Efeu - Die Kulturrundschau

Die Formen unserer Fantasie

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25.10.2023. Der Tagesspiegel wirft einen vielleicht letzten Blick auf die marmorweiße elegante spätsowjetische Architektur in Taschkent, die vom Abriss bedroht ist. In Dezeen klagt der Architekturprofessor Aaron Betsky über die neue Langeweile der niederländischen Architektur, findet dann aber doch ein paar eindrucksvolle neue Blüten. Die FAZ bewundert in Timm Krögers Film "Die Theorie von Allem" elegante Schwünge im Inneren der Schweizer Berge. Der Antizionismus der Clubszene ist immer stärker antisemitisch grundiert, meint in der SZ der Antisemitismusforscher Jakob Baier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.10.2023 finden Sie hier

Architektur

In Usbekistans Hauptstadt Taschkent droht der spätsowjetischen Architektur der Abriss, lernt Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz von einer Konferenz im Staatlichen Kunstmuseum der Hauptstadt. Und wäre das nicht schade, denkt er sich. Taschkent war nämlich "seiner Lage und historischen Bedeutung wegen das 'Schaufenster des (sowjetischen) Orients'. Hier wurde mehr und freier als anderenorts experimentiert, durfte von Norm- wie von Stilvorgaben abgewichen werden. Das haben die Architekten zu nutzen gewusst, und so ist in Taschkent ein erstaunlich kohärentes Ensemble von Bauten entstanden, die diese relative Freiheit widerspiegeln, doch ihrer repräsentativen Aufgabe als Botschafter einer 'modernen Sowjetunion' verlustig gegangen sind und oft nicht mehr angemessen unterhalten werden. Das Kunstmuseum als Veranstaltungsort der Konferenz wie der zugehörigen Ausstellung zur Taschkent-Moderne ist selbst ein Bauwerk dieser Epoche - und ein Beispiel der Gefährdung." Außen notdürftig und billig renoviert, "im Inneren jedoch zeigt der Bau mit seinem quadratischen, mit umlaufenden Galerien versehenen Lichthof genau die Qualität einer neuen Leichtigkeit. Unterstrichen wird die Verbindung von Repräsentativität und Eleganz in vielen Bauten durch ebenso helle wie wertvolle Materialien, gerne durch weißen Marmor, der in der Breschnew-Zeit offenbar in großen Mengen zur Verfügung stand". (Einige schöne Beispiele finden Sie hier)

Saudi-Arabien plant ein gigantisches Architekturprojekt, "The Line", eine Stadt, die 170 Kilometer lang sein soll und in die das Königreich ihr ganzes aus schmutzigen Energien gewonnenes Geld stecken will, um eine blitzsaubere Zukunftsvision zu produzieren. Die Sky-Dokumentation "The Line - Saudi Arabia's City of the Future in Neom" feiert das Projekt - und gibt laut der Architekturprofessorin Dana Cuff, die sich den Film für Dezeen angeguckt hat, unfreiwillig ein ziemlich trübes Bild von der Profession: "Wenn all das saudische Geld auf einen Berufsstand trifft, der nach vielen Maßstäben immer ärmer wird, sind selbst die renommiertesten Vertreter der Branche Opportunisten. Was wir sehen, ist ein Geiselvideo, bei dem die Talking Heads vom Stockholm-Syndrom befallen zu sein scheinen. Jegliche Diskussion über die Kontroverse im Zusammenhang mit dem Projekt, einschließlich angeblicher Todesurteile für Demonstranten, die von der UNO angeprangert wurden, fehlt auffallend."

Ebenfalls in Dezeen klagt der Architekturprofessor Aaron Betsky, dass niederländische Architektur nach Jahrzehnten der Blüte langweilig geworden sei, lauter Boxen mit Verzierungen. Und dann fallen ihm doch ein paar Gegenbeispiele ein, auf die man in Deutschland nur neidisch sein könnte: "Das soll nicht heißen, dass die Arbeit einer ganzen Reihe jüngerer Büros - von den sorgfältig ausgearbeiteten Fassaden und Renovierungen von Marjolein van Eig über die zurückhaltenden öffentlichen Gebäude und Wohnbauten von Happel Cornelisse Verhoeven bis hin zum großzügigen Minimalismus von Maarten van Kesteren - nicht verdienstvoll ist. Diese Architektur arbeitet mit den niederländischen Traditionen und reagiert auf sie, und sie versucht, sich in einem Gefühl der Zurückhaltung zu erden, das vielleicht durch das alte niederländische Sprichwort veranschaulicht wird: 'Sei normal, dann bist du schon seltsam genug'."

