Efeu - Die Kulturrundschau

Kaffeebecher statt Flinten

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24.08.2023. Die Feuilletons feiern Dominik Grafs Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein" über Schriftsteller, die in Nazi-Deutschland geblieben sind: Niemand wird mit Gratismut verurteilt, lobt die taz. Die Zeit steht in Düsseldorf vor naiven Tulpenporträts von Anton Hofreiter und möchte diskutieren, was Museen heute noch unter Qualität verstehen. Die SZ plädiert für mehr Öffnung bei den Bayreuther Festspielen. Und Zeit Online verlässt die Kapsel mit wuchtigem Jazz von Jaimie Branch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.08.2023 finden Sie hier

Film

Anatol Regnier (li.) und Dominik Graf: "Jeder schreibt für sich allein"

Die Feuilletons befassen sich mit Dominik Grafs neuem Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein", der sich anhand von Anatol Regniers gleichnamigem Buch mit jenen Schriftstellern befasst, die in Nazi-Deutschland geblieben sind (unser erstes Resümee). Zwar gibt es wenig Neues zu erfahren, schreibt Philipp Rhensius in der taz, "doch hier ist weniger das Was als das Wie entscheidend. Vor allem moralisiert Graf in seinem Film nicht. Er zeigt die Autor*innen im historischen Kontext, statt sie mit Gratismut zu verurteilen. ... Graf verstaut die Thematik nicht in der Schublade, sondern lässt sie offenstehen. ... Das Fragmentarische ist die perfekte Form für besagte historische Überreste. Denn die Faszination des Fragments führt, von Nahem betrachtet, zum Pathos der Ruine, aus der Distanz gesehen." Der Filmemacher "tut dabei alles, um den komplexen Stoff lebendig werden zu lassen", lobt Bert Rebhandl in der FAZ. "Regnier hat die Bühne, sein Buch und seine Beschäftigung ausführlich zu präsentieren. Graf aber nützt seinerseits alle Möglichkeiten des Filmischen, um eine avancierte Form von literaturhistorischer Dokumentation zu schaffen, in der eben nicht nur das gesprochene und das geschriebene Wort eine Rolle spielen, sondern auch jede erdenkliche Form von Dokument."

FR-Kritker Daniel Kothenschulte findet diesen Film vor allem auch in cinephiler Hinsicht meisterlich: "In einer diskursiv hoch stimulierenden Montage aus Anatol Regniers moderierten Forschungsreisen und pointierten Interview-Auszügen verlässt Graf die Konventionen des großen Kinodokumentarfilms. In einer Art Mehr-Leinwandkino stellt er dem Wortfluss einen Found-Footage-Bildfluss gegenüber. Vielfach sind es Amateuraufnahmen der NS-Zeit, die hier weniger illustrieren als Kontexte setzen oder schlicht die Wahrnehmung stimulieren, die Tongestaltung wirkt ähnlich distanzierend." Fabian Tietke kommt der Film im Perlentaucher ein bisschen zu immunisiert vor: "Regnier, der Produzent Günter Rohrbach, der Sachbuchautor Florian Illies und der Lyriker und Literaturkritiker Albert von Schirnding liegen in vielen Punkten nah beieinander. Vor allem die Literaturkritikerin Julia Voss hebt sich davon ab, aber man hätte sich durchaus auch kritischere Stimmen hinsichtlich Grafs Willen zu Komplexität in dem Film gewünscht. Man kann ja durchaus darüber streiten, wie komplex Ranschmeißerei an den Nationalsozialismus ist."

Außerdem: Für die taz spricht Chris Schinke mit dem amerikanischen Regisseur Elegance Bratton, der in seinem (bei uns und im Tagesspiegel besprochenen) Film "The Inspection" seine Erfahrungen als schwuler Mann im US Marine Corps verarbeitet. Die Nasenprothese, die sich Bradley Cooper für sein Biopic über Leonard Bernstein aufgesetzt und damit Antisemitismusvorwürfe provoziert hat, hätte er sich auch gut sparen können, findet Andreas Busche im Tagesspiegel. De Agenturen melden, dass Ilker Çataks "Das Lehrerzimmer" (unsere Kritik) für eine Oscarnominierung eingereicht wird.

Besprochen werden Manzoors britische Martial-Arts-Komödie "Polite Society", in der eine junge pakistanische Stuntfrau in London ihre Schwester vo einer arrangierten Ehe retten muss ("Sind solche Kämpferinnen nicht viel aufregender, viel heldenhafter als all die Franchise-Superhelden", fragt sich Annett Scheffel in der SZ, FAZ), Kamil Krawczyckis "Elefant" (taz, FR), Maiwenns "Jeanne du Barry" (Standard), die neue "Star Wars"-Serie "Ahsoka" (FAZ, mehr dazu hier) und die Netflix-Doku "Heard vs Depp" (FAZ), Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Freitag-Kritikerin Özge İnan vermisst in der umstrittenen "Oh Boy"-Anthologie "soziologische, historische oder psychologische Grundlagen" und ertrinkt stattdessen in anekdotenhafter Nabelschau: "Wo der liberale Zeitgeist einer Systemanalyse im Weg steht, werden Einzelerfahrungen zum alleinigen Gegenstand der Betrachtung." Der Schweizer Schriftsteller Linus Reichlin denkt in der NZZ über den Gotthardtunnel nach, in dem er "sozusagen aufgewachsen" ist.

