Efeu - Die Kulturrundschau

Fragwürdiges Pfützenwasser

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2023. Allgemeine Zufriedenheit über den Büchner-Preis für Lutz Seiler: Kein "Bilderbuch-Gewinnertyp", meint die FR, aber ein Dichter, der auf "fast archaische Weise" Kopfkino erzeugt, ergänzt die Welt. Uneins sind sich die Filmkritiker über Greta Gerwigs "Barbie": Einen Film, der den Feminismus neu denkt, feiert die Welt, oder eher leicht verdaulich macht, meint der Perlentaucher. Welt und Tagesspiegel bestaunen einen "Fliegenden Holländer" inmitten des schwarzen, aber nicht schweigenden polnischen Waldes. Und die FAZ spitzt die Ohren bei Natascha Sadr Haghighians "Sechs Kompositionen für Trillerpfeife".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.07.2023 finden Sie hier

Literatur

Nach dem Deutschen Buchpreis für "Kruso" und dem Preis der Leipziger Buchmesse für "Stern 111" erhält der Lyriker und Romancier Lutz Seiler in diesem November nun auch den Georg-Büchner-Preis. Die Feuilletons sind rundum zufrieden mit der Entscheidung. In der Begründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heißt es, gewürdigt werde ein "Autor, der mit klangvollen Gedichtbänden begann, von dort zum Erzählen fand, stets aber ein so klarer wie rätselhafter, dunkel leuchtender Lyriker bleibt, zuletzt mit 'schrift für blinde riesen'." Vermutlich gab jener 2021 erschienene Text den Ausschlag für die Entscheidung der Akademie, glaubt Carsten Otte in der taz: "Dem 1963 im thüringischen Gera geborenen Schriftsteller gelingen in dem Gedichtband jenseits der für ihn typischen Rätselpoeme nämlich sehr anschauliche Sprachkunstwerke, die das vermeintlich Banale in kunstvolle Bildsprache verwandeln und in denen auf eher subtile Weise längst Vergangenes im Gegenwärtigen aufscheint."

In der SZ ist Hilmar Klute vor allem glücklich, dass die Akademie ihre Entscheidung "erstaunlich unbeirrt von den Prämissen der Diversität und des außerliterarischen Kriterienkatalogs" getroffen hat. "Denn gerade heute, da Romane auf den Prüfstand gesetzt werden, nicht weil ihre literarische Qualität irgendwie zu diskutieren wäre, sondern weil ihre moralische Rissfestigkeit angeblich nachlässt, steht der 60-jährige Lutz Seiler für eine Literatur, die ihre Autonomie und ihr Selbstbewusstsein nur vor sich selbst begründen muss." Aber: "Bei allem Widerstand gegen die besinnungslose Beschleunigung einer Postmoderne ... ist er eben kein Antimoderner, der das Heil in der Rückkehr zur Scholle sieht", sekundiert Gregor Dotzauer, der im Tagesspiegel vor allem die frühen, kurzen Werke Seilers empfiehlt.

"Seiler vermag - zweifellos dank seiner Sozialisation als Lyriker - Sprache zu einer Laterna magica zu formen, die auf eine fast archaische Art und Weise Projektionskunst erzeugt und Kopfkino im Leser generiert", fasst Marc Reichmann in der Welt Seilers Gabe zusammen. Er ist "kein Bilderbuch-Gewinnertyp, aber er gewinnt", freut sich Judith von Sternburg in der FR: Ihm "ist das Schreiben nicht automatisch mit ins Leben gegeben worden. Er machte eine Baufachausbildung und arbeitete als Maurer und Zimmermann. (…) Erst beim Militär, mit 21 Jahren, sei er zum Leser geworden. 'Das Erlebnis des Lesens war eine Zäsur, es änderte mein Leben. Zuvor hatte nichts auch nur ansatzweise darauf hingedeutet', so Seiler vor kurzem in der Thüringischen Landeszeitung; er habe nun also gelesen, während die anderen ihre Zeit mit Laubsägearbeiten verbrachten." "Überfällig", nennt Andreas Platthaus in der FAZ die Entscheidung, "hochverdient" scheint auch FAZ-Kollege Jan Wiele die Auszeichnung. In der Berliner Zeitung gratuliert Cornelia Geißer, in der Zeit Alexander Cammann. Die FAZ bringt außerdem eine gekürzte Fassung der Dankesrede, die Lutz Seiler kürzlich zur Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises in Weimar hielt.