Besprochen wird eine Ausstellung über den Wohnkomplex Leipziger Straße im Mitte-Museum Berlin (BlZ).
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Kunst

Besprochen werden Susanna Fanzuns Filmdoku "I Giacometti" (NZZ), Augmented Reality im Tiergarten (Welt), sowie die Ausstellungen "In anderen Räumen" und "WangShui. Toleranzfenster" im Münchner Haus der Kunst (Tsp), "Bruno Pélassy and the Order of the Starfish" im Berliner Haus am Waldsee (Tsp), "Amedeo Modigliani. Un peintre et son marchand" im Pariser Musée de l'Orangerie (NZZ) und Victor Man im Frankfurter Städel (FR).
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Stichwörter: Modigliani, Amedeo

Film

Die Filmemacherin Jutta Brückner beklagt in einem Einwurf im Filmdienst die Verengung von Möglichkeiten im Hinblick auf Filmförderung und Digitalisierung: Während der US-Blockbuster das Kino unter sich erdrückt, begünstigt die Filmförderung das Mittelmaß und die Fernsehsender bestellen ihrerseits am liebsten konfektionierte Ware. All dies "bestimmt die Formen unserer Fantasie". Doch "für die unterschiedlichen Filme, die wir brauchen, gibt es keine einheitlichen Qualitätskriterien. Qualität ist nicht die Erfüllung einer Summe von Regeln. Es ist die Erfüllung dessen, was eine Geschichte in ihrer Form leisten will. Die Kriterien für das, was ein guter Film ist oder sein soll, sind absolut vielfältig. Kriterien müssen sein, denn sie sind die Grundlagen für die Geldvergabe. Der europäische Film (...) hat große Erfahrung damit, Geschichten jenseits der bekannten Formate zu erzählen. Vieles von der Freiheit und Kühnheit, in der man in den 1970er- und 1980er-Jahren hier arbeiten konnte, ist verloren gegangen." Doch "zu glauben, dass das Neue immer bei der Jugend zu finden ist, verführt zu falschen Aktualitäten. Wenn es nur noch Forderungen nach 'Inklusion, Diversität und Queerness' gibt, wird das, was unsere Lebens- und Wahrnehmungsweisen bereichern sollte, wieder zur Verengung. ... Bevor wir uns also vollends in den Weltraum beamen, sollten wir einen Blick zurückwerfen und recyclen, was in der Geschichte des Films alles schon möglich war."

Neue Dimensionen: "Die Theorie von Allem"

Vielleicht ist es ja Timm Krögers Spielfilm "Die Theorie von Allem", der dem hiesigen Film einen Imaginationsschub verschafft? Laut FAZ-Kritiker Bert Rebhandl tun sich in diesem paranoisch erzähltem Schwarzweiß-Noir über skifahrende Physiker "für den deutschen Film (...) überraschende neue Dimensionen auf. So lustvoll hat schon lange niemand mit Genres gespielt, so offensiv wie bei Kröger wird auch nur noch selten das 'klassische' Kino der Vierziger- und Fünfzigerjahre aufgerufen." Kröger versteht das Kino "nicht als ein Medium, in dem man sich spielerisch verlieren möchte, sondern in dem man Tiefenbohrungen in die Geschichte vorantreiben kann. In 'Die Theorie von Allem' führt ein Schacht weit in das Innere der Schweizer Berge. Unter dem Schnee, unter den Felsen, wartet dann allerdings keine Lösung - einen Punkt Alpha oder Omega darf man nicht erwarten. Wohl aber höchst elegante Schwünge zwischen diesen Polen."

Weitere Artikel: Sight & Sound spricht episch (aber vielleicht auch ein bisschen uneditiert) mit Martin Scorsese über dessen neuen Film "Killers of the Flower Moon" (unsere Kritik). Christiane Peitz wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Berliner Festivals FrauenWelten. Standard-Kritiker Marian Wilhelm rät dem Wiener Kinopublikum zum Besuch der Filmreihe "Keine Angst" über österreichisches Paranoiakino aus den Achtzigern. Frédéric Jaeger berichtet auf critic.de vom Drehbuchworkshop "Less Is More" in der Bretagne.

Besprochen werden Jean-Pierre und Luc Dardennes Geflüchtetendrama "Tori & Lokita" (taz, SZ), Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" (FD, NZZ), Yvonne & Wolfgang Andräs Dokumentarfilm "Arena 196" über den Bundestagswahlkampf 2021 in Südthüringen (taz), Mike Flannagans Netflix-Serie "Der Untergang des Hauses Usher" (FR), Wim Wenders' Porträtfilm "Das Rauschen der Zeit" über Anselm Kiefer (Standard), die neue Staffel von David Attenboroughs "Planet Earth" (TA), David Finchers "The Killer" (SZ-Kritiker Tobias Kniebe gähnt trotz Finchers "elegantem Inszenierungsstil" angesichts "der Leere im Herzen des ganzen Unternehmens") und die ZDF-Serie "Füxe" über Studentenverbindungen (NZZ).
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Bühne

