NZZ) und Harry Walters Essayband "Bilder knistern" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

David Burliuk Carousel, 1921 © National Art Museum of Ukraine.


Vieles, was in Museen unter dem Rubrum der "Russischen Avantgarde" gefasst wird, ist gar nicht russisch, lernt tazler Robert Schlücker beim Besuch der Ausstellung "Ukrainische Moderne 1900-1930 & Daria Koltsova" im Kölner Museum Ludwig. Doch auch eine einfache Umdeklarierung als Ukrainisch ist kompliziert, erfährt er: "Es geht in Köln um Nuancen. Es geht darum, ukrainische Einflüsse auszuarbeiten und mit einem noch immer auf Russland fokussierten Kanon zu brechen. Und darum, ein durchlässiges Narrativ zu entwickeln, das polnische, jüdische, viele andere kulturelle Impulse auffängt. Man schaut dann auf die lokalen Zentren der ukrainischen Avantgarden, auf das Kunstinstitut in Kyjiw, die Szene in Charkiw. Eine Umschreibung der Kunstgeschichte einer ukrainischen Moderne beginnt mit einer Blickverschiebung, unter anderem auf einstige blinde Flecken."

George Hendrik Breitner: Die Singelbrücke bei der Paleisstraat in Amsterdam, 1898, Rijksmuseum, Amsterdam, Nachlass Herr und Frau Drucker-Fraser, Montreux.


Im Tagesspiegel empfiehlt ein begeisterter Bernhard Schulz wärmstens die Ausstellung "Wolken und Licht. Impressionismus in Holland" im Potsdamer Museum Barberini. Die Gemälde "markieren einen Höhepunkt in der Wiedergabe der Realität und ihrer Verdichtung zum Nationalstil, ehe sich das künstlerische Sensorium davon zu entfernen beginnt und in andere Sphären vordringt, dabei sich in unterschiedliche und miteinander nicht mehr verbundene Richtungen aufsplitternd. Diese Grundbewegung der Moderne zeigt die Potsdamer Ausstellung am Beispiel Hollands, und sie bedeutet nichts weniger als eine großartige und längst überfällige Entdeckung." Stefan Hochgesand stimmt in der Berliner Zeitung in den Lobgesang ein, er packt schon mal die Koffer für einen ausgedehnten Kunst-Urlaub: "Die Barberini-Ausstellung 'Wolken und Licht' macht sehr viel Lust, in die Niederlande zu fahren. Dem Chefkurator Michael Philipp ist ein Coup geglückt; man kann nur staunen, wie er die Museen in den Niederlanden überzeugen konnte, manche ihrer Säle zu leeren und ihre Schätze nach Potsdam zu verschiffen. Manches lässt sich aber gar nicht transportieren" Für diese Fälle empfiehlt er den Besuch insbesondere des Depot Museums Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. "Es handelt sich um das seit 2021 weltweit erste für Besucher zugängliche Kunstdepot. Ausdrücklich kein Museum, sondern ein wildes, abenteuerliches Sammelsurium. Touren sind heißbegehrt und lohnen sich unbedingt: Zu den 150.000 gelagerten Werken zählen Midcentury-Möbel genau so wie Meisterwerke aus Renaissance und Impressionismus."

Weiteres: Zasha Colah wird Kuratorin der 13. Berlin-Biennale 2025, freut sich die FR. Das Amsterdamer Rijksmuseum will erste Objekte mit Kolonialgeschichte restituieren, meldet die FAZ.

Archiv: Kunst

Bühne

Picture a Day Like This © Jean-Louis Fernandez


In der FAZ ist Anja-Rosa Thöming noch ganz benommen von dem Gefühlsbad, in das sie die Uraufführung von George Benjamins Oper "Picture a Day Like This" beim Festival d'Aix-en-Provence warf. Es geht um eine Mutter, die ihr kleines Kind verloren hat, von einer höheren Macht allerdings ein Wunder in Aussicht gestellt bekommt, wenn sie es schafft, einem glücklichen Menschen einen Hemdsknopf abzuluchsen. Thöming beeindruckte der Schmerz, den Mezzosporanistin Marianne Crebassa auszudrücken vermochte, wenn sich wieder mal ein vermeintlich Glücklicher als arme Seele entpuppt: "Marianne Crebassa gestaltet die anspruchsvolle Rolle der trauernden und doch immer hoffenden Frau mit beeindruckender Größe. Die Mezzosopranistin ist sicherlich eine der besten Sängerinnen ihrer Generation, für einen Komponisten wie Benjamin ein Geschenk. Alles an der kultivierten Stimme wirkt reich und schlank zugleich, quasi bruchlos übergehend von einer vollen, nur leicht herben Tiefe über eine warme Mittellage hin zur leicht ansprechenden, gesunden Höhe." Auch nmz-Kritiker Joachim Lange ist beeindruckt: "Benjamin setzt bei jeder Szene mit genau dosierten Mitteln an und hält mit untrüglichem Sinn für das rechte Zeitmaß für diese Art Selbsterkenntnismusik, die Spannung. Für die Zuhörer und wohl auch für die Protagonisten sind alle Gesangspartien ein Fest."

