Efeu - Die Kulturrundschau

Für das Auge wäre das zu viel

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30.10.2023. Im Kino kehrt der Krieg in der Ukraine wieder in die Aufmerksamkeit zurück: Zeit-Online hat beim Ukrainian Film Festival in Berlin erschütternde Dokumentarfilme gesehen. Die NDR-Doku "Deutsche Schuld" über die Kolonialzeit in Namibia ruft viel Protest hervor, berichtet die taz. Die FAZ schmilzt dahin, wenn Keith Jarrett Bach spielt: Was für eine behutsame Anschlagskultur! Außerdem entdeckt sie auf der Fotobuch-Messe in Bristol wahre Schätze. Die Nachtkritik reist mit Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Heiner Müllers "Der Auftrag" ins Herz der Finsternis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.10.2023 finden Sie hier

Film

Das Gesicht des Krieges: "20 Days in Mariupol"


Anke Leweke berichtet auf ZeitOnline vom vierten Ukrainian Film Festival in Berlin. Gezeigt wurde unter anderem "20 Days in Mariupol" des Associated-Press-Journalisten Mstyslaw Tschernow. "Auf dem Sundance-Festival ist der Dokumentarfilm zu Beginn des Jahres mit dem Publikumspreis ausgezeichnet worden, die Ukraine wird den Film ins Oscar-Rennen im kommenden Jahr schicken. Man sieht in dem Film Menschen, die sich während der unbeschreibbar brutalen Einnahme der Stadt durch die russische Armee in Straßen und Gebäuden auf den Boden werfen; wie sie die Sekunden zählen bis zum nächsten Granateinschlag. Hochschwangere Frauen und Verletzte fliehen aus einem bombardierten Krankenhaus. Massengräber werden angelegt. Durch die schiere Länge der Szenen findet eine Annäherung an Mariupol statt, man lernt die Topografie der Stadt kennen. Die Menschen hinter der Kamera sind keine Beobachter, sie sind ebenso Eingeschlossene wie die Bewohnerinnen und Bewohner Mariupols." Dazu passend bespricht Bert Rebhandl in der FAZ Arndt Ginzels Dokumentarfilm "White Angel - Das Ende von Marinka" über Sanitäter unweit des Kriegsgebiets in der Ukraine: "Von Marinka heute in der Gegenwartsform zu sprechen führt in die Irre. Die Stadt existiert physisch nur noch als Ansammlung von Ruinen."

Vernarbter Film: "El auge del humano 3" von Eduardo Williams

Standard-Kritiker Bert Rebhandl staunt auf der Viennale über die experimentellen Filme des Argentiniers Eduardo Williams: Dessen den halben Globus umspannender Film "El auge del humano 3" etwa "wechselt mit einer solchen Nonchalance die Schauplätze, dass man bald den Eindruck gewinnen könnte, es ginge darum, das Kino selbst als einen Ort über oder zwischen konkreten Orten zu etablieren. ... Wenn es einen Film auf dieser Viennale gibt, an dem sich die Gegenwart (oder sogar die Zukunft) des Kinos besonders spannend ermessen lässt, dann ist es vielleicht dieser". Er "wurde mit 360-Grad-Kameras gedreht, beruht also auf Bildern, die erst in einer App verarbeitbar werden, für das Auge wäre das zu viel. Das Filmbild zeigt nun, wie sich Williams innerhalb des virtuellen Raums bewegt und das Material erst erzählbar macht. An manchen Stellen wirken die Bilder, als hätten sie Nähte oder als trügen sie Narben von Eingriffen in die Ontologie des Filmischen. Im Verbund mit der jugendkulturellen, digitalglobalen Anmutung seiner Filme ergibt das höchst spannendes Experimentalkino für neue Generationen."

