Efeu - Die Kulturrundschau

Triebkräfte unseres biologischen Überlebens

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07.09.2023. Fast 400 internationale Filmemacher protestieren gegen Claudia Roths Rausschmiss des Berlinale-Leiters Carlo Chatrian. Der Tagesspiegel bewundert in Venedig den furchtlosen Widerstand der Frauen im Iran, die der Regisseur Ayat Najafi in seinem Dokumentarfilm "The Sun Will Rise" porträtiert. In der FAZ preist Francesca Melandri das Schweigen, das für unser Überleben so wichtig ist wie Hunger und Sex. Monopol spürt im gesteppten Satin von Anna Virnich in Köln das kribbelige Unbehagen an der Gegenwart. Und die Zeit lauscht dem Klang der Wangen von Meredith Monk.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2023 finden Sie hier

Film

Zack, das sitzt: Mittlerweile fast 400 namhafte Filmemacher aus aller Welt, darunter Martin Scorsese, Radu Jude, Maria Speth, Paul Schrader, Margarethe von Trotta und Christoph Hochhäusler kritisieren in einem offenen Brief Claudia Roth für ihren de facto Rausschmiss von Carlo Chatrian aus der Berlinale (hier und dort unsere Resümees). Sie werfen der Kulturstaatsministerin unprofessionelles Verhalten vor und fordern die umgehende Verlängerung von Chatrians Vertrag. "Der Brief bringt Claudia Roth in eine schwierige Situation", schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. "Sollte sie Chatrian nicht zurückholen, wird es nun extrem schwierig für sie, eine neue renommierte Leitung zu finden. Eine Kandidatin, hört man, habe schon vor dem Brief dankend abgesagt."

Fragmentierung der Körper: "The Sun Will Rise"

Zurück zum Filmfestival Venedig. Dort lief mit "The Sun Will Rise" ein unter klandestinen Bedingungen in Iran gedrehter Dokumentarfilm des in Berlin lebenden Regisseurs Ayat Najafi über eine Theaterproduktion in Teheran. Der Film wurde ohne Genehmigung gedreht und spart daher auch die Gesichter der Frauen aus. Zu sehen sind daher nur "Füße, Rücken, Hinterköpfe", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Die Frauen "proben ein Lysistrata-Stück und beziehen die Proteste auf den Straßen mit ein, auch deren gewaltsame Niederschlagung. Frauen, die sich den kriegführenden Männern verweigern: Das antike Aristophanes-Drama ist hochaktuell im Iran. ... Mit der zensurbedingten Fragmentierung der Körper lenkt die Kamera das Augenmerk auf die Körper der Freiheitskämpferinnen, auf ihre furchtlose Weigerung, sie zu verhüllen, und auf ihre Furcht vor den Folgen. Zugleich hinterfragt sie die eigene Position. Was lässt sich erzählen vom Unrecht, ohne die Opfer zu Schauwertzwecken auszubeuten? Wie lässt sich der Falle des Zuschauer-Tourismus entgehen? Was also vermag das Kino über die Solidarität aus sicherem Abstand hinaus?"

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden Agnieszka Hollands "Green Border" (taz, FR, SZ), Timm Krögers deutscher Wettbewerbsfilm "Die Theorie von Allem" (Zeit), David Finchers "The Killer" (NZZ), Roman Polanskis "The Palace" und Woody Allens "Chance de Coup" (FAZ) und Sofia Coppolas "Priscilla" (SZ).

Abseits vom Lido: Kamil Moll schreibt auf critic.de über deutsche Beziehungskomödien der Neunziger, die in Frankfurt in einer Retrospektive zu sehen waren. Deren Kuratoren Carolin Weidner und Felix Mende haben im Dlf Kultur über ihre Reihe gesprochen. Fritz Göttler schreibt in der SZ zum Tod des italienischen Filmemachers Giuliano Montaldo.

