Efeu - Die Kulturrundschau

Nostalgie nach dem Imperium

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2023. Walser war kein Antisemit, behauptet die FAZ: Im Gegenteil, im Grunde habe Claude Lanzmann mit "Shoah" Walsers Reflexionen über den Holocaust als Film umgesetzt. Die Welt erlebt beim "Cap-Rocat"-Festival Pietro Mascagnis feurige "Cavalleria Rusticana" mit mallorquinischem Flair. ZeitOnline trauert um den Rockmusiker Erkin Koray, der für die Türkei schon immer zu unangepasst war. Die Filmkritiker trauern um William Friedkin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.08.2023 finden Sie hier

Kunst

Studio von Rosa Bonheur. Foto: Chateau de Rosa Bonheur

Wie konnte man diese Malerin vergessen? FAZ-Kritiker Marc Zitzmann flaniert durch das Atelier der Künstlerin Rosa Bonheur, das wirkt, als hätte die "renommiertesten Tiermalerin" des 19. Jahrhunderts gerade noch eine Zigarette auf ihrem Fauteuil geraucht: "In einem Eck mutet das kleine Fotolabor - eines der drei ältesten weltweit erhaltenen - gebrauchsbereit an; auf einer Palette liegen noch halb ausgedrückte Farbtuben; ein Blick in den puppenhaften Nebensalon offenbart gar liegen gelassene Zigarettenstummel! Das Interessanteste am Atelier sind indes die Werke - und die Tiere. Pferde und Hunde, Rinder und Ziegen, aber auch Bisons und Löwen...Dass sie statt Menschen lieber Tiere malte und diese gern mit einem seelenvollen Blick versah, bildete im anthropozentrischen neunzehnten Jahrhundert eine sanfte Provokation. Doch blieb diese ob der virtuos-lebensechten Faktur der oft monumentalen Gemälde weitgehend unbemerkt."

Weitere Artikel: Kathleen Hildebrandt stellt in der SZ die Künstlerin Hanna Hape vor, die berühmte weibliche Aktfotos von Helmut Newton mit Männern und queeren Personen als Modellen nachstellt: "Was ist absurder - dass da ein Mann mit geöffnetem Hemd und ohne Hose auf einem Bett kniet, mit einem Sattel auf dem Rücken, und verklärt in die Kamera blickt? Oder die Tatsache, dass das Bild einer Frau in derselben Pose eine Ikone der modernen Fotografie ist?" Die Berlinische Galerie plant das Wohn- und Arbeitsanwesen aus dem Nachlass des Künstlerpaares Martin und Brigitte Matschinsky-Denninghoff zu verkaufen, meldet Michaela Nolte im Tagesspiegel. Ehemalige Künstlerkollegen sind entsetzt und sehen deren "Erbe mit Füßen getreten", so Nolte.

Besprochen werden die Ausstellungen "Vergissmeinnicht - Museum der (un)entdeckten Erinnerungen" auf Schloss Hubertusburg (FAZ), "Hunted" mit Werken von Nasan Turs in der Berlinischen Galerie (tsp) und "Im Freien" mit Werken des Künstlers Norbert Bisky im Kunstverein Freunde Aktueller Kunst in Zwickau (BlZ).
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Literatur

War Martin Walser ein Antisemit, wie nach seinem Tod wieder zu lesen war (hier und dort unsere Resümees)? Edo Reents verneint dies in der FAZ und beugt sich dafür noch einmal über Matthias N. Lorenz' Walser-Dissertation aus dem Jahr 2005, das "gewichtigste" Buch zu Sache. Aber so geht es nicht, findet er: Man könne Walsers fiktionale Texte nicht als Diskussionsbeiträge lesen. Reents verweist daher auf Walsers Essays "Unser Auschwitz" (1965) und "Auschwitz und kein Ende" (1979): Darin führte ihn "sein Nachdenken an den Punkt, an dem sich ihm Auschwitz nicht nur als moralisches Problem darstellte, sondern auch als erkenntnistheoretisches, welches, wenn man nur tief genug in sich hinabsteigt, letztlich nicht vermittelbar ist. Es zur Sprache zu bringen gab paradoxerweise schon seine Lösung an die Hand: Schweigen" und dies in "heute unbemerkter Übereinstimmung mit der Arbeitshypothese, die Claude Lanzmann seinem 1985 fertig gewordenen 'Shoah'-Film gab, ihm gleichsam wie einen Mantel überhängte: Auschwitz, der Holocaust als solcher halte nicht nur zur Sprachlosigkeit an, sondern sei diese selbst schon. Ohne hier eine Beeinflussung annehmen zu wollen, lässt sich vereinfachend feststellen, Lanzmann habe das eingelöst, was Walser mit 'Unser Auschwitz' unter dem Eindruck der Frankfurter Prozesse an Möglichkeiten und vor allem Unmöglichkeiten des Umgangs mit Auschwitz skizziert hatte."

Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, seit Beginn der russischen Ukraine-Invasion im westeuropäischen Exil untergetaucht, ist in Russland in Abwesenheit zu acht Jahren Lager verurteilt worden, meldet Nicolas Freund in der SZ. "Schon vor Jahren diagnostizierte Glukhovsky seinen Landsleuten 'Nostalgie nach dem Imperium', eine Sehnsucht nach der verlorenen Größe, die sich mit einem ausgeprägten russischen Minderwertigkeitskomplex vermische. ... 'Russland hat ein Problem mit halb unbewusstem Kolonialismus', sagte er" bei einem Treffen in Berlin im Mai. "'Wir gestehen uns nicht ein, dass wir eigentlich immer noch eine koloniale Macht sind, die durch einen langen Zerfall geht. Der Krieg in der Ukraine ist eigentlich ein Versuch, die Teile dieses Imperiums zusammenzuhalten. Aber das kann Putin nicht offen sagen.' Die Möglichkeit für ein Ende der russischen Aggression sieht er nur in einem Regimewechsel und in einer Öffnung in Richtung Westen."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Helmut Mayer von der FAZ reist mit Jacques Rédas "Ruinen von Paris" und Roger Caillois' "Kleiner Führer durch den XV. Arrondissement zum Gebrauch der Geister" im Handgepäck in die französische Hauptstadt. In der SZ plaudert Heinz Strunk mit Til Briegleb darüber, warum er als erfolgreicher Schriftsteller nun auch Teilhaber eines Bistros im Hamburger Schanzenviertel ist: Bei ihm läufts so gut, "da kam richtig viel rein. Und was soll man sich denn kaufen?"

Besprochen werden unter anderem Tatiana Tibuleacs "Der Garten aus Glas" (FR), Ned Beaumans "Der gemeine Lumpfisch" (online nachgereicht von der FAZ), Alexandre Clérisses "Lose Blätter" (taz), Elle McNicolls "Wie unsichtbare Funken" (online nachgereicht von der Zeit), Nicola Lagioias "Die Stadt der Lebenden" (SZ) und Selahattin Demirtaşs Kurzgeschichtenband "Kaltfront" (FAZ).
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Bühne

Welt-Kritiker Manuel Brug reibt sich die Augen: Ein Klassik-Festival auf Mallorca, nur einige Minuten vom Ballerman entfernt? Das Cap Rocat Festival fand diesen August zum dritten Mal statt, so Brug, und startete mit einem Knall: Pietro Mascagnis "vollsaftiger" Oper "Cavalleria Rusticana", iszeniert von Ilias Tzempetonidis, mit hochkarätiger Besetzung und mit Mallorca-Flair: "Auch 'nur' konzertant, aber mit großen dramatischen Gesten und auswendig singend, zeigten die zwar in Málaga residierende, aber sich in Spanien vokal rar machende Elina Garanca (als Santuzza), der sein auf Anhieb überzeugendes Rollendebüt gebende Michael Fabiano (als Turiddu), Luca Salsi als Alfio und Maria Agrest in der fünf-Minuten-Rolle der Lola, wie italienische Oper lodern kann. Zwar saßen das engagierte Orquesta Sinfónica de las Islas Baleares, die Noten von Brisen geschüttelt, sowie der ordentliche, extra zusammengestellte 47-köpfige Chor auf luxuriösem Grund. Aber dahinter breiten sich Pinien, Macchia und Windmühlen aus, und übers Mittelmeer liegt der Handlungsort Sizilien, mit dem Mallorca viel gemeinsam hat."

Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Margarethe von Affenzeller die Theatergruppe "Hora", die aus Schauspielern mit kognitiver Beeinträchtigung besteht.

Besprochen werden Roland Schwabs und Markus Poschners Inszenierung von "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen (nmz).
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Musik

Die türkische Rocklegende Erkin Koray ist gestorben. Mit seinem Anadol Rock spielte er eine "unwiderstehliche Fusion aus anatolischer Volksmusik und westlich inspiriertem Rock", schreibt Sinem Kılıç auf ZeitOnline. "'Als ich angefangen habe, gab es niemand anderen', erinnerte sich Erkin Koray noch in Fatih Akıns Musikdokumentation 'Crossing the Bridge - The Sound of Istanbul' von 2005. 'Ich war allein. Über Jahre hinweg war ich der Einzige. Ich fühle mich manchmal immer noch allein.' Für die Türkei war der langhaarige Musiker mit den hohen Absätzen und der cremeweißen Gibson Les Paul SG immer zu unangepasst. 'Ich habe von Anfang an mit Widerständen zu tun gehabt. Sogar heute kann man nicht behaupten, dass mein Weg frei ist. Ich war schon immer einen Tick zu extrem für die Verhältnisse in der Türkei', sagte er in Akıns Film."



Außerdem: Georg Rudiger porträtiert im Tagesspiegel die Hornistin Sarah Willis. Besprochen werden eine Aufführung von Mozarts c-Moll-Messe durch das Utopia-Ensemble unter Teodor Currentzis bei den Salzburger Festspielen (Standard) und das neue Album der Brüsseler Chansonband Aksak Maboul (taz).
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Film

Die Feuilletons reichen ihre Nachrufe auf William Friedkin nach (unser erstes Resümee gestern). Seine Klassiker "'The French Connection' und 'Der Exorzist' brachten einen rauen Realismus in das amerikanische Genrekino", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Nicht zufällig gehören sie zu den Filmen der Siebziger, die hervorragend gealtert sind. ... Sein ganzes Kino war perforiert von einem schonungslosen Existenzialismus." Passend dazu sieht FAZ-Kritiker Claudius Seidl, wenn er sich an Friedkins Filme erinnert, vor dem geistigen Auge zuerst "grobe, brutale, gewissermaßen männliche Männer; dann die Waffen, die diese Männer in den Händen halten und abfeuern, wenn es nötig ist; und dann die Autos, in denen diese Männer sitzen, fahren, alle Regeln ignorieren, und von denen, wenn die Filme zu Ende gehen, nicht viel mehr bleiben wird als von den Egos dieser Männer: ramponierte Formen, Wracks, der reine Schrott." Doch Friedkins Filme "waren, bei aller Freude am Lärm, an dem Tempo, den Karambolagen immer auch moralische Etüden darüber, dass die Guten und die Bösen, je schneller die Fahrt wird, desto schwerer zu unterscheiden sind." Weitere Nachrufe schreiben Hanns-Georg Rodek (Welt), Daniel Kothenschulte (FR) und Tim Caspar Boehme (taz). Dieser Videoessay lehrt uns, was man von "French Connection" über das Filmemachen lernen kann:



Außerdem: Marko Martin reist für die taz ins wüste Hinterland des spanischen Navarra, wo noch haufenweise alte Filmkulissen zu sehen sind - obwohl das Gebiet eigentlich ein Bioreservat ist. David Steinitz schreibt in der SZ zum Tod der Schauspielerin und Regisseurin Margit Saad. Besprochen werden die Paramount-Serie "Ghosts of Beirut" (FAZ), Neill Bloomkamps Computerspielverfilmung "Gran Turismo" (Tsp, SZ), der neue Eberhoferkrimi "Rehragout-Rendezvous" (Standard) und die Doku "Cat Daddies - Freunde für sieben Leben" (Filmdienst).
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Stichwörter: Friedkin, William