Silvia Palmigianos NDR-Doku "Deutsche Schuld" über die Folgen der deutschen Kolonialzeit in Namibia ruft einigen Protest hervor, berichtet Fabian Lehmann in der taz. "Für Zwischentöne ist kaum Platz", der Filme kratze "an der Oberfläche" und bekomme Ambivalenzen etwa im Verhalten der Kirche zugunsten einer Schwarzweiß-Darstellung nicht in den Griff. "Die Intendanz des NDR erhielt einen offenen Brief, welcher dem Film 'ideologische Scheuklappen' und eine 'völlig unreflektierte' Darstellung vorwirft. Unterzeichnet haben ihn rund 160 Personen", darunter "der ehemalige deutsche Botschafter in Namibia, Christian M. Schlaga, ehemalige Mitglieder der Nationalversammlung Namibias, verdiente Kolonialhistoriker:innen wie Ulrich van der Heyden und Wolfram Hartmann sowie zahlreiche Vertreter:innen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia. Der Großteil von ihnen gehört zu den rund 20.000 deutschsprachigen Namibier:innen. Dass Vertreter:innen dieser Minderheit in der NDR-Doku pauschal als 'Deutsche' bezeichnet werden, obgleich sie mehrheitlich in Namibia geboren und aufgewachsen sind, ignoriert ebenjene lange Geschichte deutscher Einwanderung, die der Film zu thematisieren vorgibt."

Außerdem: In einem Filmdienst-Essay meditiert Philipp Stadelmaier über Justine Triets Cannes-Gewinnerfilm "Anatomie eines Falls". Die Filmemacherin Alrun Goette erzählt in der Berliner Zeitung von ihrer Reise nach Hongkong, wo sie ihren Film "In einem Land, das es nicht mehr gibt" über die Modeszene der DDR-Szene präsentierte. David Pfeifer erzählt auf der Seite Drei der SZ die Geschichte eines Kinos in Mumbai, in dem seit 28 Jahren jeden Vormittag der Bollywoodfilm "Dilwale Dulhania Le Jayenge" mit Shah Rukh Khan aus dem Jahr 1995 läuft. Oğulcan Korkmaz schreibt in der taz einen Liebeslied an das Kino insbesondere nach der Pandemie: "Die Seherfahrung im Kino formt uns als soziale Wesen. Auf dem Sofa verformen wir nur." Nachrufe auf den Schauspieler Matthew Perry ("Friends") schreiben Andreay Arnold (Presse), Peter Praschl (Welt), Sophia Zessnik (taz), Kerstin Hasse (TA) und Jean-Martin Büttner (TA).
Archiv: Film

Musik

Was für Schätze mögen wohl noch in Keith Jarretts Aufnahmenarchiv schlummern, wenn der (seit einem Schlaganfall 2018 zurückgezogen lebende) Pianist seine bereits in den Neunzigern entstandenen Aufnahmen von Carl Philipp Emanuel Bachs "Württembergischen Sonaten" erst jetzt der Öffentlichkeit zugänglich macht, fragt sich Wolfgang Sandner in seiner begeisterten FAZ-Kritik. "Was vor allem besticht, ist die behutsame Anschlagskultur, die erkennen lässt, wie sehr sich Jarrett jener Umbruchszeit bewusst ist, in der das nur über eine Stufendynamik verfügende, zierlich starre Cembalo noch im Gebrauch war, Bach selbst seine Werke am lyrisch intimen Klavichord schuf, das voluminös facettenreiche Hammerklavier aber schon seinen Siegeszug angetreten hatte. Jarrett übertreibt auf dem modernen Flügel nie, lässt die kühnen Harmoniewechsel, etwa im Kopfsatz der a-Moll-Sonate, nahezu selbst ihren Reiz des Überraschenden entfalten. Dann wieder gelingt ihm eine ganz natürlich erscheinende Schönheit des einzelnen Tons in den unterschiedlichen Andante-Sätzen, ein unaufgeregt-heiterer Tonfall im Poco allegro der As-Dur-Sonate, ein ausdrucksvolles Melos ohnehin."



