Efeu - Die Kulturrundschau

Leichtigkeit und goldener Schmelz

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27.11.2023. Die NZZ bekommt glühende Wangen bei Yana Ross' Adaption von Virginie Despentes Roman "Liebes Arschloch" am Schauspielhaus Zürich. Die FAZ taucht in einer Ausstellung der Kunsthalle Tübingen ab in Sigmund Freuds "Innenwelten" und blickt dabei auch dem Entsetzen ins Gesicht. Mit seinem Film "Die Bologna-Entführung" über ein vom Papst entführtes Kind, ging es Marco Bellocchio nicht um eine Skandalgeschichte, erklärt der Regisseur der FR. Die Jungle World versenkt sich mit der neuen Doku-Serie von Ken Burns tief in die Geschichte der Country Music, deren Ursprünge schwärzer sind als man denken würde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.11.2023 finden Sie hier

Bühne

Karin Pfammatter in "Liebes Aschloch" © Gina Folly

Mit "glühenden Wangen" verlässt NZZ-Kritikerin Leonie C. Wagner Yana Ross' Inszenierung von Virginie Despentes Roman "Liebes Arschloch" am Schauspielhaus Zürich. Ross inszeniert den Roman als Kammerspiel, in dessen Verlauf die alternde Schauspielerin Rebecca und der Schriftsteller Oscar sich gegenseitig ihre inneren Dämonen offenbaren. Zunächst beschimpfen sich die beiden aufs Übelste, doch der Kontakt wird bald zum Austausch: "Als die anfängliche Lesung sich zu einem Kammerspiel entwickelt, wird auf der Bühne plötzlich viel an- und ausgezogen: Rebecca und Oscar beginnen sich zu verwandeln, sich in immer neuen Kostümen (von Zane Pihlström), in immer neuen Facetten voreinander zu zeigen. Und sich wieder zu verstecken. Die Kostüme stehen auch für die Rollen, die hier verhandelt werden. Rebecca gürtet sich den idealen Frauenoberkörper um: flacher Bauch und volle Brust. Oscar hampelt wie eine Marionette in einem riesigen Jackett mit breiten Schultern, Waschbrettbauch und Penis umher. (...) Karin Pfammatters Rebecca strotzt vor Energie. Sie schlägt Purzelbäume, rennt im Kreis, tanzt, singt, schreit." Für Nachtkritikerin Valeria Heintges blieb der Abend hingegen recht "papieren".

Lotte Thaler schmilzt in der FAZ dahin vor Johann Tetelmans Performance des "Werther" in Robert Carsens Inszenierung von Jules Massenets Oper. Wer könnte diesem Mann widerstehen, ruft sie hingerissen. Und auch der Gesang lässt nichts zu Wünschen übrig am Festspielhaus Baden-Baden: "Sogar in den hochdramatischen Passagen im zweiten und dritten Akt verliert seine Stimme weder an Leichtigkeit noch goldenem Schmelz. Tetelman schöpft seine heroischen Spitzentöne vielmehr aus einem ungeahnten Kraftreservoir und lässt sie lange über dem Balthasar-Neumann-Orchester leuchten, als wäre sein Atem unbegrenzt."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Uwe Friedrich vom Donizetti Opera Festival in Bergamo. Besprochen werden Philipp Arnolds Adaption von Erich Kästners Großstadtroman "Fabian oder: Der Gang vor die Hunde" im Volkstheater München (nachtkritik, SZ), Gustav Ruebs Inszenierung von Marcel Luxingers Fassung von "Wilhelm Tell" (nachtkritik, FR), K. D. Schmidts Inszenierung von Arthur Sullivans Oper "Die Piraten von Penzance" am Staatstheater Mainz (FR), Anne Habermehls Inszenierung "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" an den Münchner Kammerspielen (taz, SZ), Benjamin Abel Meirhaeghs Inszenierung von "Death Drive - Everything everyone ever did" an der Volkbühne (taz), in eine Doppelbesprechung Karl Alfred Schreiners Ballett "Peer Gynt" am Staatstheater München und Laurent Hilaires Inzenierung von Angelin Preljocajs Ballett "Le Parc" an der Bayerischen Staatsoper (SZ).
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Kunst