Sabine Leucht schreibt in der nachtkritik zur Eröffnung des Münchner "Spielart"-Festivals, in der SZ berichtet Egbert Tholl. Die italienische Tänzerin Alessandra Ferri wird ab 2025 Ballettdirektorin des Wiener Staatsballetts, melden FAZ und SZ. Maryam Abu Khaled, Ensemble-Mitglied des Berliner Gorki-Theaters, hat dem Gorki auf Instagram "Einseitigkeit" wegen seiner Israel-Solidarität vorgeworfen, berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden "Das 13. Jahr" der Theatergruppe Signa in Hamburg (SZ) und Christian Spucks bisher viel gelobte Choreografie "Madame Bovary" für das Staatsballett Berlin (die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster jedoch ziemlich kalt ließ).
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Literatur

Im Tagesspiegel reist Gerrit Bartels in Prousts "Recherche" nach Versailles. Hannah Lühmann schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Schriftsteller und Youtuber Gunnar Kaiser.

Besprochen werden unter anderem Inès Bayards "Steglitz" (Standard), Alida Bremers "Tesla oder die Vollendung der Kreise" (FR), Andreas Maletas "Das Blaue Klavier" (Standard), Brigitte Girauds "Schnell leben" (Tsp), Jörg Magenaus "Liebe und Revolution" (FAZ), Tine Melzers "Alpha Bravo Charlie" (NZZ) und Stephan Lohses "Das Summen unter der Haut" (SZ).
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Stichwörter: Tesla

Musik

Jakob Baier beobachtet bereits seit einigen Jahren "eine stetige Normalisierung des Antizionismus in subkulturellen Räumen", sagt der Antisemitismusforscher gegenüber Juliane Liebert im SZ-Gespräch über das brüllende Schweigen vieler Clubs zu dem antisemitischen Massaker, das die Hamas auf einem Technofestival in Israel angerichtet hat: "Das heißt, wir haben es momentan nicht mit einem grundlegend neuen Phänomen zu tun. Es tritt dieser Tage nur verstärkt an die Oberfläche und ist immer deutlicher antisemitisch grundiert. ... Die BDS-Bewegung und die mit ihr assoziierten Künstlerinnen, Künstler und Kollektive haben es in den vergangenen Jahren geschafft, weitere Künstlerinnen und Künstler für sich zu gewinnen und andere einzuschüchtern. ... Bislang traf es vor allem DJs, die in Israel auftraten oder dies planten. Aber auch israelische DJs, die außerhalb Israels performen, geraten zusehends ins Visier - und zwar unabhängig von ihrer politischen Haltung. Es kam in den vergangenen Jahren bereits zur Absage von Auftritten israelischer DJs, weil antizionistische Akteure die Clubs unter Druck setzten und so eine Absage erreichten. Israelische DJs halten sich mit öffentlichen Äußerungen darüber zurück - auch weil sie Angst vor Nachahmern haben."

Bei den Donaueschinger Musiktagen "lagen wie immer Spannung und Langeweile dicht nebeneinander", resümiert Max Nyffeler in der FAZ den ersten Festivaljahrgang unter der neuen Leiterin Lydia Rilling. "Als besonders anregend erwies sich einmal mehr die Verbindung von Wort und Musik", so etwa ein Klangessay "voller Widerhaken" von Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe: "Künstlerische Selbstreflexion und Kritik am männlich dominierten Musikbetrieb mischen sich darin mit grundsätzlichen ästhetischen Fragen: Was kann das Wort, was kann die Musik uns mitteilen? Was ist stärker, Singen oder Reden? Als 'das doppelt eigensinnige Kind, das auf die Pauke der Gegenwart haut', zieht die Komponistin alle Register, lässt mit dem Ensemble Ascolta ihre polystilistischen Fantasien von der Leine und Salome Kammer als verrückte Performerin in Protestschreie ausbrechen. Ein wirrer Knäuel von Problemen und Einfällen, unterhaltsam, gedankenscharf und zuweilen auch etwas überladen. Als Notausgang aus dem Irrgarten der Paradoxien bietet sich die Selbstironie an." Bei BR Klassik sprachen Hoppe und ter Schiphorst über ihre Arbeit, die der SWR am 2. November überträgt.

Weitere Artikel: Martin Zips erzählt in der SZ von seinem Besuch bei dem legendären Filmkomponisten Vladimir Cosma in Paris. Die FR plauscht mit Glen Hansard. Besprochen werden ein Doppelalbum von Fabian Dudeks Sextett La Campagne (FR), ein Konzert des Klangforums Wien (Standard), ein Berliner Konzert des ensemble unitedberlin zu Ehren von György Ligeti (NMZ), Don Letts' Dub-Album "Outta Sync" (taz), das neue Album "Scarlet" der Rapperin Doja Cat (Standard) und Simon Moulliers Vibraphon-Album "Inception" (Tsp).

Archiv: Musik