Efeu - Die Kulturrundschau

Geist - wie geisterreich spuken

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2023. Die SZ ist wie elektrisiert von Rainald Goetz Stück "Baracke", das bei der Liebe beginnt und beim NSU-Terror endet. Der Filmemacher Christoffer Guldbrandsen findet sich mit seinem Porträtfilm "A Storm Foretold" über den US-Politikberater Roger Stone in einem amerikanischen Albtraum wieder, berichtet der Tages-Anzeiger. Die FAZ ist fasziniert von chinesischer Kunst aus der Gegend Jiangnan. Die NZZ blickt auf den postumen Erfolg der im vergangenen Jahr überraschend verstorbenen Jazzmusikerin Jaimie Branch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.09.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Baracke" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Thomas Aurin.

SZ-Kritikerin Christine Dössel ist wie elektrisiert bei der Uraufführung von Rainald Goetz Stück "Baracke" am Deutschen Theater Berlin. Das Stück beginnt bei der Liebe, so Dössel, und endet beim Terror der NSU: "Sein verkapptes Hohelied der Liebe, das zum Abgesang auf Ehe und Familie wird, birgt - ja, gebiert geradezu - den rechtsextremen NSU-Terror, den das Stück in ziemlich eindeutigen Anspielungen auf der Zielscheibe hat, letztlich aber nur als Pars pro Toto für die von Hass geprägte Stimmungslage im Land." Vor allem Claudia Bossards Inszenierung macht das Stück in einer "Mischung aus Frechheit und nicht übertriebener Ehrfurcht" zu einem Ereignis, so die Kritikerin: Sie "stellt Goetz' Text kurzerhand ins Museum - in ein 'Museum des 21. Jahrhunderts', wie es einmal im Stück vorkommt - und lässt ihn von dort aus so geist- wie geisterreich spuken. Aber sie blödelt auch damit, macht ihn nicht bedeutungsvoller. Wenn Goetz unter der Überschrift 'Roman deines Lebens' einen Kassenbon von Rewe auflistet, lässt Bossard ihre Schauspieler dazu als lebende Schokoriegel auftanzen: als Snickers, Kitkat und Twix. Die sehr eigenständige Fantasie, mit der Bossard das umsetzt, ist erfrischend und immer wieder überraschend."

Auch taz-kritiker Michael Wolf hat eine gelungene Inszenierung gesehen: "Das Private ist bei Goetz also nicht einfach nur politisch, es ist ein Grund für fortwährende Panik. Man muss diesem Befund nicht folgen, um an diesem Abend sehr produktiv ins Denken zu kommen." Weitere Besprechungen auf Zeit online und im Tagesspiegel.

Weiteres: Tagesspiegel-Kritikerin Tessa Szyszkowitz war bei Marina Abramovićs Solo-Show an der Royal Academy of Arts in London: "In der Retrospektive in den weiten Hallen...sind auch die Skulpturen und Gemälde der ursprünglich als Malerin ausgebildeten Künstlerin ausgestellt. Was aber am stärksten, ist sie selbst, Marina Abramović. Wie sie auf einem Berg blutiger Rindsknochen sitzt und diese reinigt, während sie Lieder aus ihrer Kindheit singt."

Besprochen werden Ersan Mondtags Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" am Berliner Ensemble (SZ, nachtkritik, tagesspiegel), Max Lindemanns Inszenierung von Sibylle Bergs Stück "Es kann doch nur noch besser werden" ebenfalls am BE (tagesspiegel), Constanza Macras Tanzstück "The Visitors" an der Volksbühne Berlin (tagesspiegel), Caterina Panti Liberovicis Inszenierung von Gaetano Donizettis Oper "Don Pasquale" an der Oper Frankfurt (FR), Christina Tscharyiskis Inszenierung von Anja Hillings Stück "Mascha K. (Tourist Status)" mit Texten von Mascha Kaléko am Schauspiel Frankfurt (FR), Willy Pramls Inszenierung des von und mit Geflüchteten konzipierten Stücks "zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT?" am Theater Willy Praml (FR), Dagmar Schlingmanns Inszenierung von Nino Haratischwilis Stück "Das mangelnde Licht" am Staatstheater Braunschweig (nachtkritik), Niklas Ritters Inszenierung von "Atlas streikt" nach dem Roman "Atlas Shrugged" von Ayn Rand am Voralberger Landestheater (nachtkritik), Moritz Nikolaus Kochs Inszenierung von Dirk Kurbjuweits Stück "Die Ministerin" am Landestheater Schleswig-Holstein (nachtkritik) und Kirill Serebrennikovs Inszenierung von Wagners Oper "Lohengrin" an der Bastille Oper in Paris (nmz).
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Musik