Eine Hommage an Sigmund Freud und seinen Einfluss auf die Kunst sieht Alexandra Wach für die FAZ in der Ausstellung "Innenwelten" in der Kunsthalle Tübingen. Etwa bei "Raphaela Vogel, die 2017 ein anatomisches Brustmodell in monumentaler Größe fabriziert hat. Es zeigt eine zergliederte weibliche Brust, aus der sich auf wundersame Weise ein Milchstrahl aus Polyurethan zum Pferd formt, der zum 'Uterusland' reitet." Auch das Thema Trauma verhandele die Ausstellung sehr eindrücklich, etwa im Video-Triptychon 'Between Listening and Telling: Last Witnesses, Auschwitz, 1945-2005' von Esther Shalev-Gerz: "Sechzig Überlebende berichteten für das Projekt in Videointerviews über ihre Erfahrungen in dem Lager sowie über ihr Leben vor und nach der Internierung. Shalev-Gerz erstellte daraus eine Montage der Momente zwischen den gestellten Fragen und den Antworten. Man sieht die Zeugen und Zeuginnen zu den unsichtbaren Erfahrungen zurückkehren, die ihr Leben ins Wanken gebracht haben. Es vergeht unendlich viel Zeit, bis sie sich von ihrem inneren Film lösen, im Schmerz erstarrt, das Grauen vor den Augen. Die Vergangenheit kapert so die Gegenwart, man vermag sich nicht zu bewegen, überwältigt von diesen Gesichtern, die im Schweigen dem 'Verdrängten' so nah sind, wie es Bilder nie vermögen."

Eine Menge abgesagte Veranstaltungen, Documenta-Skandale, offene Briefe und Verunsicherung auf allen Seiten - wie soll es in der Kunstszene weitergehen, fragt Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Was wir auf jeden Fall nicht brauchen, ist mehr Polemik und Streit, hält Nutt fest: "Entgegen der Häme, mit der zuletzt genüsslich auf einen sich selbst provinzialisierenden deutschen Kulturbetrieb geblickt wurde, sollte dringend nach vermittelnden Positionen und Instanzen gesucht werden, denen künstlerische Artikulation wichtiger ist als momentanes Rechthaben in einem Konflikt, in dem es scheinbar schwerfällt, dem Phänomen des Antisemitismus die gleiche Aufmerksamkeit einzuräumen wie anderen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung."

Im Tagesspiegel kommentiert Nicola Kuhn die Pläne zur Verschiebung der Documenta 16. Das hält sie für keine gute Idee, die Kunstschau muss sich jetzt mit ihren Problemen auseinandersetzen und nicht erst in ein paar Jahren. Vielleicht geht's ja etwas überschaubarer, fragt sie: "Oder doch lieber eine Nummer kleiner? Kassel klammert sich an die Idee einer Weltkunstschau im Hessischen und wäre doch besser bedient, wenn es eine eigene Großausstellung auf die Beine stellt. Vielleicht ist die Zeit der übergreifenden Betrachtung durch die Kunst vorbei. Die Zentrifugalkräfte sind in einer globalisierten Welt zu stark, als dass sie sich in hundert Tagen bündeln ließen."

Weiteres: Im Tagesspiegel freut sich Michael G. Gromotka über die neue Beleuchtung in der Berliner Gemäldegalerie.
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Design

Im Tagesspiegel gratuliert Ralf Isermann der Modedesignerin Jil Sander zum 80. Geburtstag.
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Stichwörter: Mode, Sander, Jil

Film

"Die Bologna-Entführung" von Marco Belloccio

Marc Hairapetian wirft im FR-Gespräch mit Marco Bellocchio einen gemeinsamen Blick auf Leben und Werk des italienischen Regisseurs sowie die politische Lage in dessen Heimatland. Auch um seinen aktuellen Film "Die Bologna-Entführung" geht es, in dem Bellocchio die wahre Geschichte erzählt, wie der Papst einmal ein jüdisches Kind entführen ließ (unsere Kritik). "Mir ging es hier nicht um diese an sich mehr als skandalöse Geschichte, nicht um eine dogmatische Ideologie und auch nicht um eine forcierte Papstkritik. Es war auch nicht meine Absicht, all das Unrecht filmisch aufzuarbeiten, was den Jüdinnen und Juden durch die katholische Kirche leider wirklich widerfahren ist. Die Entführung im Auftrag des Papstes folgte ja nach einer zwingenden Logik der damaligen Zeit. Denn Edgardo Mortara wurde als Baby von seinem christlichen Kindermädchen getauft. Und wer getauft war, musste nun einmal nach damaligen Kirchenstaatsrecht als Christ aufwachsen. Mehr als die Motivation des Papstes, ihn entführen zu lassen, interessiert mich die Frage, warum Mortara als Heranwachsender und auch als Erwachsener nie gegen seine christliche Umerziehung rebelliert hat. Er ist auch nicht zu seiner Familie zurückgekehrt. Dem nicht genug, nahm er später, als er zum Priester geweiht wurde, sogar den Namen Pius an. So hieß der Papst, der ihn hatte entführen lassen!"