Außerdem: Für die taz spricht Jan Paersch mit Heiko Jahnke, der das Überjazz-Festival in Hamburg leitet. Steffen Michalzik berichtet in der FR vom Deutschen Jazzfestival in Frankfurt. Christian Wildhagen wirft für die NZZ einen Blick auf Chopin als Privatmensch. Medienanwalt Simon Bergmann gibt sich im NZZ-Gespräch selbstbewusst: "Bei Till Lindemann habe ich eine volle Kriegskasse, was bedeutet, dass wir uns vom Spiegel nicht einschüchtern lassen müssen." Karl Fluch plaudert für den Standard mit dem österreichischen Schlagersänger Andreas Gabalier.

Besprochen werden die Memoiren der Komponistin Ethel Smyth (online nachgereicht von der FAZ), das Album "Gnosis" des Ethan Philion Quartet (FAZ) und Chilly Gonzales' neues Album "French Kiss", auf dem sich der rappende Pianist vor der französischen Kultur verneigt und sie zugleich verulkt (FAZ).

Archiv: Musik

Literatur

Besprochen werden unter anderem die Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman "Sehr blaue Augen" (online nachgereicht von der Welt), Navid Kermanis "Das Alphabet bis S." (Welt), Zoë Becks Thriller "Memoria" (Zeit), Eva Menasses Essay "Alles und nichts sagen" (SZ, der Standard bringt einen Auszug) und Jan Wagners Gedichtband "Steine & Erde" (NZZ). Außerdem verkündet die SZ-Literaturredaktion die besten Bücher des Monats.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Barbara Köhlers "Rondeau Allemagne":

"Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd,
Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt ..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Kermani, Navid, Menasse, Eva

Kunst

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FAZ-Kritiker Freddy Langer besucht die Messe "Books on Photography" in Bristol und macht mehr als eine großartige Entdeckung. Die Bildband-Branche ist eine "so winzige Nische des Buchmarkts, dass sie bestenfalls vergleichbar ist mit jener der Lyrik", stellt er fest: "Während die Bildbände ein paar weniger Stars aus Mode- und Aktfotografie weltweit fünf- oder gar sechsstellige Auflagen erreichen mögen, kommt der Rest der Fotografen kaum je über eine als magisch erachtete Grenze von achthundert verkauften Exemplaren hinaus, oft sind es erheblich weniger." Für die Fotografen, die ihre Bände oft selbst produzieren sind die Messen daher sehr wichtig, so Langer, der beim Stöbern zum Beispiel auf Alice Bruce Bildreportage "I burn but I'm not consumed" stößt, in der sie sich "mit den Gepflogenheiten Donald Trumps beschäftigt, mit denen er bei der Planung seines 'Greatest Golf Course in the World' an der Küste bei Aberdeen die Grenze zur Ungeheuerlichkeit mehr als einmal überschritt. Für die dramatische Landschaft und ihren ebenso dramatischen Umbau wählte sie einen nüchternen Blick in jenem Stil, der zurückgeht auf die völlig romantikfreie Darstellung von Topographie aus den späten Sechzigerjahren. Die betroffenen Bewohner der Region hingegen inszenierte sie nach Motiven der Kunstgeschichte..."

Im Tagesspiegel-Interview unterhält sich Museumsleiter Alistair Hudson mit Katrin Sohns über seine Zukunftspläne für das ZKM in Karlsruhe. Das Konzept "Ausstellung" findet er eher altmodisch, sagt er, vielmehr schwebt ihm eine Art Laboratorium vor: "Das ZKM ist kein Museum, keine Galerie, das Gebäude selbst ist nicht wirklich für Ausstellungen geeignet, es ist ein riesiger Industriebau. Genau deswegen eignet er sich als Produktionszentrum für Experimente und Innovation und um Menschen zusammenzubringen." Hier sieht er auch eine Chance, einen Umgang mit Technik zu finden, die der stattfindenden politischen Polarisierung entgegen wirken kann: "In der technologischen Arena geht es nur um die Zukunft... In der Technologie haben wir die Chance, die Zukunft zu manipulieren. Das ist für mich ein viel produktiveres Arbeiten...wenn wir uns mehr auf die technologischen Werkzeuge konzentrieren, die wir benutzen, können wir vielleicht auch hier einen anderen Weg einschlagen."