Besprochen werden unter anderem Colson Whiteheads "Die Regeln des Spiels" (FAZ), Olga Martynovas "Gespräch über die Trauer" (NZZ), David Bellos Biografie über Georges Perec (Filmdienst), Drago Jancars "Als die Welt entstand" (FR) und Rafik Schamis "Wenn du erzählst, erblüht die Wüste" (SZ).
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Kunst

Bild: Anton Hofreiter, Tulpen in Südtirol, 2021, Courtesy Anton Hofreiter/ Galerie pavlov's dog

Naive Tulpenporträts von Anton Hofreiter, Installationen von Meret Becker, Papierarbeiten von Michael Stich, Gemälde des Rappers Cro oder von Peter Doherty - all das versammelt die Ausstellung "Beyond Fame" im Düsseldorfer NRW Forum, die Hanno Rauterberg in der Zeit ganz spielerisch vorführt, "wie abgekapselt und scheinheilig es ansonsten in der Museumsszene zugeht. Obwohl es die Kuratoren ungern zugeben, sie stehen vor einer gewaltigen Begründungslücke, ja einem Begründungabgrund. Denn warum werden manche Künstler hoch gehandelt und andere in ihre Hobbykeller verbannt? So gut wie nie wird offen diskutiert, was Museen heute noch unter Qualität verstehen. Wenn formale Aspekte bei der Bewertung keine Rolle mehr spielen, worum geht es dann? Was spricht noch dagegen, auch die sogenannten Laien und Amateure auszustellen, solange sie innig und ernsthaft an ihrer Kunst arbeiten? Das jedenfalls wäre für ein Kunstsystem, das stärker denn je ums Soziale kreist, um Emanzipation und Egalität, ein naheliegender Schritt." Hm, sollte es nicht eher mehr ums Künstlerische kreisen?

Für Monopol hat sich Maja Goetz mit Annie Sprinkle und Beth Stephens auf einen "ökosexuellen Spaziergang" begeben, zu dem die beiden Künstlerinnen auf der Mannheimer Bundesgartenschau geladen haben. Zunächst muss Goetz lernen, wie "man Liebe mit der Erde machen" oder "dirty mit ihren Pflanzen sprechen" kann. Aber Vorsicht, vielleicht sagt ein Baum ja auch mal nein: "An diesem Tag scheinbar nicht. Später sagt eine der Künstlerinnen: 'Mein Baum war erst etwas schüchtern, aber dann hat er gefragt, ob ich ihn noch mehr lecken kann. Er war ein guter Küsser!' Sie bedanken sich bei den Bäumen, mit denen sie eben noch Zärtlichkeiten ausgetauscht haben. Ob die Besucherinnen befremdlich finden, was sie eben gesehen haben?"

Außerdem: Auf den "Glauben und Zweifeln"-Seiten schreibt die Künstlerin Julia Krahn über ihr Projekt "St. Javelin", für das sie geflüchtete ukrainische Frauen als Sinnbilder des Friedens inszenierte. Im Standard porträtiert Katharina Rustler die estnische Künstlerin Kris Lemsalu, deren Skulptur "Chará" , ein Mix aus Herz, Portal und Vagina, derzeit auf dem Kunstplatz auf dem Wiener Graben zu sehen ist, und die von der Kunstwelt gefeiert und von der FPÖ kritisiert wird. Besprochen wird die Online-Ausstellung "De-Zentralbild", die das Leben von MigrantInnen in der DDR zeigt (taz)
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Bühne

Ein wenig mäandernd stellt sich Reinhard J. Brembeck in der SZ die Frage, ob Katharina Wagner in Bayreuth weitermachen sollte oder nicht - und ob überhaupt alles stets beim Alten bleiben muss: "Ein Chef aus der Wagner-Familie in Bayreuth ist für viele Menschen ein lieb gewonnener Mythos, aber eben nur ein verzichtbarer Mythos aus einer Zeit, als Namen magische Schutzfunktionen bedeuteten. Seit dem Tod von Katharinas Vater Wolfgang wurde das ehemalige Familienunternehmen schrittweise in einen modern geführten Theaterbetrieb umgewandelt. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, Marketing, (Unter-)Finanzierung, Haussanierung, Öffnung nach außen, das sind nur einige der aktuellen Probleme. Irgendwann wird Bayreuth auch ein Nichtmitglied der Wagner-Familie führen, wichtiger als die Personalie ist die Programmatik. Muss es bei der jährlichen Neuproduktion nur einer der sieben als Bayreuth-tauglich erachteten Wagner-Opern, den 'Ring' als Einheit gerechnet, bleiben? Könnten es nicht auch zwei sein?"

