Efeu - Die Kulturrundschau

Der Charme eines Schlachtfelds

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18.08.2023. Die FAZ begeistert sich für die nagelspitze Mehrdeutigkeit des Malers Michael Armitage, dessen Bilder gerade im Kunsthaus Bregenz zu sehen sind. Die taz reist mit Markus CM Schmidts Kino-Dokumentarfilm "Le Mali 70" zu den Jazzmusikern in Mali. Die SZ besucht die Pornoproduzentin Paulita Pappel, die sich auf queerfeministische Pornos spezialisiert hat. Die Welt begutachtet Versuche, alte Schwarzweißfilm historisch akkurat zu kolorieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.08.2023 finden Sie hier

Kunst

Michael Armitage: Tea Picker, 2023. Foto: Markus Tretter. Bildrechte: Michael Armitage und David Zwirner Forman Family Collection.

"Seine Kunst lebt von dieser nagelspitzen Mehrdeutigkeit, der Umkehr der Perspektive und von den beunruhigenden historischen Narben, die das Lachen im Hals stecken lassen", schreibt eine beeindruckte Alexandra Wach in der FAZ zu dem britisch-kenianischen Maler Michael Armitage und seiner Ausstellung "Pathos and the Twilight of the Isle" im Kunsthaus Bregenz. Die Einflüsse, die sich in den Gemälden zeigen, sind vielfältig, leben aber "vor allem vom überbordenden Gestus des Malerischen. Es ist aber auch die Mischung aus Mythen, Erinnerung und surrealen Phantasien: Armitage verknüpft sie mit ostafrikanischen Kunsttraditionen und postkolonialen Realitäten. Zugleich gelingt es ihm, an europäische Maler wie Manet oder Cézanne anzuknüpfen und Landschaften, die nur wenige dieser Titanen bereisten, gegen jede Exotik politisch aufzuladen", lobt Wach, während sie auf eine an Gaugin erinnernde Frauengruppe blickt, die Armitage auf löchrigem Lubugo gemalt hat, einem Stoff, der aus Feigen gewonnen wird: "Während man die hochgesteckten Haare der Frauen in rosa Kleidern betrachtet, die sich dem erotisch aufgeladenen tansanischen Tanz Baikoko hingeben, kommt man nicht umhin, die Falten und geflickten Risse ins Visier zu nehmen, die der Leinwand bei aller Entrücktheit des Motivs den Charme eines Schlachtfelds verleihen.

Tolle Künstlerin, aber besonders viel Mühe scheint sich Direktor Klaus Biesenbach mit der Ausstellung "75/75" von Isa Genzken in der Neuen Nationalgalerie nicht gegeben zu haben, bedauert Hans-Jürgen Hafner in der taz und wendet sich den grundlegenden Problemen zu, die er darin sieht: Die Preußenstiftung, zu der die Nationalgalerie gehört, "ist fehlkonstruiert, überverwaltet und unterfinanziert. Vom Tisch ist die Empfehlung der einst von Grütters eingesetzten Wissenschaftsrat-Experten, den Museums-, Bibliotheks- und Archivgiganten in Fachabteilungen aufzuspalten." Die angestrebte Reform kommt auch nicht so richtig in die Gänge: "Dass sich nach einer Stiftungsratssitzung im Juli 'sämtliche Bundesländer weiterhin an der Finanzierung der Stiftung beteiligen wollen', klingt gut, aber nicht neu. So wirkt es zu gleichen Teilen heroisch und verloren, wenn Klaus Biesenbach jetzt den Ball bei den einzelnen Museen sieht: 'Wir müssen mit den Innovationen anfangen.'"