Besprochen werden Alexei Uchitels im Berliner Kino Arsenal gezeigter Dokuemntarfilm "Rok" über Rockmusik in den letzten Jahren der Sowjetunion (Perlentaucher), Kyle Edward Balls viraler Low-Budget-Horrorfilm "Skinamarink" (taz, Perlentaucher, critic.de), Katharina Mücksteins "Feminism WTF" (taz), Mary Harrons "Dalíland" über Salvador Dalí (Tsp) und die auf einem populären Manga basierende Netflixserie "One Piece" (Tsp).
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Kunst

Bild: Anna Virnich: Untitled #129, 2022. Thermacolon, stretch fabric, gouache on bed sheet, yarn on wooden frame.

Marcel Proust und Joris-Karl Huysmans kommen dem Monopol-Kritiker Oliver Koerner von Gustorf beim Betrachten der textilen Arbeiten von Anna Virnich in den Sinn, die derzeit in der Kölner Galerie Drei und im Skulpturenmuseum Marl ausgestellt sind. Es ist die gleiche "hysterische, dekadente Sensibilität und Nostalgie, das kribbelige Unbehagen an der Gegenwart", die Virnich in ihren Arbeiten materialisiert, erklärt er: "Die Werke in 'Mutti raucht wieder' sind ganz im Jetzt, so wie wir uns gerade fühlen, in unserem Kopf, unseren Körpern. (...) Virnich setzt eine Austernschale auf gesteppten Satin, auf Latex. Da ist ein Gefühl von Erregung in diesem Werk, der Hauch von psychologisch aufgeladener Indiskretion und Zwanglosigkeit. Virnich nutzt diese, um die eigentliche formale Strenge ihrer Arbeiten, ihre eigene künstlerische Distanz ganz auszuspielen, ohne dass es zu pathetisch oder betulich wird. Keine minimale Sensibilität in Endzeiten."

Weitere Artikel: In der SZ greift Alex Rühle einen vergangene Woche im Svensa Dagbladet erschienenen Text der Kunsthistorikerin Susanna Petterson auf, der auf eine Absurdität schwedischer Kulturpolitik hinweist: Zwar werden auch Schwedens Museen subventioniert, aber die Museumsgebäude gehören dem Staat oder städtischen Holdings - und die Mieten übersteigen inzwischen das Budget einiger Museen. Allen voran das Schwedische Nationalmuseum, dem laut Petterson, die das Haus bis Anfang des Jahres leitete, der Umzug droht. In der FAZ besucht Peter Kropmanns das wiedereröffnete Musée d'Ennery in Paris.

Die Zeit bringt heute ein großes Museums-Spezial mit Ausblick auf kommende Ausstellungen der Saison. Als "Sensation" wertet etwa Jens Balzer die im November startende Meredith-Monk-Werkschau im Münchner Haus der Kunst, die mit ihren Performances wahre Gesamtkunstwerke schafft. Schon früh beginnt sie, "ihre Stimme nicht zum Singen von Liedern zu nutzen, sondern sie ihrerseits als Material zu betrachten, als Instrument. Sie beginnt, die Möglichkeiten zu erkunden, die der Gebrauch des Atems, der Lippen, der Wangen bietet; und sie beginnt, mit dem ganzen Körper zu singen, mit einem Körper, der sich unablässig in Bewegung befindet: Gesang wird für sie zu einem Ausdruck der körperlichen Präsenz, und nur in dieser Präsenz, auf der Bühne, kommt ihr Gesang auch wahrhaft zu sich selbst. 1966 produziert sie ihre erste Performance, 16 Millimeter Earrings, darin verbindet sie Videobilder mit theatralischen Elementen, sie singt und rezitiert aus Wilhelm Reichs Studie über den Orgasmus und unterlegt das alles mit Tape-Loops, mit Tonbandschleifen aus Stimmen". Wir hören rein:



