Efeu - Die Kulturrundschau

Harmonie-Wizards

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28.11.2023. Die FAZ streift glücklich durch Edvard Munchs Schneelandschaften, die sie im Museum Barberini in Potsdam entdeckt. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung zeigt sich Igor Levit schwer enttäuscht von einem Großteil der Kulturlinken: Deren Solidarität gelte allen - aber selten Juden. Ziemlich einseitig findet die NZZ Peter Kempers Studie über die politische Geschichte des Jazz: Weiße Jazzmusiker können offenbar nicht politisch sein. Und das Zeit Magazin erkennt echte Macher an der Patina ihrer Aktentasche.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.11.2023 finden Sie hier

Kunst

Edvard Munch: Sternennacht, 1922-24. Öl auf Leinwand. Foto: Munchmuseet, Oslo

Als einem "Verherrlicher des Sichtbaren" begegnet FAZ-Kritiker Andreas Kilb dem Maler Edvard Munch in der Ausstellung "Lebenslandschaften" im Museum Barberini in Potsdam. Munch, den man eher mit Düsternis assoziiert, erscheint hier als Landschaftsmaler in einem ganz neuen Licht, stellt Kilb erstaunt fest: "Auf der 'Sternennacht' von 1901 liegt Schnee in dicken Schichten am Waldrand, von schwarzen Felsen interpunktiert, und auf dem Bild gleichen Titels von 1924 wölbt er sich ebenso schwer und bläulich zum nächtlichen Himmel - nur dass jetzt die Sterne, groß und blinkend, einen breiteren Streifen des Horizonts einnehmen und der Blick sich zur Ebene hin weitet, in der die Lichter der Häuser als gelbe Farbtupfer erscheinen. Auf anderen Bildern, etwa den Ackerlandschaften, die Munch 1906 bei einem seiner Klinikaufenthalte in Thüringen malte, oder dem 'Winter in Kragerø' von 1912, erscheint der Schnee in blau, grün und violett getönten, von Schmutzrändern eingefassten Fladen, aber stets hat er eine Konsistenz, die weit über bloßes Augenspiel hinausreicht. Munch hat sich in ihn hineingemalt."

Weiteres: Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis fordert in Londen eine Rückgabe des Parthenon-Frieses, meldet Sebastian Borger in der FR. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer verkündete, er "wolle einer geplanten Vereinbarung des British Museum mit den griechischen Kulturbehörden nicht im Wege stehen", gibt Borger wieder. Eine einfache Lösung ist allerdings nicht in Sicht, so Borger, seit Jahren wird über einen Deal verhandelt, der für beide Seiten akzeptabel ist, erinnert der Kritiker.

Besprochen werden die Ausstellung "Modigliani: Moderne Blicke" in der Staatsgalerie Stuttgart (tsp) und die Ausstellung "Perfectly Imperfect - Makel, Mankos und Defekte" im Gewerbemuseum Winterthur (NZZ).
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Bühne

Der Kultursenator von Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins Carsten Brosda unterhält sich im FAZ-Interview mit Sophie Klieeisen über die Reaktionen der Theater auf die Attentate der Hamas. Es sei wichtig, betont er, künstlerischen Institutionen nicht die gleichen Aufgaben zuzuschreiben wie der Politik : "Ich bin zurückhaltend bei der Frage, inwieweit wir nun von den Kunstinstitutionen eine Eindeutigkeit des öffentlichen Bekennens erwarten müssen. Sie können uns schließlich auch helfen, über die Ästhetik Formen zu finden, die uns in die Lage versetzen, gesellschaftlich zum Diskurs zu kommen. Da findet ja tatsächlich eine Kategorienverschiebung der beiden Bereiche statt und damit auch eine Schwächung dessen, was sie jeweils können. Wir haben öffentlich momentan den Hang, von Kulturinstitutionen eine Orientierung der Bevölkerung zu erwarten, für die eigentlich die Politik zuständig ist."