Außerdem: In der Zeit porträtiert Jolinde Hüchtker Zoe Lohmann, die auf der Bühne als Dragking Alexander Cameltoe auftritt. Besprochen werden Helgard Haugs Inszenierung "All right. Good night" beim Zürcher Theaterspektakel (NZZ) und Christoph Marthalers Inszenierung von Verdis "Falstaff" sowie Simon Stones Inszenierung von Martinůs "The Greek Passion" bei den Salzburger Festspielen (Van-Magazin).
Archiv: Bühne

Architektur

Am Dienstag hat der Senat einen Rahmenplan für die Wiederbebauung des Berliner Molkenmarkts beschlossen, meldet Peter Richter in der SZ. Hinter dem Roten Rathaus soll wieder ein eng bebautes Stadtviertel entstehen, nicht als historische Konstruktion, sondern eher als "aktuelle Interpretation", wie SPD-Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler mitteilte, der zudem 450 neue Wohnungen versprach. Aber es warten schon neue Konflikte, so Richter: "Auf der anderen Seite des Roten Rathauses geht es darum, ob auch hier eine neue Berliner Altstadt errichtet oder die programmatische Freifläche aus der historischen Schicht der DDR erhalten werden sollte, wofür neben Geschichtsbewusstsein auch der Bedarf an Grün in der Innenstadt spricht. Beide Seiten haben sich hier publizistisch bereits in Stellung gebracht. Es ist aber auch für Anhänger der Moderne eine heikle Frage, wenn wegen des Wohnraummangels sogar auf die Bebauung des Tempelhofer Felds gedrängt wird, das historisch ein Exerzierfeld war und heute von vielen Berlinern an Wochenenden exakt wieder als ein solches genutzt wird, nur dass sie nun Kaffeebecher vor sich her tragen statt Flinten."

Außerdem: In der FAZ begrüßt Falk Jäger das von dem Zürcher Architekturbüro Holzer Kobler Architekturen entworfene "Erlebnis-Hus" in St. Peter Ording, das statt auf "Folklore" auf offene Strukturen setzt.
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Stichwörter: Molkenmarkt, Tempelhofer Feld

Musik

Der überraschende Tod von Jaimie Branch gehörte im letzten Jahr zu den besonders schmerzhaften Verlusten im Jazz. Mit ihrer vom Punk gespeisten Wucht und Wut hatte die Trompeterin die Kritik begeistert. Nun liegt ihr einen Monat vor ihrem Tod aufgezeichnetes Album "Fly or Die Fly or Die Fly or Die (World War)". Dem Spiritual-Jazz-Trend, sich dekorativ gefällig zu verzwergen, folgt Branch nicht, schreibt Tobi Müller auf ZeitOnline: "Ihr Jazz will nicht schöner wohnen in unseren Kapseln, sondern Geist und Körper bewegen, mit Messages und Musik gleichermaßen. Um der Esoterik zu entkommen, genügen meistens Gesang und Text von Branch, zum Beispiel in 'Burning Grey'. Wenn es darin aktivistisch heißt, die Zukunft lebe in uns drin und wir sollten nie vergessen zu kämpfen, klingt Branch beinahe so, wie man sie sich als Sechsjährige in der Kirche vorgestellt hatte. Aber Kampf heißt Veränderung, und so verändert sich auch diese neunminütige Nummer, verfällt von einer klaren Struktur in eine Art kollektives Geheul. Den Beat verliert sie dabei nie: Als seien der Zorn und die Liebe zum guten Leben eben keine Gegensätze."



Außerdem: Die Sängerin Dominika Hirschler berichtet im VAN-Magazin über ihre künstlerische Zusammenarbeit mit Teodor Currentzis' Utopia-Ensemble. Im VAN-Magazin spricht Monthati Masebe über heilende Kraft von Klang. Wolfgang Schreiber resümiert in der SZ das Berliner Festival Young Euro Classic. Arno Lücker legt für das VAN-Magazin zahlreiche Interpretationen von Schuberts D-Dur-Sonate D 850 nebeneinander. Jan Feddersen (taz) und Luzi Bernet (NZZ) schreiben Nachrufe auf den italienischen Sänger Toto Cutugno.

Besprochen werden ein Auftritt von Robbie Williams in Zürich (NZZ) und das neue Album "O Monolith" der britischen Postpunk-Band Squid (Jungle World).

Archiv: Musik