Besprochen werden die Renaissance-Ausstellung "Venezia 500" in der Alten Pinakothek in München (FAZ) und die Ausstellung "Turner. Three Horizons" im Lenbachhaus München (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Der Auftrag" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Armin Smailovic.

Ins "Herz der Finsternis" reist Nachtkritikerin Gabi Hift mit Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Heiner Müllers Drama "Der Auftrag" am Deutschen Theater Berlin. Genial findet die Kritikerin in diesem Stück über drei Abgesandte der französischen Revolution, die auf Jamaica einen Sklavenaufstand anzetteln wollen, vor allem die "Skullies": "Das sind grausig komische weiße Maskenwesen, Skelette mit langen, schlenkernden Spinnenfingern und riesigen Schädeln, aus deren Mündern braune Zahnstummel ragen. Es sind Geschöpfe des Künstlers Claude Bwendua und ihr Auftritt in diesem Kontext ist ein Geniestreich. Alle mächtigen weißen Figuren sind Scullies, grinsende Tote, die nicht wissen, dass sie längst gestorben sind." Nach der Pause wird das Stück durch den kritischen Kommentar "Psyche 17" des togoischen Autors und Regisseurs Elemawusi Agbédjidji ergänzt. Diese "Kritik an Müllers durch und durch weißem, völlig egozentrischem Blick" findet die Kritikerin völlig berechtigt, leider "kommt der mit seiner eher kabarettistischen Haltung, seinen Kalauern und seiner augenzwinkernden Romantik gegen das Sprachmonster Müller einfach nicht an. Dazu hätte Jan-Christoph Gockel schon im ersten Teil mehr Einfallschneisen für eine kritische Haltung an Müllers genialischer, vitalistischer Großmannssucht schlagen müssen." Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl hat hingegen einen "fulminanten Doppelabend" erlebt.

Taz
-Kritiker Kornelius Luther hat sich am Theaterhaus Jena mit Walter Barts Inszenierung des Stücks "Die Hundekot-Attacke" gut amüsiert. In der "auf wahren Begebenheiten basierende Stückentwicklung für sechs Personen und einen Dackel" wird auf intelligente Weise die Sensationslust der Kulturwelt auseinandergenommen, so Luther: "Ausgerechnet mit einer Inszenierung, die die Mechanismen des skandalfreudigen Theater- und Kritikbetriebs auf die Schippe nimmt, hat das Ensemble dank des Kot-Wortes als Köder die Aufmerksamkeit, die es verdient."

Weiteres: SZ-Kritiker Egbert Tholl wohnt im Saal der Akademie der Schönen Künste in München einer sehr angeregten Diskussionsrunde zwischen Schauspielern (u.a. Michael Maertens und Wiebke Puls) und Theaterbesuchern über die Ursachen für den "Publikumsschwund" bei. In der FR unterhält sich Sylvia Staude mit der nordirischen Choreografin Oona Doherty.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung des Musicals "Chicago" an der Komischen Oper Berlin (nachtkritik, FAZ, tagesspiegel), Jan Gehlers Inszenierung von "Ajax" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik), Claus Peymanns (zweite) Inszenierung von Thomas Bernhards Stück "Minetti" am Residenztheater München (nachtkritik, SZ, FAZ), Jule Krachts Inszenierung von Yasmina Rezas Kammerspiel "Der Gott des Gemetzels" am Theater Lüneburg (nachtkritik), Johannes Leppers Inszenierung von David Mamets Stück "Die Masken des Teufels" am Staatstheater Wiesdbaden (nachtkritik, FR), Sebastian Nüblings Adaption von Sasha Marianna Salzmanns Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" am Gorki-Theater in Berlin (taz, BlZ), Johanna Wehners Inszenierung von Bram Stockers "Dracula" am Schauspiel Frankfurt (FR) und Christian Stückls Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Münchner Volkstheater (SZ).
Archiv: Bühne