Berthold Seliger hat sich bei den Barocktagen der Staatsoper Berlin drei unterschiedliche Inszenierungen des "Medea"-Stoffes von Euripides angesehen und berichtet begeistert im ND darüber. Die größte Überraschung hielt für ihn die konzertante Aufführung des Melodrams von Georg Anton Benda mit dem Text von Friedrich Wilhelm Gotter bereit: "Bendas 'Medea' ist ein ganz erstaunliches Werk - und hier steht (fast) nur noch Medea im Mittelpunkt. Das Melodram ist eine Art Soloshow für eine Sprecherin als Medea, deren Aussagen von einem Kammerorchester unterstrichen, kommentiert und verstärkt werden."

Weiteres: Kathrin Bettina Müller porträtiert in der taz die Regisseurin Clara Weyde. Jorinde Minna Markert schreibt in der Nachtkritik ein Essay zum Boom des Autofiktionalen an Deutschen Theatern.

Besprochen werden Boris Charmatz Tanzstück "Club Amour" im Tanztheater Wuppertal (taz), Robert Carsens Inszenierung von Jules Massenets Oper "Werther" am Festspielhaus Baden-Baden (FR), Jan Lauwers Inszenierung von Györgi Ligetis Oper "Le Grand Macabre" an der Staatsoper Wien und Vasily Barkhatovs Inszenierung desselben an der Oper Frankfurt (Welt) sowie Trajal Harrells Choreografie "Tambourines" beim Pariser Festival d'automne (FAZ).
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Film

In der FAZ resümiert Bert Rebhandl das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Besprochen werden Anna Hints' Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" (taz, unsere Kritik hier) und Emma Seligmans auf Amazon gezeigte, queere Highschool-Komödie "Bottoms" ("der lustigste Film dieses unlustigen Jahres", schwärmt Marlene Knobloch im Tages-Anzeiger).
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Stichwörter: Queer

Design

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Tillmann Prüfer denkt in seiner Stilkolumne für das Zeit Magazin über die politische Ästhetik der patinierten Leder-Aktentasche nach, der in der Ampel-Republik Olaf Scholz und Robert Habeck maßgeblich zum Comeback verholfen haben. Dies "dürfte damit zu tun haben, dass Männer in Deutschland sichtbar machen wollen, dass sie viel arbeiten. Wer eine Aktentasche hat, der muss offenbar wichtige Papiere mit sich herumtragen. Wer schon seit 40 Jahren Akten mit sich herumträgt, der ist schon seit 40 Jahren sehr ernsthaft dabei. Und wer in dieser ganzen Zeit nicht dazu gekommen ist, sich mal eine neue Tasche zuzulegen, muss einfach immer Wichtigeres zu tun gehabt haben. So ein Mann vertraut dem Bewährten, rennt nicht jedem Schnickschnack hinterher - so jemandem kann man vertrauen."
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Literatur

Das Tucholsky-Museum in Rheinsberg ist in Gefahr, schreibt Mladen Gladic in einer Glosse für die Welt. Roland Reuß schreibt in der FAZ zum Tod des Philologen Dietrich E. Sattler.