Weitere Artikel: Das Zürcher Schauspielhaus sucht eine neue Intendanz, meldet Ueli Bernays in der NZZ. Besprochen werden ein "König Lear" mit Charlotte Schwab in der Hauptrolle bei den Festspielen Bad Hersfeld (FR) und Parnia Shams Theaterstück "Ist" beim Theater der Welt in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Architektur

Der ghanaisch-britische Stararchitekt David Adjaye wird nach einem Bericht der Financial Times von drei Frauen beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben, berichtet Harriet Sherwood im Guardian. "Sie beschuldigten ihn und seine Firma, Adjaye Associates, 'verschiedene Formen der Ausbeutung - von sexuellen Übergriffen und sexueller Belästigung durch ihn ist ebenso die Rede wie von einer vergifteten Arbeitskultur - die jahrelang unkontrolliert geblieben sei', so die FT. Die Frauen sagten, ihr Umgang mit ihm habe 'ihre Karrieren behindert, sie in eine prekäre finanzielle Lage gebracht und ernsthaftes psychisches Leid verursacht'." Adjaye bestreitet die Vorwürfe laut dem Guardian. Doch ist er inzwischen von der Planung des Holocaust-Denkmals in Britannien zurückgetreten, so Sherwood: "Sein Architekturbüro, das einen Wettbewerb für die Gestaltung des Mahnmals gewonnen hat, hat der Regierung mitgeteilt, dass Adjaye nicht an dem Projekt beteiligt sein wird, bis die durch die Anschuldigungen aufgeworfenen Fragen geklärt sind." Rhea Nayyar geht in Hyperallergic näher auf die in der FT ausgeprochenen Vorwürfe ein. Und Valentina Di Liscia meldet, dass auch das Studio Museum in Harlem die Zusammenarbeit mit Adjaye abgebrochen haben soll.

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel stellt Falk Jaeger den neuen Techno Campus in Berlin vor, der Hans Hertleins Siemens-Bauten mit neuen Gebäuden von Tchoban Architekten ergänzt. Alexander Gutzmer berichtet in der Welt vom gutgelaunten Weltkongress der Architekten in Kopenhagen.
Archiv: Architektur

Film

"Wenn Du Barbie hasst, ist dieser Film für Dich" - Werbezeile im Trailer zu Greta Gerwigs "Barbie" mit Margot Robbie und Ryan Gosling

Claire Beermann spricht im ZeitMagazin ausführlich mit der Filmemacherin und Schauspielerin Greta Gerwig, die mit auf Festivals gefeierten Low-Budget-Indiefilmen über eigensinnige Frauen bekannt wurde und jetzt den "Barbie"-Blockbuster mit Margot Robbie und Ryan Gosling in die Kinos bringt. Ein Bruch im Werk? Eher nicht, sagt Gerwig: "Für mich steckt in Barbies Reise eine sehr alte, spirituelle Geschichte. Sie beginnt an einem Ort, in einem Zustand, der kein Altern kennt, keinen Tod, keinen Schmerz, keine Selbstreflexion. Und plötzlich wird sie sich all dieser Dinge bewusst. Barbie wird aus dem Paradies vertrieben. Wir kennen diese Geschichte, sie kommt in vielen Religionen vor: Wie geht man von einem Zustand, der perfekt erscheint, ins Menschsein über? Alle Filme, die ich geschrieben und gedreht habe, basieren auf solchen alten Erzählungen. ... Ursprünglich sollte ich nur das Drehbuch schreiben, ich habe dafür Noah (Baumbach) als Co-Autor reingeholt. Als ich während des Schreibens merkte, dass es wirklich gut wird, wollte ich es nicht mehr aus der Hand geben. Ich bin eine persönliche Filmemacherin. Ich musste keinen Barbie-Film machen. Ich wollte diesen Barbie-Film machen."

Außerdem: Disney zieht massenhaft Eigenproduktionen aus seinem Streamingportal ab, darunter auch aktuelle Serien und Filme, aber auch ein paar Klassiker, meldet Ingo Pakalski auf Golem: Auch eine Serie, die in diesem Monat als Premiere angekündigt war, ist darunter. "Die Titel werden nicht als DVD oder Blu-ray veröffentlicht und auch nirgends zum Digitalkauf angeboten." Dietrich Leder denkt im Filmdienst über den Boom dokumentarischer Sportserien nach. Axel Timo Purr fasst für Artechock den Schwerpunkt Neues Deutsches Kino des Filmfests München zusammen. Dunja Bialas resümiert für Artechock die Vergabe der Starter-Filmpreise beim Filmfest München. Und Christel Strobel sah für Artechock neue Kinderfilme beim Filmfest München. In der SZ bringt Tobias Kniebe Updates zur juristischen Auseinandersetzung zwischen Til Schweiger und Drehbuchautorin Anika Decker, die von Schweiger eine höhere Gewinnbeteiligung an seinen Erfolgsfilmen fordert.

Besprochen werden François Ozons "Mein fabelhaftes Verbrechen" mit Isabelle Huppert (Artechock, Welt, unsere Kritik hier), Pietro Marcellos "Die Purpursegel" (Artechock, unsere Kritik), Christopher Quarries neuer "Mission Impossible"-Film mit Tom Cruise (Filmdienst), die neue Staffel der SF-Serie "Black Mirror" (Presse), Dieter Berners "Alma & Oskar" (Artechock), James C. Strouses "Love Again" (Tsp) und die auf Amazon gezeigte Mockumentary-Serie "Jury Duty" (Jungle World).
Archiv: Film