Efeu - Die Kulturrundschau

Knirschende Beschwörung der Ewigkeit

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02.09.2023. Das Publikum feiert Joana Mallwitz, die ihren Einstand als neue Chefdirigentin des Berliner Konzerthauses gegeben hat, berichtet der Tagesspiegel. Giorgos Lanthimos' feministischer Frankenstein-Variante "Poor Things" fliegen beim Filmfestival in Venedig alle Kritikerherzen zu. SZ und FAZ werden bei Dmitri Tcherniakovs düster-wuchtiger Oper "Aus einem Totenhaus" bei der Ruhrtriennale zu Gefängnisinsassen. Und der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch bezeugt in der NZZ die Blutlachen von Dnipro.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2023 finden Sie hier

Musik

Joana Mallwitz hat ihren Einstand als neue Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters absolviert. Programmatisch wurden erste Sinfonien von Prokofjew, Weill und Mahler gegeben. Das Publikum hat Mallwitz mit Begeisterungsstürmen willkommen geheißen, berichtet Ulrich Amling im Tagesspiegel. Sie "dirigiert komplett frei. Die Partituren leben in ihrem Kopf und lassen den Körper immer wieder auf dem Podium springen." Bei der "Symphonie classique" von Mallwitz Prokofjews "leuchtet das Orchester auf, spurtet los, legt sich in die Kurve. Bei Weills lange verschollener 'Berliner Symphonie' verwendet sie viel Hingabe für das von ihr geliebte sangliche Klangbild, wo härtere Schichtungen mehr Eindringlichkeit hätten bringen können. Mit Mahlers Erster dringt sie vor in ein Repertoire, bei dem bislang Iván Fischer Maßstäbe setzte am Konzerthaus. Die neue Chefdirigentin will gleich ran an die Brocken des sogenannten Kernrepertoires, und sie tut es mit Akribie und Beschwörung aller positiven Kräfte. Joana Mallwitz' Energie hebt die Leute aus den Sitzen."

Insbesondere Kurt Weill liegt Mallwitz am Herzen, schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ. "Weill, 1933 aus Nazi-Deutschland geflohen, musste seine erste Symphonie quasi verloren geben, er hat sie nie gehört, die Partitur war verschollen und tauchte erst 1957 auf. ... Der Dirigentin gelingt es, den massigen Klangmixturen von spätromantischen, expressionistischen Elementen und damals moderner 'Neuer Sachlichkeit' Brisanz zu verleihen. Und den von Weill in der Partitur vermerkten politisch-philosophischen Slogan wachzuhalten: Der Komponist hatte die Partitur mit einem Zitat des Dichters Johannes R. Becher, aus dessen Festspiel 'Arbeiter, Bauern, Soldaten - Der Aufbruch eines Volkes zu Gott', in eine quasi metaphysische Sphäre gehoben, die klotzigen Quartenakkorde des symphonischen Einstiegs klingen wie eine knirschende Beschwörung der Ewigkeit. Dass Joana Mallwitz die Musik Kurt Weills zum Zielpunkt ihrer ersten Berliner Saison mit dem Konzerthausorchester erklärt hat, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden."

Weitere Artikel: Hartmut Welscher spricht für das VAN-Magazin ausführlich mit dem Pianisten András Schiff. Außerdem spricht Jeffrey Arlo Brown für VAN mit dem irischen Komponisten Donnacha Dennehy. Ana Popescu berichtet online nachgereicht von der FAZ vom Bukarester Enescu-Festival, das nun vom Dirigenten Cristian Măcelaru geleitet wird. Für "Bilder und Zeiten" der FAZ hat sich Stephanie Jacobs zur Jazzwerkstatt in Peitz begeben. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Jazzmusiker John Zorn zum 70. Geburtstag, bei dessen Grindcore-Jazz-Projekt Painkiller er in den Neunzigern fast sein Gehör verloren hat (unter allerdings allerhöchstem Genuss).