Außerdem: Der Schriftsteller Clemens J. Setz bereitet uns in einem Essay auf die Ausstellung "Glitch. Die Kunst der Störung" in der Münchner Pinakothek der Moderne vor. Hanno Rauterberg stößt Caspar David Friedrich vom Sockel: Er fand ihn nie "besonders wagemutig". Iris Radisch nimmt Abschied vom Pergamonmuseum. Alexander Cammann empfiehlt einen Besuch im Museum der bildenden Künste in Leipzig, um die Fotografin Evelyn Richter zu entdecken. Jörg Scheller freut sich, dass der Düsseldorfer Kunstpalast mit der Ausstellung "Tod und Teufel: Faszination des Horrors" Adornos Ästhetik widerspricht und zeigt: "Die Präsenz des Horrors in Kunst und Populärkultur, gerade auch die reißerische und überrissene, spielt eine psychosoziale Rolle, die niemand unterschätzen sollte." Und Friedrich von Borries denkt in Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt über die politische Macht von Architektur nach.
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Literatur

Die FAZ dokumentiert die Rede der italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Darin behauptet sie, "dass seit Erfindung der Sprache das Schweigen immer eine der prägendsten Kräfte für die Erfahrung unserer Spezies war. Ich behaupte, dass, seit wir Sprache erfunden haben, der Ultraschall des Schweigens fast gleichauf mit den beiden wichtigsten Triebkräften unseres biologischen Überlebens rangiert - Hunger und Sex - und daher mit unserer Geschichte. Es ist sogar möglich, die Entwicklung menschlicher Gesellschaften und Kulturen anhand des Umgangs jeder Generation mit dem Schweigen zu beschreiben, das ihr von ihrer jeweiligen Vorgängergeneration vererbt wurde."

Weitere Artikel: In seinem Kriegstagebuch aus Charkiw für die NZZ sorgt sich Sergei Gerasimow um die Teenager-Generation der Ukraine. Roman Bucheli sieht für die NZZ die Neubesetzung des Literaturclub im Schweizer Fernsehen. FR-Kritkerin Judith von Sternburg hat viel Freude an der Knobelei rund um die Eco-Fälschung "Carmen Nova", die aus den Achtzigern datiert und vor kurzem einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Der Schriftsteller Walter Moers verrät der Literarischen Welt online nachgereicht, welche Bücher ihn geprägt haben - ganz weit oben: Edgar Allan Poes "Arthur Gordon Pym". Mai-Charlott Heinze schlägt sich für die FAZ mit Hans Fallada durchs Thüringer Dickicht.

Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis "Das Alphabet bis S" (Tsp), Charlotte Gneuß' "Gittersee" (FR), Nele Pollatscheks "Kleine Probleme" (taz), Colson Whiteheads "Die Regeln des Spiels" (Welt), Bov Bjergs "Der Vorweiner" (online nachgereicht von der FAZ), Walter Moers' neuer Zamonien-Roman "Die Insel der Tausend Leuchttürme" (FAZ) Hannah Brinkmanns Comic über die Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Ernst Grube (Tsp) und Uwe Timms "Alle meine Geister" (SZ).
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Bühne

Bild: Matthias Horn

Rainer Werner Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra Kant" so beschwingt, fast humorvoll auf die Bühne zu bringen, das muss man erstmal schaffen, staunt Nachtkritikerin Andrea Heinz über Lilja Rupprechts Inszenierung am Wiener Akademietheater: Hauptdarstellerin Dörte Lyssewski ist das "Kraftzentrum. Ihre Petra von Kant oszilliert geschmeidig von souverän zu abgebrüht, von einer herrisch ihre Dienerin Marlene (Annamária Láng) herumkommandierenden Chefin zu einer unsicheren und abhängigen Künstlerin, die gefallen möchte. Nina Siewert ist als Karin Thimm der perfekte Gegenpol: Jung und aus zerrütteten Familienverhältnissen (der trinkende Vater hat die Mutter erstochen und sich dann erhängt), ist sie sprunghaft und leichtsinnig, lässt sich von der rasch und heftig verliebten Petra aushalten und kehrt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu ihrem Ehemann zurück."