Weitere Artikel: Sergei Gerassimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Ebenfalls in der NZZ beglückwünscht Paul Jandl Lyriker, die bei Twitter Shitstorms auslösen. Besprochen werden unter anderem Regina Scheers "Bittere Brunnen" (SZ), Mieko Kawakamis neuer Roman "All die Liebenden in der Nacht" (SZ), Raymond Radiguets Roman "Den Teufel im Leib" (FAZ), Nikolai Epplées "Die unbequeme Vergangenheit" (FAZ) und Michel Houellebecqs "Einige Monate in meinem Leben" (FR, Standard).
Archiv: Literatur

Kunst

Natascha Sadr Haghighian, W4_310119, 2019, Courtesy die Künstlerin

"Sechs Kompositionen für Trillerpfeife" hört und sieht FAZ-Kritikerin Brita Sachs in der Ausstellung der iranisch-deutschen Künstlerin Natascha Sadr Haghighian im Münchner Lenbachhaus. Der Kritikerin eröffnen sich mit der Ausstellung ganz neue Blickwinkel auf gewöhnliche Dinge. In "Tribute to Whistle", einer 48-Kanal-Klanginstallation, widmet sich die Künstlerin zum Beispiel der Trillerpfeife: "Sechs nach dem Zufallsprinzip mal allein, mal parallel erschallende, erstaunlich vielfältig und manchmal sogar melodisch klingende Soli eines 'unparteiischen Instruments'. Es kommt ja nur darauf an, wer es benutzt: der Demonstrant setzt es zum Protest ein, der Polizist ruft damit zur Ordnung, der Schaffner pfeift zum Aufbruch, der Schiedsrichter zu allem Möglichen, und im Karneval schrillt das kleine laute Ding in ohrenbetäubender Lebensfreude. Ein Bild mit großer roter Trillerpfeife widmet die Künstlerin dem im vergangenen Jahr gestorbenen Aktivisten Hassan Numan, dem 'Mann mit der Trillerpfeife': Wenn im Morgengrauen die Polizei zur Flüchtlingsunterkunft in Osnabrück kam, um Menschen zur Abschiebung zu holen, schlug eine Wache Alarm, und sofort ertönten unzählige Trillerpfeifen. Singend wurde Tumult produziert, und die Beamten zogen ab."

Weiteres: Maxi Broecking unterhält sich in der taz mit dem Künstler und Musiker Theaster Gates. Besprochen werden die Ausstellungen "Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann" in der Alten Nationalgalerie Berlin (SZ) und "Fake Views" im Frankfurter Kunstverein (FR).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus der Oper "Der fliegende Holländer". Foto: Via Baltic Opera Festival

Welt-Kritiker Manuel Brug begibt sich tief in die polnischen Wälder, um Tomasz Koniecznys Inszenierung von Wagners "Der fliegende Holländer" zu sehen. Mit dem neuen Baltic-Opera-Festival will Konieczny die Waldoper Zoppot wiederbeleben, die auf eine bewegte musikalische Geschichte zurückblickt, lesen wir. Die Waldoper gibt es seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Später eigneten sich die Nazis den Ort als "Bayreuth des Nordens" an, um ihren Wagner-Kult zu betreiben. Brug sieht eine gelungene Aufführung, die sich optisch zurückhält, um dem uralten Wald ringsum seinen Platz in der Inszenierung einzuräumen: "Konieczny selbst hatte ein minimalistisches szenisches Konzept mit hellen Kostümen und sechs fahrbaren, durchlöcherten schrägen Wänden erstellt: Die waren Schiff und Webstuhl und gute Akustikstütze. Boris Kudlička, weltweit gefragter Opernbühnenbildner, vor allem mit Polens berühmtestem Regisseur Mariusz Treliński, hat sie entworfen. In einer Riesenholzwanne fuhr der wackere Chor herum... Daland saß im Rollstuhl oder wie Onkel Dagobert auf seinem Vermögen in Form eines riesigen, gleißend angestrahlten Goldbarrens. Senta brachte auf einem Leiterwagen kleine Püppchen und eine große Holländerpuppe mit; am Ende schnitt sie sich als Selbstopfer die Kehle durch. Und immer wieder säuselten dahinter, weiß, grün oder liebesrosa angestrahlt, die Blätter der eindrücklichen Waldkulisse." Auch Tagesspiegel-Kritikerin Regine Müller freut sich über die "Wiederbelebung eines einzigartigen Orts".
Archiv: Bühne

Film

Entdeckt am Ende sogar ihre Vagina: Margot Robbie als "Barbie"