Besprochen werden Feists Auftritt in Wien (Presse) und das Album "Paid Testimony" von Baba Stiltz, der sich vom Elektro-DJ zum LoFi-Singersongwriter gewandelt hat (taz).
Archiv: Musik

Film

Sie macht sich die Welt untertan: Emma Stone in "Poor Things" (Plakatmotiv)

Beim Filmfestival in Venedig gibt es mit Giorgos Lanthimos' "Poor Things" einen ersten Kritikerfavoriten. Die Frankenstein-Variante bedient sich sichtbar im Fundus der Horrorklassiker der Universal Studios, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, und zwar "für eine zeitgemäße und auf verschlungenen Nebenpfaden immer wieder verblüffend derangierte Parabel auf den freien (weiblichen) Willen in einer patriarchalen Gesellschaft." Ein Ereignis dabei: Emma Stone in der Rolle des weiblichen Monsters! Sie "beweist erneut, dass der beißend-trockene Humor des griechischen Regisseurs - mal skurril, mal viszeral in den Eingeweiden wühlend - ihr in den höheren Registern ihres Spiels die herrlichsten Gesichtsentgleisungen entlockt: ob beim Sex mit einer Gurke oder im Moment der Erkenntnis, dass im Leben Grausamkeit und Schönheit einander bedingen."

Auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh hatte Freude: "Eine Kindfrau, noch dazu eine ausgesprochen lüsterne - das ist natürlich eine Männerfantasie, die Lanthimos hier durchspielt, in gnadenloser Konsequenz, und die ist: Frauen haben ihren eigenen Willen. ... Wie Bella auf dem Weg ins Erwachsensein die ganze Welt zu begreifen lernt, das Zusammenspiel von Elend und Reichtum, von Macht und Ohnmacht, und wie sie sich alles untertan macht: Das ist fantastisch gespielt, und Lanthimos hat mit ungeheurem Feingefühl witzige Dialoge, rührende Bekenntnisse und surreale Eskapaden dosiert." NZZ-Kritiker Andreas Scheiner legt sich früh im Festival fest: "Aus dem Body-Horror erwacht verschmitzt eine feministische Erweckungsgeschichte, fantastisch opulent, unverschämt komisch. Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen wird Yorgos Lanthimos schwer zu schlagen sein."

Mehr vom Festival: Jan Küveler sah für die Welt Luc Bessons "Dogman", aber auch "Bastarden mit Mads Mikkelsen und einen neuen Kurzfilm von Wes Anderson. Jakob Thaller porträtiert im Standard den US-Schauspieler Adam Driver, der sich als einer der wenigen seiner streikenden Zunft in Venedig blicken lassen darf, weil sein Film "Ferrari" (unser Resümee) unabhängig entstanden ist. Außerdem besprechen Tim Caspar Boehme (taz) und Marian Wilhelm (Standard) den Film.

Abseits vom Lido: Hanns-Georg Rodek erinnert in der Welt an den Filmarchitekten Robert Herlth. Marc Zitzmann durchmisst für "Bilder und Zeiten" der FAZ das französische Banlieue-Kino. Elmar Krekeler erzählt in der WamS von dem Tag, den er mit dem Kameramann und Regisseur Ngo The Chau verbracht hat. Außerdem spricht Gunnar Meinhardt in der WamS mit dem hierzulande kaum bekannten deutschen Schauspieler Eric Braeden, der in den USA aber ein Seifenopern-Star ist. Besprochen werden Panah Panahis in Österreich startende, iranische Roadmovie-Komödie "Hit The Road" (Presse), die auf Netflix gezeigte Realverfilmung des japanischen Erfolgs-Manga "One Piece" (Tsp) und die Serie "Shelter" nach dem Roman von Harlan Coben (Zeit).
Archiv: Film

Kunst

Mountains and Pond (Berge und Teich) von Walter Spies, 1938. Foto: Sothebys.

In der NZZ erinnert Johannes Balve an den deutschrussischen Maler und Musiker Walter Spies, der vor einhundert Jahren nach Bali auswanderte. Dort wirkte er als künstlerisches Multitalent, so der Kritiker, leistete einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Gamelan-Musik und war auch an Friedrich Murnaus Film "Die Insel der Dämonen" beteiligt. Außerdem "übte er sich in allen Malstilen, malte zeitweise auch kubistisch. Zuletzt entwickelte er in Anlehnung an die traditionelle balinesische Kunst einen eigenen Stil, der eher behelfsmässig als magischer Realismus bezeichnet wird. Die Traumlandschaften der balinesischen Mythen und Tierfabeln verdichten sich in seinen Bildern zu einer Urwald-Morphologie, die den Menschen mit einschliesst. 'Die Landschaft und ihre Kinder' erzählt von der Liebe zur Natur und den in ihr einfach lebenden Menschen, die durch die Wälder ziehen. Die übereinanderliegenden Bildebenen sind wie filmische Montagen komponiert. Die 'Rehjagd' ist Teil eines kosmischen Geschehens, in dem es weder Opfer noch Täter gibt. Der Maler und Musiker Spies muss über synästhetische Fähigkeiten verfügt haben. Bilder waren für ihn auch musikalisch, und so beschrieb er sie mit musikalischen Termini, wie 'Scherzo für Blechinstrumente'."

