Efeu - Die Kulturrundschau

Freiheit zur Neugestaltung

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30.11.2023. Sharon Dodua Otoo weist den Peter-Weiss-Preis nun ihrerseits zurück und bereut ihre Unterschrift unter einer Petition von Artists for Palestine, meldet die FAZ. Deutsche Filmschaffende sind frustriert von ihrer Arbeit bei den Öffentlich-Rechtlichen: Immer geht es nur um Technik, nicht um Inhalte, beklagen Drehbuchautoren und Regisseure. Ein geglücktes Experiment hört der Standard mit John Scofields neuem Album, auf dem er unter anderem Bob Dylan in den Bereich der Jazzgitarren-Improvisation überführt. Die taz fragt sich in einer Ausstellung im Haus am Lützowplatz, was eigentlich eine schlechte Mutter ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.11.2023 finden Sie hier

Literatur

"Um die Wahrheit zu finden, muss man diskutieren" - dieses Zitat von Peter Weiss hat Sharon Dodua Otoo ihrem Brief vorangestellt, mit dem sie darauf reagierte, dass die Stadt Bochum angekündigt hat, überprüfen zu wollen, ob die Schriftstellerin tatsächlich mit dem Peter-Weiss-Preis ausgezeichnet werden könne. Zuvor hatten die Ruhrbarone darauf aufmerksam gemacht, dass Otoo vor einigen Jahren die Kampagne "Artists for Palestine" unterstützt hatte (unser Resümee). In ihrem Brief wiederum hat Otoo nun "den Angehörigen der Opfer des Hamas-Massakers am 7. Oktober ihr tiefstes Beileid ausdrückt und beklagt, dass es in Deutschland nicht gelungen sei, 'unsere Solidarität sichtbarer und hörbarer zu machen', sodass auch hier jüdische Menschen sich alleingelassen fühlten", berichtet Patrick Bahners in der FAZ. "Sie gibt an, dass sie die 'Petition' der 'Artists for Palestine' ungefähr im Jahr 2015 unterschrieben habe, um sich 'mit dem gewaltlosen Widerstand Kulturschaffender in Palästina' zu solidarisieren. 'Ich würde einen solchen Aufruf heute nicht mehr unterzeichnen.' Sie hat Anwälte beauftragt, ihren Namen entfernen zu lassen. Den Peter-Weiss-Preis möchte Sharon Dodua Otoo nicht annehmen. Sie regt an, ihn für ein Jahr auszusetzen und das Preisgeld an eine Initiative auszuzahlen, die an deutschen Schulen Gespräche über den Nahostkonflikt organisiert."

Gerrit Bartels vom Tagesspiegel findet diese Geste bemerkenswert: Diese "Stellungnahme der Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2016 verdient viel Respekt, nämlich Fehler einzugestehen und sich von der BDS-Kampagne zu distanzieren. Das unterscheidet sie beispielsweise von ihrer palästinensischen Kollegin Adania Shibli, die zu ihren Unterschriften unter zwei BDS-Petitionen in früheren Jahren nichts sagen, geschweige denn distanzieren wollte." Auch Dirk Knipphals von der taz freut sich über diese Entwicklung: "Diskutieren - besondere Rolle der Kultur - Raum für Dissens: Das sind durch die bisherige schriftstellerische Arbeit dieser Autorin beglaubigte Ansätze. 2020 hielt sie die Eröffnungsrede beim Bachmannpreis, den sie 2016 gewonnen hatte, und trat dabei auch als Vermittlerin zwischen der Schwarzen Community in Deutschland und der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft auf."

Harry Nutt stellen sich in der Berliner Zeitung entscheidende Fragen: "Zuletzt ist wiederholt und zu Recht die Frage aufgeworfen worden, ob die denunziatorische Heranziehung von Unterschriftenlisten die Kunst- und Meinungsfreiheit einschränke. Ein verstörendes Mysterium stellt allerdings auch die Frage dar, warum so viele Künstlerinnen und Künstler bereitwillig ihren Namen für Kampagnen hergeben, die ganz ausdrücklich an Freiheits- und Menschenrechten rütteln."