Besprochen wird Ika Hubers Ausstellung "À la Recherche" in der Frankfurter Galerie Bärbel Grässlin (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Gefährliche Reise für den Jazz: der Dokumentarfilm "Le Mali 70"

Tim Caspar Boehme von der taz geht gerne mit Markus CM Schmidts Kino-Dokumentarfilm "Le Mali 70" auf Reise zur malischen Jazzszene, die seit dem Militärputsch 1968 einiger Drangsal ausgesetzt ist. Der Film begleitet den Besuch des Berliner Omniversal Earkestra bei ihren Idolen zwecks gemeinsamer Jams. Um Informationsvermittlung geht es Schmidt dabei nur am Rande, "stattdessen sitzt er als stiller Beobachter mit den vorwiegend jungen Berliner Musikern im Reisebus, während draußen die Steppe vorbeizieht. ... Schmidt lässt seinem Film die lockere Beiläufigkeit eines Road Movie und gibt der Musik so viel Raum, dass das Kinopublikum die Motivation für die nicht ungefährliche Reise ausgiebig nachvollziehen kann. Wie es um die politische Lage zum Zeitpunkt der Reise steht, deutet Schmidt in kurzen Bemerkungen am Rand an. In Timbuktu spielen? Nein, da wurde alles eingestellt, sagt die Schlagzeugerin Mouneissa Tandina, eine der wenigen Instrumentalistinnen im Film. Und als die Musiker mit einem Boot von Timbuktu nach Mopti fahren, erfährt man, dass es zu gefährlich sei, die Strecke über Land zu fahren, in der Wüste gebe es 'Gangster'." Aus der Begegnung ist auch ein Album entstanden, wir hören rein:



Über 400.000 Digitalisate von Schellackplatten aus den ersten Jahrzehnten technisch reproduzierbarer Musik hält das verdienstvolle Internet Archive in seinem "Great 78"-Projekt zur Verfügung. Dagegen versucht die Musikindustrie nun vorzugehen, meldet Jana Ballweber in der FR. "Die Aufnahmen haben eine schlechte Qualität mit lauten Nebengeräuschen. Doch genau diesen Besonderheiten gilt das Interesse des Projekts", denn "das Ziel der digitalen Sammlung sei es, Forschern und Forscherinnen Zugang zu diesen Aufnahmen zu verschaffen, ohne die physischen Artefakte zu beschädigen." Doch "mehrere große Musiklabels, darunter die Universal Music Group und Sony Music Entertainment, verklagen das Internet Archive wegen 'Urheberrechtsverletzungen im industriellen Ausmaß'. Der Grund: Seit einer Gesetzesänderung in den USA von 2018 gilt das Urheberrecht auch für Aufnahmen, die vor 1972 erschienen sind. ... Die Konzerne generieren heute einen großen Teil ihrer Einnahmen über den Verkauf von Lizenzen für Musik an Streaming-Plattformen. Das 'The Great 78'-Projekt hält dem entgegen, dass die Aufnahmen auf den Streaming-Plattformen bearbeitet und von Störgeräuschen bereinigt seien - eben diese Störgeräusche, die man für die musikhistorische Forschung konservieren wolle. Rechtlich ist die Lage unklar."

Weitere Artikel: In der Schweiz prosperiert die Festivalszene, stellt Marco Frei in der NZZ fest. Ljubisa Tosic spricht für den Standard mit dem Schlagzeuger Lukas König, der heute beim Jazzfestival in Saalfelden auftritt. Besprochen werden Speaker Musics neues Album "Techxodus" ("Momente, die an Freejazz-Energy-Drumming erinnern, werden von geisterhaften Hallfahnen und Noise-Ausbrüchen abgelöst", hält Julian Weber in der taz fest), Dota Kehrs Album "In der fernsten der Fernen" (Tsp), eine Bonner Ausstellung über Josephine Baker (NZZ), Tony Lakatos' Quintett-Album "Blue Chili" (FR), das Abschiedskonzert von Devo in Spandau (Tsp) und Jon Batistes Album "World Music Radio" (Pitchfork, SZ). Und das Logbuch Suhrkamp bringt eine neue Folge aus Thomas Meineckes "Clip/Schule ohne Worte":

Archiv: Musik

Literatur

In der Welt plaudert Ronja von Rönne über ihren neuen Essay "Trotz". Andreas Bernard stattet für die SZ dem früheren Schriftsteller-Café Hawelka in Wien einen Besuch ab.