Die taz-Autorin Eva-Christina Meier hat die Textilkünstlerin Paulina Brugnoli in Santiago de Chile getroffen. Die heute 83-jährige war Zeugin des gesellschaftlichen Aufbruchs 1970 in Chile - und des Putsches am 11. September 1973. Brugnoli erinnert in dem Porträt an die emblematische Ausstellung der "Unidad Popular Salvador Allendes" von 1972, an der sie beteiligt war. Die taz hat zum 50.Jahrestages des Putsches in Chile  eine Sonderausgabe sowie eine Artikelserie angekündigt.

Besprochen werden die Ausstellung "Tejido social. Arte textil y compromiso político" im Museo de la Solidaridad Salvador Allende in Santiago de Chile (tz), die Ausstellung "Chris Ware. Paper Life" im Cartoon-Museum in Basel (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Der polnisch-schlesische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat sich erneut an die Front des Kriegs in der Ukraine begeben und erzählt in einer großen, literarischen Reportage in der NZZ von seinen Erlebnissen. Kennengelernt hat er zum Teil verbitterte, in Trauer und Hass verkantete Soldaten, für die der Krieg, nach eigener Aussage, nie zu Ende sein wird. "Die seelischen Wunden werden nicht vergehen, verhindern wird es der heilige wohlbegründete Zorn. Dessen Schatten ich selbst empfinde - so unvergleichbar das sein mag, denn die Wunden sind nicht meine - beim Gedanken an Butscha und Irpin oder an die frische, glänzende Blutlache, die ich auf der Straße in Dnipro gesehen habe. Sie stammte von einem der vielen Zufallsopfer dieses Krieges, einem Passanten, der das Pech hatte, sich in der Nähe des Spitals zu befinden, in das die russische Rakete einschlug ... Ich wollte mir das mit eigenen Augen ansehen und sah es. Der Tote war gerade weggetragen worden, das Blut geblieben. Das sollte doch Aufgabe des Schriftstellers sein, sehen, Zeuge werden und Zeugnis ablegen. Ich weiss nicht, was man sonst tun könnte mit einer Pfütze auf dem Asphalt, so groß, dass der Wind das glänzende Blut in kleine, gleichmäßige Wellen legt, außer sie zu sehen und Zeugnis abzulegen."

Außerdem: Harald Staun wirft für die FAS einen Blick in die neue, bei Ullstein erscheinende Literaturzeitschrift Delfi. Die Schriftstellerin Teresa Präauer erzählt in der Literarischen Welt von ihrer Re-Lektüre Ingeborg Bachmanns. In "Bilder und Zeiten" dokumentiert die FAZ Barbara Honigmanns zur Auszeichnung mit der Goethemedaille der Stadt Frankfurt gehaltene Dankesrede. Lasha Bakradze sichtet für "Bilder und Zeiten" der FAZ Artefakte aus dem Georgischen Literaturmuseum, die sie tief in die Geschichte des Landes eintauchen lassen. Christian Zaschke erzählt in der SZ von seinem Besuch beim Schriftsteller David Sedaris. Juliane Liebert erklärt den SZ-Lesern das Wichtigste zum Manga-Boom und informiert unter anderem: "Manchmal sind atemberaubende intellektuelle Schönheit und triefende Schlüpfer in Manga nur zwei Seiten voneinander entfernt - wie im wirklichen Leben."