Außerdem: Timo Feldhaus ist in der Berliner Zeitung gespannt auf die für 2024 angekündigte, neue Literaturzeitschrift Berlin Review. In Gerhart Hauptmanns Villa "Wiesenstein" wurde ordentlich gebechert, erinnert Tilman Krause in der Welt. Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis und Natan Sznaiders "Israel. Eine Korrespondenz" (Jungle World), Annette Mingels' "Der letzte Liebende" (TA) und Annie Proulxs "Moorland" (FR). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Katarina Janeckova Walshe, Givers, 2022, Acryl auf Leinwand, 182 x 279 cm. Courtesy Dittrich & Schlechtriem, Berlin

Was ist eigentlich eine gute Mutter - beziehungsweise eine schlechte? Das fragt sich taz-Kritikerin Sophie Jung bei ihrem Rundgang durch die Ausstellung "The Bad mother" im Haus am Lützow-Platz in Berlin. Elf Künstlerinnen haben sich hier "schonungslos" mit dem Thema auseinandergesetzt, so Jung, und eröffnen eine ganz neue, auch schmerzhafte Perspektive auf Mutterschaft: "In dem Stop-Motion-Video des Duos Nathalie Djurberg & Hans Berg wird die Mutter nur noch zum biologischen Wirt. Sie, als Knetfigur mit Kugelbrüsten und wulstigen Lippen vom Duo typisch überzeichnet, liegt nackt auf dem Bett, während sich ihre drei Kinder peu à peu und offenbar unter geburtsartigen Schmerzen durch ihre Vagina in das Körperinnere zurückarbeiten. Irgendwann steht die schmerzzerrissene Mutterfigur auf, nunmehr als krakenhafter Zombie, aus dessen Bauch und Beinen die Extremitäten des eigenen Nachwuchses wuchern."

SZ-Kritiker Marc Beise steht staunend im Gewölbekeller der Grabkapellen der Medici in Florenz. Zum ersten Mal wurde Michelangelos stanza segreta geöffnet, eine Geheimkammer, in der man 1975 Kohlezeichnungen entdeckte, die vom Meister selbst stammen sollen, wie der Kritiker berichtet. 1530, als die Medici aus Florenz vertrieben wurden, habe sich Michelangelo hier zwei Monate versteckt gehalten, heißt es. So ganz sicher weiß man das nicht, aber das ist auch nicht so wichtig, meint Beise, denn beeindruckend ist der Raum allemal: "Die sich teils überlagernden Zeichnungen haben erkennbar Bezüge zur Arbeit des Meisters, sind offenkundig Skizzen bereits fertiger und künftiger Werke. Man erkennt Figuren aus der Medici-Sakristei gleich oben oder Fresken der Sixtinischen Kapelle im Vatikan."

Weiteres: Der Schauspieler Matthias Brandt schreibt auf Zeit Online einen sehr persönlichen Nachruf auf den Kanzlerfotografen Konrad R. Müller, der auch seinen Vater Willy Brandt porträtiert hat. Trotz Krieg und Zensur gibt es in Moskau gerade einige große Kunstausstellungen zu sehen, berichtet Kerstin Holm berichtet in der FAZ. Aber die Museen müssen sich vorsehen: "Schwer hat es die zeitgenössische Kunst. Die Tretjakow-Galerie habe mehrere fest mit ihr verabredete Ausstellungen abgesagt, ereifert sich eine gut vernetzte Galeristin, die ich besuche." Das Museum für Zeitgenössisches zeigt fast gar keine Ausstellungen mehr, so Holm, aus Angst vor Denunziation.

Besprochen wird die Ausstellung "A space of Empathy" mit Werken von John Akomfrah in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (taz) und die Ausstellung "Renaissance im Norden. Holbein, Burgkmair und die Zeit der Fugger" im Städel Museum Frankfurt (NZZ).
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Bühne

Für das Van-Magazin unterhält sich Lotte Thaler mit dem Tenor Jonathan Tetelman, der gerade als "Werther" in Robert Carsens Inszenierung von Jules Massenetes Oper in Baden-Baden zu sehen ist. Über Massenets musikalische Darstellung des Werther sagt er folgendes: "Extrem lyrisch! Aber im Text und der Musik steckt so viel Dramatik, dass die Rolle zwischen den Fächern liegt. Die Stimme braucht auch Heroisches, damit der Charakter glaubhaft wird, sie darf weder zu leicht noch zu schwer werden. Dazu kommt, dass der französische Stil dieser Oper von den Regeln des italienischen Belcantos abweicht. Das muss man lernen, um die Rolle korrekt zu singen. Donizetti, Bellini oder Verdi geben dem Tenor nie Rätsel auf, welche Töne offen und geschlossen zu singen sind. Bei Massenet ist das anders: Töne, die im italienischen Repertoire geschlossen, also gedeckt und nobel erklingen sollen, werden im französischen oft offen und hell gesungen."