Besprochen werden unter anderem Kathrin Rögglas "Laufendes Verfahren" (FR), Regina Scheers Biografie "Bittere Brunnen" über die Kommunistin Hertha Gordon-Walcher (Freitag), Helgard Haugs "All right. Good night" (Freitag), Steffen Kopetzkys "Damenopfer" (online nachgereicht von der FAZ) und Jonathan Coes "Bournville" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Eduardo e Cristina". Foto: Rossini Festival


Jedes Jahr im August verwandelt sich Pesaro ins "piccola Bayreuth sull'Adriatico", freut sich Michael Stallknecht, der dort das Rossini-Festival für die SZ besucht hat. Drei Opern werden jährlich gespielt, 2023 ist zum ersten Mal überhaupt "Eduardo e Cristina" dabei, ein Stück, das nicht nur stimmlich herausfordert: "Die schwedische Königstochter Cristina hat heimlich ein Kind vom Feldherrn Eduardo, das sie vor König Carlo, ihrem Vater, verheimlicht. Als die Sache auffliegt, verurteilt der Vater die gesamte Familie zum Tod. Zum Glück für alle Beteiligten greifen am Schluss die Russen an, Eduardo schlägt den Angriff zurück und rettet damit nicht nur seiner Familie das Leben", beschreibt Stallknecht den Inhalt der Oper, die Rossini unter dem Effizienzdruck seiner aufsteigenden Karriere geschrieben hatte. "Dass die Oper über größere Strecken ein Selbstplagiat ist, hört man: Die Musik scheint manchmal neben sich zu stehen, nicht wirklich zur dramatischen Situation zu passen." Immerhin: Mit der Aufführung aller Rossini-Werke entsteht eine historisch-kritische Edition, die helfen wird, auch andere Stücke von Rossini auf die Bühne zu holen als die altbekannten, hofft Stallknecht.

Besprochen werden außerdem Gisèle Viennes "Extra Life" auf der Ruhrtriennale (nachtkritik), Massenets "Werther" bei den Bregenzer Festspielen (nmz) und Verdis "Falstaff" in Salzburg (nmz).
Archiv: Bühne

Design


Shayne Oliver: Mall of Anonymous, 2023. Foto: Frank Sperling/Shayne Oliver.

Der Designer Shayne Oliver stellt im Berliner Schinkel-Pavillon aus und bereitet damit schon mal seine Rückkehr in die Welt der Mode vor, informiert uns Dennis Braatz in der SZ: "Wer in der Mode dauerhaft erfolgreich sein will, muss wissen, wie man im Gespräch bleibt - oder wieder dazu wird. Das Konzept für die Ausstellung 'Mall of Anonymous' entstand im Lockdown. 'Ich begann darüber nachzudenken, warum ich überhaupt konsumieren will. Es gibt kaum noch physischen Raum für neue Ideen', sagt er. Die Mall als Sinnbild passt nicht nur, weil Einkaufszentren heute überall auf der Welt so gut wie gleich aufgebaut und mit den gleichen Marken ausgestattet werden. Sondern auch, weil sie sich in den Vereinigten Staaten, wo sie erfunden wurden, immer häufiger zu 'Dead Malls' entwickeln. Tote Einkaufszentren, die kaum noch von Menschen genutzt werden und deshalb einen hohen Leerstand an Geschäften haben." So richtig konsumkritisch ist das nicht, meint Braatz: "Oliver lädt seine Mode so schon mal emotional und kulturell auf, bevor es sie überhaupt richtig gibt. Verkaufsfördernder kann man ein Comeback nicht angehen."
Archiv: Design