Ueli Bernays führt in der NZZ durch Leben und Werk der im vergangenen Jahr mit 39 verstorbenen Jazzerin Jaimie Branch, deren postumes Album "Fly Or die Fly Or die Fly Or die ((World War))" genreübergreifend gefeiert wird (mehr dazu bereits hier). Sie "brillierte als Trompeterin mit sonorer Kraft und packenden Melodien" und entsprach dabei "nie den Klischees der Jazztradition. Und wo im Jazz unterdessen akademische Bravour und populäre Gediegenheit den Ton angeben, setzte sich Branch wie eine Erscheinung aus wilderen musikalischen Bewegungen in Szene. ... Ihre künstlerische Eigenständigkeit wird dabei durch den Gesang noch um eine wesentliche Facette erweitert. Während sie als Trompeterin eine gewisse Virtuosität entwickelt hat und mit ihrer Band ein raffiniertes Zusammenspiel pflegte, setzte sie mit ihrem vokalen Dilettantismus einen Kontrast. Ihre Stimme klingt stets ehrlich und kämpferisch." Hier ein Live-Auftritt von 2018:



Außerdem: "Punk selbst hat sich als kultursoziologisches Thema etabliert", staunt Peter Richter in der SZ nach dem 1. Berliner Punk-Symposium (mehr dazu bereits hier). Patrick Bahners von der FAZ meditiert beim Beethovenfest Bonn mit Haydn über Jesu' sieben letzte Ausrufe am Kreuz.

Besprochen werden das auf Arte gezeigte Porträt "Der Komponist und sein Himmel" über Pēteris Vasks (FAZ), ein von Herbert Blomstedt dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), Joshs Album "Reparatur" (Standard) sowie Joshua Redmans und Gabrielle Cavassas Jazzalbum "Where Are We" (SZ-Kritiker Andrian Kreye bewundert "die Reinheit der Form").

Archiv: Musik

Literatur

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Beate Hausbichler spricht für den Standard mit Eva Reisinger über deren Debütroman "Männer töten", in dem die Frauen eines österreichischen Ortes den Spieß umdrehen und die Männer ermorden, wenn sie nicht spuren (was zumindest von Ferne an Zbynek Brynychs Filmgroteske "Die Weibchen" von 1970 erinnert). Zuvor war sie als Journalistin tätig und zweifelte immer mehr an ihrem Beruf: "Es gab dieses Erlebnis im Jänner 2019, als allein in diesem Monat sechs Frauen ermordet wurden. In diesem Jahr wurde ein trauriger Höchststand von 39 Frauenmorden erreicht. ... Ich überlegte, wie man die Menschen noch dazu bringt, etwas über Gewalt gegen Frauen zu lesen. Ich schrieb dann, wie brutal die Frauen ermordet wurden. Später dachte ich, dass es eigentlich erbärmlich ist, die Gewalt genauer beschreiben zu müssen, damit sich jemand noch dafür interessiert. Auch die Forderungen nach mehr Ressourcen oder mehr Bildung - es sind immer dieselben. Damals habe ich das erste Mal gehadert mit meinem journalistischen Schreiben und der Frage, ob dieses auch nur irgendeine Auswirkung hat, und habe mich gefragt, wie ich gerne darüber schreiben würde - und fand die Idee interessant, die Machtrollen einmal umdrehen zu können."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erklärt die Schriftstellerin Olga Grjasnowa, warum sie Berlin zugunsten von Wien den Rücken gekehrt hat: Keine Wohnungen für Familien unter 4000 Euro, aber dafür Fäkalien in der S-Bahn. Maxim Biller erzählt in der Zeit von seinem Treffen mit Katrin Bennhold, die aus Osnabrück in die weite Welt zog und nun Redakteurin bei der New York Times ist. Nach einem Twitterstreit zwischen Haruki Murakami und Don Winslow darüber, ob man jenseits der 40 als Schriftsteller überhaupt noch etwas tauge, holt sich Welt-Kritiker Matthias Heine bei Gottfried Benn Ratschläge fürs Alter. Der Schriftsteller Kurt Leutgeb verneigt sich im Standard mit einem Essay vor seinem Kollegen W. H. Auden, der vor 50 Jahren gestorben ist. Arnon Grünberg liest für die NZZ gemeinsam verfasste Reisegeschichten von Max Brod und Franz Kafka und hat viel Vergnügen daran, "wie ulkig, ab und zu auch spitzbübisch, dann wieder äußerst seriös die beiden übereinander, über Mitreisende und auch über die Landschaft ('schöne herrschaftliche Villen längs des Englischen Gartens') plaudern". Jakob Thaller spricht im Standard mit dem früheren Austropopper Joesi Prokopetz, der nun unter die Krimi-Autoren gegangen ist.