Dass Greta Gerwig ihrer "Barbie" eine feministische Note verleihen wird, war bereits bekannt. "Aber 'Barbie' ist nicht nur ein feministischer Film geworden, sondern ein Film über den Feminismus. Er denkt den Feminismus nicht nur mit, sondern er denkt ihn neu", freut sich Marie-Luise Goldmann in der Welt: "An harscher Selbstkritik an der glitzernden, neoliberalen Plastikästhetik hat Gerwig, die das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Ehemann Noah Baumbach … schrieb, nicht gespart. ... Barbie selbst erfährt eine existenzielle Erschütterung, als sie in der echten Welt einen Schulhof betritt und die erwartete Begeisterung vonseiten der Kinder ausbleibt. Statt ihr menschgewordenes Idol zu umarmen, werfen sie ihr an den Kopf, sie zu hassen und schon seit dem Alter von fünf Jahren nicht mehr mit ihr, einer Faschistin und Kapitalistin, die am ungesunden Körperbild so vieler Frauen schuld sei, zu spielen."

Barbie "soll niemanden zu sehr verprellen. Und natürlich die 100 Millionen [Produktionskosten] wieder einspielen. Letzteres steht in den Sternen, die ersten beiden Punkte scheinen realisierbar", meint hingegen Perlentaucherin Carolin Weidner: "Alles bleibt Andeutung, perfekt ausgeführt und on point, aber eben auch leicht verdaulich und höchstens dann subversiv, wenn man sich noch nie mit so etwas wie dem Patriarchat auseinandergesetzt hat, oder im Fall des einen oder anderen Zuschauers - vielleicht auch nicht auseinandersetzen musste." Am Ende entdeckt Barbie aber immerhin "ihr Bewusstsein, ihre Tränen, Wut, und, Trommelwirbel, am Ende sogar eine echte Vagina." Bei allem "Klamauk" erkennt Dietmar Dath in der FAZ durchaus auch "stille, tiefe Stellen" - oder anders ausgedrückt: "In einer Wüste, in der bestimmte Nährstoffe anders nicht zu finden sind (solche über die Beschaffenheit weiblicher Kinderträume etwa), trinkt man auch mal fragwürdiges Pfützenwasser in Pink."

Für Gerwig ist der Film "nur eine Etappe auf dem Weg zur größten Hollywood-Regisseurin der Gegenwart", glaubt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Für Mattel ist es dagegen nur der Anfang. 13 weitere Realfilme sollen folgen: unter anderen über die Rennwagen Hot Wheels und den violetten Dino Barney." Da musste Gerwig schon nach den Regeln des Konzerns spielen, meint Busche. "Der Barbie-Feminismus fällt darum immer auch mit der Tür ins Traumhaus (das keine Innenräume hat). 'Ich bin der Mann mit der wenigsten Macht im Raum', sagt einmal ein unterrangiger Mattel-Angestellter. 'Macht mich das zur Frau?'" In der Berliner Zeitung bespricht Manuel Almeida Vergara den Film, in der NZZ schreibt Daniel Haas.

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Matthias Dell den Nachruf auf den im Alter von 72 Jahren gestorbenen Kameramann Thomas Plenert, der mit allen großen Regisseurinnen und Regisseuren der DDR drehte.
Archiv: Film

Musik

Und dann ist da ja auch noch Billie Eilishs Song zum "Barbie"-Film, den Ulrich Seidler in der FR für nicht weniger als ein "Meisterwerk" hält: "'Nimm meine Hände', sagt die von der 92-jährigen Kostümbildnerin Ann Roth gespielte Mentorin in einem der Vorab-Trailer mit bestimmter, aber schwacher Stimme. 'Schließe deine Augen und fühle.' Und noch bevor die unvergänglich faltenfreie Barbie darüber nachzudenken Gelegenheit hat, was das Knittrige in dem Gesicht ihres Gegenübers sein könnte, steigen zarte und sehr simple Tonika-Subdominant-Dominant-Klavierakkorde auf und drehen ein paar atmende Mantrarunden, bevor Barbie, pardon, Billie Eilish ihre Stimme hereinwehen lässt, diesen dunkelsüßen und hellbitteren, mit Glitzerpartikeln besetzten und Raureif überzogenen Hauch aus dem Herzensgrund, erschöpft, aber leicht, das Allrätsel anrufend und der Antwortahnungen schon knapp überdrüssig seiend, Zunge und Lippen ein bisschen zu müde für die Arbeit des Worteformens, aber doch gerade motiviert genug, um die Zeile verstehbar zu machen: 'What was I made for?'"



Besprochen wird außerdem das Soul-Album "Angel & Queens" der Gabriels (NZZ).
Archiv: Musik
Stichwörter: Eilish, Billie, Barbie