Weiteres: Shermin Langhoff, Intendatin des Gorki-Theaters, schreibt in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel darüber, wie Berlin sich seine Vielfalt erhalten kann.
Archiv: Bühne

Architektur

Das Hotel Solvay in Brüssel. Entworfen von Victor Horta. Foto: Max Delvaux.

Mit dem belgischen Architekten Victor Horta verbinde man gemeinhin "Stadthäuser für Jugendstil-Feen - nicht einen Tempel für moderne Musen", meint Marc Zitzmann in der FAZ. Aber genau in einem solchen findet sich der Kritiker in der Ausstellung "Victor Horta et la grammaire de l'Art nouveau" im Palais des Beaux-Arts in Brüssel wieder, der seinem Erbauer eine opulente Schau widmet: "Das 1893 errichtete Hôtel Tassel macht hier den Anfang: Es gilt als eine der frühesten Hervorbringungen des Art nouveau. Die Sichtbarkeit der eisernen Trägerstrukturen, die 'wasserpflanzliche' Anmutung des Dekors und die Erhebung eines Wintergartens zum Herzen des Baus zeugen vom Einfluss von Eugène Viollet-le-Duc, von japanischen Estampen beziehungsweise von Hortas Mentor Alphonse Balat, dem Architekten der Königlichen Gewächshäuser von Laeken. Aber die Fusion einer Halle mitsamt Treppe, deren Dekor an geschwungene Stängel gemahnt, und eines Wintergartens unter Glasdach zu einem Gesamtkunstwerk, das das Wachstum zum Licht des Wissens hin allegorisiert, ist dem Dialog mit dem Bauherrn entsprungen, einem Universitätsprofessor mit literarischen, philosophischen und auch fernöstlichen Interessen. Hortas Stadthäuser bilden oft derlei gebaute Porträts ihrer Auftraggeber."
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Film

Verbände der deutschen Drehbuchautoren und Regisseure fordern in einem Manifest bessere Rahmenbedingungen für ihre Arbeit bei den Öffentlich-Rechtlichen. Von Frust sprechen die Drehbuchautorin Dorothee Schön und der Regisseur Jobst Oetzmann im SZ-Gespräch. Die Sender "stehen vor der größten Transformation in ihrer Geschichte, aber alle reden über Technik, niemand redet über Inhalte. Das ist die Wand, vor der wir stehen", sagt Letzterer. Schön ärgert sich über übertriebene Einsparungen: "Nach Angaben der KEF, der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, haben ARD und ZDF in den Jahren 2017 bis 2020 fast eine Dreiviertelmilliarde Euro, die ihnen eigentlich fürs Programm gegeben worden ist, gar nicht dafür ausgegeben. Und wenn man Programm billiger haben will, was macht man dann? Dann fangen die Sender an zu normieren. Dann ist da zum Beispiel eine zentrale Institution wie die privatwirtschaftliche ARD-Filmtochter Degeto, die den größten Programmetat im Ersten verwaltet, dafür zuständig, dass am Donnerstagabend immer Auslandskrimis nach Schema F laufen. Das teurere 'Fernsehspiel', wo verschiedene Themen und verschiedene Looks von verschiedenen Machern beauftragt waren, wird langsam abgeschafft, zugunsten von einem, ich sag jetzt mal: glatt gebügelten, am Fließband fabrizierten Programm."

Mit der neuen KI-Software Pika soll es möglich sein, auf Zuruf ganze Animationsclips zu generieren und zwar "in brillanter Qualität und 3-D-Ästhetik", schreibt Andrian Kreye in der SZ. Für Disney, Pixar und Co. könnte das eine Erleichterung sein, doch "für die Filmbranche werden die Erschütterungen an anderer Stelle gewaltig sein. Gerade, weil die Werbung mit KI-Anwendungen viel Geld und Personal einspart. ... Nun ist der Weg zum filmischen Meisterwerk ohne oder mit nur wenig menschlicher Hilfe noch sehr weit. Was die Filmbranche bedrängen wird, ist der rein marktwirtschaftliche Mechanismus, dass etwa ein Autohaus in, sagen wir, München-Trudering für wenig Geld einen Werbespot in Pixar-Qualität herstellen und sich damit die paar Tausend Euro sparen kann, die das bei einer örtlichen Werbeagentur gekostet hätte, bei der sich angehende Filmkunstschaffende ihr Geld mit Handwerksarbeiten verdienen."