Besprochen werden unter anderem Charles-Ferdinand Célines Romanfragment "Krieg" (NZZ), Brigitte Girauds "Schnell leben" (Intellectures), Goran Vojnovićs "18 Kilometer bis Ljubljana" (taz), Valery Tscheplanowas "Das Pferd im Brunnen" (Tsp), Roberto Savianos und Asaf Hanukas Comic "'I'm Still Alive' Im Fadenkreuz der Mafia" (Standard), Matz' und Jörg Mailliets Comicadaption von Olivier Guez' Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" (Tsp) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Martin Schäubles "Alle Farben Grau" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Florian Bissig über Samuel Taylor Coleridges "An den Verfasser der Räuber":

"Schiller! ich hätte sterben wolln zur Stund,
Hätt ich den Schrei durch Schauernacht gejagt ..."
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Kunst

Portraits of the Qianlong Emperor and His Twelve Consorts (detail), 1736-70s. Giuseppe Castiglione (Italian, 1688-1766) and others (Chinese). Handscroll; ink and color on silk; painting: 53 x 688.3 cm. The Cleveland Museum of Art, John L. Severance Fund, 1969.31

FAZ
-Kritiker Lothar Ledderose ist fasziniert von den Werken chinesischer Kunst, die er in der Ausstellung "China's Southern Paradise: Treasures from the Lower Yangzi Delta" im Cleveland Museum in Ohio sieht. Die These der Ausstellung lautet, so der Kritiker, dass vor allem die Gegend Jiangnan, südlich des Jangtse-Flusses, "über Jahrhunderte hinweg die Vorstellung von dem prägte", was chinesische Kunst ist: "Wesentlich für die Konzentration auf den Süden war die Kunstpolitik der chinesischen Kaiser. So ist eines der spektakulärsten Stücke der Ausstellung eine bisher kaum je gezeigte, 22 Meter lange Querrolle von 1698 aus einer Serie von zwölf solcher Rollen, die die Südreise des Kaisers Kangxi (1661-1722) illustrieren. Kangxi, einer der bedeutendsten Herrscher, die China je hatte, war ein Kaiser der fremdländischen Mandschu-Dynastie, die China 1644 erobert hatte. Er unternahm diese sogenannte Inspektionsreise, um die politische und kulturelle Integration des Südens, wo der Widerstand gegen die Mandschu besonders erbittert gewesen war, zu vollenden. Das Detail zeigt den Kaiser, noch in seinem Boot sitzend, das gerade in Suzhou anlandet. Er trägt einen einfachen roten runden Hut, wie auch all die vielen Untertanen, die zur Begrüßung gekommen sind. Der rote Teppich ist ausgerollt, gesäumt von der Leibwache. Die Männer halten Schwerter, Laternen und ein Weihrauchfass. Der Schimmel steht bereit. Alle Figuren sind detailliert gemalt, manche wohl auch mit porträthaften Zügen. Im Ganzen sind um die tausend Menschen auf dieser Rolle zu sehen."