Besprochen werden unter anderem Charlotte Gneuß' Debütroman "Gittersee" (taz), die dem Comiczeichner Chris Ware gewidmete Schau "Paper Life" im Cartoonmuseum in Basel (taz), Colson Whiteheads "Die Regeln des Spiels" (Standard), Bov Bjergs "Der Vorweiner" (Welt), Don Mee Chois "DMZ Kolonie" (online nachgereicht von der FAZ), Monika Helfers "Die Jungfrau" (Tsp), Deniz Utlus "Vaters Meer" (Zeit), Richard Fords "Valentinstag" (taz), Sepp Malls "Ein Hund kam in die Küche" (Standard), Julian Volojs und Erez Zadoks Comic über Bill Finger, den wahren Schöpfer von Batman (Tsp), Victor Hugos "Dinge, die ich gesehen habe" (Literarische Welt) und Egon Bondys "Die ersten zehn Jahre" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

FAZ-Kritiker Niklas Maak fürchtet sich nicht so sehr davor, dass Künstliche Intelligenz Architekten ihren Platz streitig machen könnte. Ja, das Internet ist "voll von KI-generierten Phantasiearchitekturen", so Maak, anscheinend wurden in China auch schon ganze Gebäudekomplexe durch KI entworfen und gebaut. Dass sie allerdings das "komplexe Ineinandergreifen von körperlicher Erfahrung und historischem Wissen, technischer Kenntnis, individuellem Erleben und radikaler Kontingenz" nachahmen können, das für komplizierte Entwürfe und Stadtplanung vonnöten ist, bezweifelt Maak. Es gibt aber einen Bereich, indem KI durchaus nützlich sein kann: "Was die Beschleunigung der Baudurchführung, also das Abgleichen von Plänen, Entwurfsänderungen, Verzögerungen, neuen Vorschriften und damit auch die Kostensenkung betrifft, kann eine zentrale Künstliche Intelligenz ganz offensichtlich helfen, das Wirrwarr aus Kompetenzstreitigkeiten und Abstimmungsfehlern zu beenden, das bei immer komplexeren Großbaustellen entsteht und Projekte wie den Berliner Flughafen BER zum Desaster hat werden lassen. So besteht die vielfach beschworene 'Bedrohung' von Architekten und Ingenieuren durch Künstliche Intelligenz nicht darin, dass in Zukunft Roboter ohne Zutun von Menschen Häuser entwerfen und auf die Wiese würfeln, sondern eher in der schleichenden Übernahme und Koordination von immer mehr planerischen Leistungen."
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus "Aus einem Totenhaus", Ruhrtriennale 2023. Foto: Volker Beushausen. 


Zwischendurch bekommt SZ-Kritiker Egbert Tholl sogar Angst: Dmitri Tcherniakov hat Leoš Janáčeks Oper "Aus einem Totenhaus" bei der Ruhrtriennale dem Thema entsprechend wuchtig und düster inszeniert. Janáčeks verfasste das Libretto nach Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen seiner Zeit im sibirischen Straflager. Mit gigantischen Stahlgerüsten hat Tcherniakov hier einen Gefängnishof errichtet, so der Kritiker, aus dem es auch als Zuschauer kein Entkommen gibt: "Wählt man einen Platz im Hof, wird man Teil der Schar der Gefangenen, wird von Ordnern herumgescheucht, um Platz für diese wüste Meute zu machen. Alles wilde Kerle, abenteuerlich, nicht nur die vielen Solisten, auch die Mitglieder des Chors der Janáček-Oper in Brno. Dampfende, flackernde, teils irre Gestalten, die raufen, sich wirklich prügeln, unendlichen Unfug veranstalten, schreien, natürlich auch singen, einem sehr nahekommen."

Auch FAZ-Kritiker Patrick Bahners ist schwer beeindruckt. Die Kraft der Inszenierung rührt für ihn auch daher, dass in diesem wüsten Kosmos kein Funken Humanismus übrig bleibt: "Den Sängern des Chors kommen die Zuschauer unheimlich nahe. Aber auch dieses Schwelgen in physiognomischer Individualität ist kein Ausbruch aus dem Totenhaus, dessen Name sagt, dass der Mensch dort ganz und gar Material ist. Bei Tcherniakov bleibt der entlassene Häftling am Ende sitzen. Die erdrückende Wucht dieser Darstellung einer totalen Institution entsteht daraus, dass sie kein humanistisches Manifest sein will."

Weitere Artikel: Die Online-Petition gegen Anna Netrebkos Auftritt an der Staatsoper Berlin haben mittlerweile 30 000 Menschen unterzeichnet, berichtet Reinhard J. Brembeck in der SZ. In der FAZ resümiert Salomé Meier das Theaterspektakel Zürich.

Archiv: Bühne