Besprochen werden unter anderem Wiglaf Drostes "Vollbad im Gesinnungsschaum" mit gesammelten sprachkritische Glossen (Tsp), Durs Grünbeins "Der Komet" (Dlf Kultur, FAZ), Hanneriina Moisseinens Comic "Kannas" (taz) und Edward Brooke-Hitchings "Die Bibliothek des Wahnsinns" (Standard). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Gestern hat Igor Levit einen Solidaritätsabend mit Konzert im Berliner Ensemble veranstaltet (ein erstes Fazit zum Nachhören liefert Dlf Kultur). Vorab hatte Susanne Lenz für die Berliner Zeitung mit Levit über seine Beweggründe dafür gesprochen. Für ihn sind die Ereignisse der letzten Wochen eine Zeitenwende: "Wo ist die breite Mehrheitsgesellschaft, die auf die Straße geht und Gesicht zeigt gegen den Judenhass, der hier explodiert ist. Wo ist sie? Zeigen Sie sie mir. Es gibt immer wieder kleine Kundgebungen, es gab eine größere am Brandenburger Tor, die aber auch eher klein war. Ich würde das als Schweigen bezeichnen. Und ein Großteil der Kulturwelt schweigt. ... Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass viele Menschen nicht nur sagen, sie kämpfen gegen Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, sondern dass sie daran glauben. Es gab viele Krisen in den letzten Jahren, etwa der Angriffskrieg auf die Ukraine, der Befreiungskampf der iranischen Frauen. Da haben sich Menschen auf der Straße gezeigt, sie haben sich solidarisch gezeigt. Kulturinstitutionen änderten in Windeseile ihr Programm. Ich habe das erlebt und gedacht: Ja, die sind tatsächlich da. Und jetzt? Jetzt, da der Antisemitismus sich in diesem Land auf unerträgliche und beängstigende Art und Weise zeigt, jetzt sind sie wo, nochmal?"

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NZZ-Kritiker Ueli Bernays liest Peter Kempers große Studie "Sound of Rebellion" über die politische Geschichte des Jazz zwar durchaus mit regem Interesse und Gewinn. Dennoch hat er einige triftige Kritikpunkte, da der Autor etwa so tut, "als habe es nur schwarze Künstler gegeben in dieser Tradition." Doch entwickelte sich Jazz rasch "zu einer globalen Klangkunst mit Ablegern in allen Kontinenten. Und so konnte sich auch das kämpferische Moment, das dem Jazz innewohnt, auf Musiker jeder Couleur übertragen. Dafür gäbe es gute Beispiele - etwa die einstige DDR-Jazzszene oder engagierte Feministinnen wie die Pianistin Irène Schweizer. Bei Peter Kemper werden sie nicht erwähnt. Indem sich Kemper auf Musiker dunkler Hautfarbe beschränkt, läuft er Gefahr, diese zu idealisieren - in einer Art positivem Rassismus" - etwa auch ästhetisch im Bereich der Harmonik: "Er geht offenbar davon aus, dass die komplexe Harmonielehre afroamerikanischen und mithin afrikanisch geprägten Musikern nicht wichtig sein könne: weil die ja ihre vokale Tonalität und ihren Blues haben. Jazz aber lässt sich ohne differenziertes harmonisches Gehör kaum spielen; erst recht nicht die Musik von schwarzen Künstlern wie Charlie Parker oder Wayne Shorter, die sich als Harmonie-Wizards in Szene gesetzt haben."

Außerdem: In der FAZ spricht die Duisburger Sängerin CassMae über ihren riesigen Erfolg in Indien, der über sie gekommen ist, nachdem vor einigen Wochen der indische Premierminister Modi einige ihrer indischen Coversongs in seinem Podcast gespielt und gefeiert hat: "Das war alles vollkommen surreal." Christian Schröder (Tsp), Edo Reents (FAZ) und Harry Nutt (FR) gratulieren dem Rockmusiker Randy Newman zum 80. Geburtstag. Tatjana Frumkis gratuliert in der FAZ dem Komponisten Alexander Knaifel zum 80. Geburtstag. Christian Schachinger schreibt im Standard zum Tod des Killing-Joke-Gitarristen Kevin "Geordie" Walker. Zu den bekanntesten Songs seiner Band zählt "Wardance":



Besprochen werden ein Haas- und Bruckner-Abend des ORF-RSO Wien unter Markus Poschner (Standard), ein Konzert des Jazzgitarristen Bill Frisell in der Elbphilharmonie (Tsp) und ein von Simone Young dirigiertes Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters (NZZ)
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