Der russische Oligarch Roman Abramowitsch hat es durch die Überschreibung eines Großteils seiner riesigen Kunstkollektion an seine Ex-Frau Dascha Schukowa erfolgreich geschafft, sich vor internationalen Sanktionen zu schützen, berichtet Ursula Scheer in der FAZ. Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind unerfreulich, so Scheer: "Das nach der russischen Invasion geschaffene internationale Sanktionssystem ist voller Schlupflöcher. Und obendrein gibt es genügend Länder, in denen es sowieso nicht gilt."

Weiteres: FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier besucht den Südtiroler Bildhauer Lois Anvidalfarei, der gleichzeitig auch Bergbauer ist. Im Tagesspiegel-Interview unterhält sich Stefanie Heckmann, Kuratorin der Ausstellung "Edvard Munch. Zauber des Nordens" in der Berlinischen Galerie, mit Uwe Badelt. In der FR schreibt Ingeborg Ruthe einen Nachruf auf den Fotografen Erwin Olaf K. Derya Türkmen besucht für die taz die Künstlerin Mila Panic in ihrem Atelier. FAZ-Kritiker Stefan Trinks gratuliert dem Kunsthistoriker Christoph Luitpold Frommel zum Neunzigsten.

Besprochen wird die Ausstellung "Channeling" am Museum für Moderne Kunst Frankfurt (FR).
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Film

Ein zu allem entschlossener Wadenbeißer: Roger Stone in "A Storm Foretold"

Drei Jahre lang hat der dänische Filmemacher Christoffer Guldbrandsen den US-Politberater Roger Stone mit der Kamera begleitet. Stone gilt als Bluthund und Wadenbeißer, der schon Nixon, Reagan und natürlich auch Trump zur Seite stand und dabei auch nicht davor zurückschreckt, Verschwörungstheorien zu streuen. Guldbrandsen selbst findet sich nun mit seinem Film "A Storm Foretold", der jetzt beim Zurich Film Festival zu sehen ist, in einer wahren Groteske wieder, berichten Sandro Benini und Pascal Blum im Tages-Anzeiger: "Stone behauptet, der Dokumentarfilmer habe mithilfe künstlicher Intelligenz eine Fake-Dokumentation fabriziert. Er droht mit einer 25-Millionen-Klage. Was man im Film sehe, habe gar nicht stattgefunden. Außerdem arbeite der Filmemacher für den dänischen Geheimdienst." Vielleicht sind solche verzweifelten Gegenmanöver auch kein Wunder, denn in einer Szene etwa fordert Stone, "in allen Gliedstaaten mit angeblichen Hinweisen auf Betrügereien Wahlleute aufzustellen, die bei der Ratifizierung das Ergebnis missachten und für Trump stimmen würden." In einer anderen erzählt er, "wie man Donald Trump etwas in den Mund legt. Man müsse ihn loben, in einer Rede einen so brillanten Satz gesagt zu haben, dass das Publikum in Jubel ausgebrochen sei. Ob dies zutreffe oder nicht, sei völlig egal. Es komme darauf an, Trump von seiner Genialität zu überzeugen - so werde er den Satz in einer nächsten Rede tatsächlich verwenden."

Außerdem: Die Agenturen melden eine "vorläufige Einigung" zwischen Hollywood und den Drehbuchautoren, die seit fünf Monaten streiken. Allerdings gibt es derzeit noch keine Anzeichen dafür, dass sich Hollywood und die weiterhin streikenden Schauspieler sich demnächst ebenfalls einigen. Besprochen wird Nicolas Philiberts berlinale-prämierter Dokumentarfilm "Auf der Adamant" über ein psychiatrisches Zentrum in Paris auf einem Boot ("eine Feier der Gemeinschaft der Individualität" beobachtet tazler Fabian Tietke).
Archiv: Film