Film

Für die Seite Drei der SZ besucht Phliipp Bovermann einen Pornodreh der Produzentin Paulita Pappel, die als Botschafterin in Sachen queerfeministische Pornografie auch regelmäßig in den Medien auftritt. Ihre neue Firma hat sich auf Gangbangs unter für die Performer akzeptablen Arbeitsbedingungen spezialisiert. Bovermann ist dennoch nicht überzeugt: Das soll feministisch sein? "Sie verwende für ihre Filme inzwischen gar nicht mehr das Label 'feministisch', sagt Pappel. Dadurch entstehe nur der Eindruck, es gebe die gute, saubere, feministische Pornografie einerseits und die bösen Mainstreampornos andererseits. Das Problem sei aber die Stigmatisierung von Pornos insgesamt, die einer sexistischen Gesellschaft als Sündenböcke dienten. Schon die Annahme, eine Frau könne es nicht selbstbewusst genießen, sich spielerisch 'benutzen' zu lassen, sei sexistisch, dahinter stehe die Idee, 'dass Frauen im sexuellen Kontext immer Opfer sind', aber das seien sie nicht. 'Das sind superstarke Frauen, die total viel Lust zeigen.'"

Die nachträgliche, filmhistorisch mitunter verfäschende Kolorierung von Schwarzweißfilmen kam über gelegentliche Versuche mit neuen, stets sehr aufwändigen Verfahren bislang nie hinaus. KI-Methoden, wie sie derzeit Professor Thomas Pock an der Technischen Universität in Graz entwickelt, versprechen hier nun einen effizienteren, vor allem historisch akkurateren Lösungsansatz, informiert uns Matthias Greuling in seiner Reportage für die Welt. Mit historisch präzisen Informationen zu Farben von etwa Gebäuden, Kleidung, etc. muss die KI aufwändig gefüttert werden. Aber wenn sie "nun historische Aufnahmen einfärbt, die auf Basis heutiger Informationen und Recherchen erstellt werden, ist das dann Realismus, oder ist es nicht viel mehr - das Gegenteil, schnöde Geschichtsfälschung? ... 'Natürlich erschafft die KI keine Realität, sondern errechnet eine Fiktion', sagt Pock. Er meint damit auch: Bilder für bare Münze zu nehmen, wird gerade in Zeiten von KI-Anwendungen immer schwieriger." Hier einige Beispiele:



Außerdem: Andrea Dernbach wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die aktuellen kulturpolitischen Auseinandersetzungen zum italienischen Film (mehr dazu bereits hier). Madeleine Bernstorff empfiehlt im Tagesspiegel die Reihe "Glück auf" im Berliner Zeughauskino über Bergbau im deutschen Film. Esther Buss resümiert in der Jungle World die Retrospektive des Filmfestivals Locarno zum populären mexikanischen Kino (mehr dazu bereits hier). Valerie Dirk (Standard), Sandra Kegel (FAZ), Thomas Kramar (Presse) und David Steinitz (SZ) überbrücken das Sommerloch mit Gedanken zur aktuellen Social-Media-Turbulenz, ob die Nasenprothese, die Bradley Cooper in einem Leonard-Bernstein-Biopic trägt, unangemessen überzogen und damit antisemitisch sei.  Claudius Seidl (FAZ) und Susan Vahabzadeh (SZ) gratulieren Roman Polanski zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden André Øvredals Horrorfilm "The Last Voyage of the Demeter", der auf die in den meisten Verfilmungen von Bram Stokers "Dracula" meist episodisch abgehandelte Überfahrt von Transsilvanien nach London fokussiert (Standard, FR, FAZ), Maïwenns "Jeanne du Barry" (NZZ, unser Cannes-Resümee), Pedro Almodóvars Western-Liebes-Kurzfilm "Strange Way of Life" (NZZ), Matthew López' Romcom "Red White and Royal Blue" (Presse) und der neue "Teenage Mutant Ninja Turtles"-Animationsfilm (ZeitOnline).
Archiv: Film