"Die Figuren werden plastisch genug, doch ist mit ihnen nichts anzufangen", meint hingegen Margarete Affenzeller im Standard: "Die Inszenierung findet keinen Weg, für den Stoff einzustehen. Das Aussperren jeder Gegenwart hat eben seinen Preis. Alles wirkt wie ein Gruß aus den 1970ern, fehlt nur noch der Flokati."

Weitere Artikel: Die Zeit eröffnet ihr Feuilleton heute mit einem von Moritz von Uslar protokollierten Text, in dem Florentina Holzinger etwas widerwillig von einem "Eklat" erzählt, der sich vor einigen Wochen im ICE von Hamburg nach Berlin abgespielt hat: Holzinger und ihre Gruppe hatten einen Sitzplatz für eine Harfe reserviert, Mitreisenden protestierten im überfüllten Zug, es kam zur "Eskalation" mit einem Zugbegleiter, schließlich musste der Zug in Uelzen zwischenhalten und die Bundespolizei schritt ein. Ebenfalls in der Zeit liefert Christina Rietz Eindrücke vom Kunstfest Weimar. Und Peter Kümmel porträtiert den Regisseur Julien Gosselin, dessen Stück "Extinction", ein Mix aus Texten von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Bernhard die neue Spielzeit an der Berliner Volksbühne eröffnet.
Archiv: Bühne

Musik

Jan Brachmann erzählt in der FAZ von seiner Reise in die Schweiz zu Rachmaninows Villa, die nach einer langen Sanierungsphase nun dem Publikum offensteht (wenn auch nur nach Anmeldung und langer Warteliste). Außerdem hat er eine Ausstellung zu Rachmaninow in Luzern besucht, die einen guten Eindruck von der "fast manischen Massenwirkung von Rachmaninows Musik" bietet. "Sehenswert sind aber vor allem die Bauzeichnungen und Fotos vom Urzustand der Villa, die den kühnen Entwurf der ganzen Anlage zu Bewusstsein bringen. Das Foto von der kubistischen Dachterrasse mit der Sichtachse über den See zum Bergmassiv des Pilatus ist ein optisches Aha-Erlebnis. Man hat inzwischen mehrere wild gewachsene Bäume und Sträucher entfernt, um diese Sichtverhältnisse auf dem Anwesen wiederherzustellen. Während sich Alexander Krichel drinnen am Flügel einspielt und den Klang von Glockenbronze in den Basstönen der Étude-tableau es-Moll op. 39 Nr. 5 wachruft oder in der transparenten Polyrhythmik der Étude-tableau a-Moll op. 39 Nr. 2 ein Bild von sich überlagernden Linien auf bewegter Wasseroberfläche aufscheinen lässt, schauen wir von der Gartenterrasse der Villa wieder ungehindert zum Pilatus."

Weitere Artikel: Gina Thomas blickt in der FAZ staunend auf die Preise, die bei der Versteigerung von Freddy Mercurys Nachlass erzielt wurden. Der Niedergang von Fono Forum, der nun zur Einstellung des Musikmagazins führte, war durchaus hausgemacht, schreibt Jürgen Kesting in der FAZ. Frederik Hanssen fragt sich im Tagesspiegel, ab wann im Konzertsaal Ruhe einkehren sollte. Harrry Nutt schreibt in der FR zum Tod von Gary Wright. Christian Schachinger (Standard), Thomas Kramar (Presse), Bernd Matthies (Tsp) und Willi Winkler (SZ) hören den neuen Song "Angry" der Rolling Stones, der so klingt, wie die Stones eben klingen.



Besprochen werden das von Andris Nelsons dirigierte Konzert des Boston Symphony Orchestra beim Musikfest Berlin (Tsp) und das neue Album von Róisín Murphy, die es laut Standard-Kritiker Christian Schachinger "eher auf Sitzdisco anlegt". Wir hören rein:

Archiv: Musik