Weitere Artikel: Der Tages-Anzeiger hat David Steinitz' SZ-Gespräch mit Ridley Scott über dessen neuen Film "Napoleon" (unsere Kritik) online nachgereicht.
Besprochen werden Ken Loachs "The Old Oak" (Welt, hier dazu mehr), die Netflix-Dokuserie "High on the Hog" über die Geschichte der afro-amerikanischen Küche (taz) und die fünfte Staffel der Serie "Fargo" (FAZ).
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Literatur

Die Agenturen melden, dass der irische Schriftsteller Paul Lynch für seinen Roman "Prophet Song" mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Hölderlin-Forscher D.E. Sattler. Besprochen werden unter anderem Durs Grünbeins "Der Komet" (FAS), Margaret Atwoods Essayband "Brennende Fragen" (FR), Peter Handkes "Die Ballade des letzten Gastes" (FAZ), Felix Heidenreichs "Der Diener des Philosophen" (Zeit Online), eine Neuausgabe von Peter Benchleys "Der weiße Hai" (FAS) und neue Kinderbücher, darunter Mark Janssens "Träumer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Ted Hughes' "Ein Bild von Otto":

"Du stehst dort an der Tafel: An dir ist ein
Protestantischer Pfarrer verloren gegangen ..."
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Musik

Mit der Doku-Serie "Country Music" widmet sich Doku-Legende Ken Burns der Geschichte der neben Blues und Jazz wohl einflussreichsten, traditionell us-amerikanischen Musik. Maik Bierwirth hat sich für die Jungle World mit sichtlichem Interesse durch das Material gearbeitet, das die oft voreilig als Hinterwäldler-Soundtrack verschriene Musik differenziert darlegt. So weiß wie die Musik heute eingeschätzt ist, war sie in ihren Ursprüngen gar nicht. Fiddlin' John Carson brachte sie in den Zwanzigern via dem neuen Medium Radio zur Popularität. "Die von ihm gespielte old-time music hat ihren Ursprung in den südlichen Appalachen und verbindet europäische Folk-Tradition wie Polka und Walzer mit Einflüssen christlicher Musik, vor allem Gospel, und frühem Blues sowie der frankophonen Cajun-Kultur aus dem Mississippi-Delta. Letztlich handelt es sich um eine Verknüpfung überlieferter Spielweisen von weißen Einwanderern und schwarzen (ehemaligen) Sklaven. Dies spiegelt sich auch in der Instrumentierung, wenn Violine und Mandoline - beide aus Italien stammend - mit dem Banjo kombiniert werden, das ursprünglich von Afroamerikanern entwickelt wurde." Bei Arte ist die Serie derzeit zu sehen - allerdings unverständlicherweise in einer rigoros zusammengekürzten Version: Von den insgesamt knapp 16 Stunden Laufzeit präsentiert der deutsch-französische Kultursender seinem Publikum nicht einmal die Hälfte.

Weitere Artikel: Im Freitag ärgert sich Konstantin Nowotny über die Geldmacherei der Musikindustrie mit Nostalgie- und Jubiläums-Editionen. Eric Facon wirft für die NZZ auf das sich multimedial erstreckende Projekt "I'll remember you", bei dem ältere Schweizer Musiker dem Nachwuchs Stützhilfe leisten.

Besprochen werden die Gedenkgala zum überraschenden Tod von Franz-Xaver Ohnesorg (FAZ), ein Konzert von Dave Stewart (Presse), ein Auftritt von Fear Factory in Frankfurt (FR) und ein Konzert des Rappers RIN (Tsp).
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