Weitere Artikel: Frankreich ärgert sich über Ridley Scotts "Napoleon" (unsere Kritik), berichtet Wolf Lepenies in der Welt. Valerie Dirk empfiehlt im Standard das Wiener Filmfestival "This Human World". In der SZ blickt David Steinitz auf 100 Jahre Disney zurück. Für Dlf Kultur tun dies Markus Metz und Georg Seeßlen mit einer "Langen Nacht". Andreas Kilb (FAZ) und Tobias Kniebe (SZ) gratulieren Terrence Malick zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die vom ZDF online gestellte Reportage "Hamas-Angriff aufs Festival" (ZeitOnline), Kevin Greuterts Horrorfilm "Saw X" (Perlentaucher), Sepideh Farsis Trickfilm "Die Sirene" über eine Jugend im Iran (FD, SZ, mehr dazu hier), der neue Disney-Trickfilm "Wish" (FR, Presse, FD), Rubén Abruñas Dokumentarfilm "Holy Shit" über die Vorzüge der dunklen Masse aus dem Süden des Körpers (Tsp, FD), Eva Spreitzhofers Komödie "Wie kommen wir da wieder raus" (Standard), David Finchers Netflix-Thriller "Der Killer" (FR), die im Ersten gezeigte Mysterieserie "Schnee" (FAZ) und die Serie "Eine Billion Dollar" nach dem gleichnamigen Roman von Andreas Eschbach (TA). Außerdem hier alle Filmstarts auf einen Blick beim Filmdienst.
Archiv: Film

Musik

Auf seinem neuen Album "Uncle John's Band" überführt John Scofield unter anderem Bob Dylan in den Bereich der Jazzgitarren-Improvisation. Man hat solche Experimente auch schon scheitern gesehen, schreibt Ljubiša Tošić im Standard, doch hier geht es gut: "Wenn der Mann aus Ohio mit Bassist Vicente Archer und Drummer Bill Stewart die Klassiker neu deutet, ist statt Buchstabieren der Melodien auf Basis von Jazzharmonien ein unbeschwerter Zugang zu hören, der sich die Freiheit zur Neugestaltung nimmt. Wie ein indischer Raga beginnt etwa 'Mr Tambourine Man' rund um einen beharrlich präsenten Grundton, der später einer Countrykadenz weicht. Der Trick: Die Songs werden von Scofield kauzig an- und ausgespielt, um hernach in der Triokonversation aufgelöst zu werden. Improvisation als Dehnung, Einfärbung des Originals, mitunter auch als Neukreation in Echtzeit." Hier das Titelstück:



Mit seinem neuen Album "Schwarz" wendet sich der Schweizer Meta-Schlagersänger Dagobert dem "Todesschlager" zu, merkt Christian Schachinger im Standard an. Passt ja auch ganz gut, denn "das Leben sagt bekanntlich öfter Auweh als Schubidu. ... Mit über den Friedhof wehendem Grenzlandchor, Kirchenorgel, Blockflöte und dem Gezirpe einer Harfe startet eine Reise in die Nacht, aus der es kein Zurück gibt: 'Nicht mal mehr Gedanken an den Tod / lindern jetzt noch meine Not.' Man hat diesem Mann immer auch einen ironischen Ansatz unterstellt. Seit dem Christentum gilt der Rabe ja im Gegensatz zu den meisten Naturreligionen als Todesbote und Unheilsbringer. Das lässt sich Dagobert in 'Rabensinfonie' nicht entgehen. Er geht in den Keller und trifft dort zum Lachen Nick Cave in dessen bester Phase, zur Zeit von 'The First Born Is Dead'. Ganz so schwarzhumorig kann es Dagobert nicht, aber als Halbwilder mit seinem Zinksarg lädt er da mit Höllenorgel und Dröhngitarre zum Totentanz." Hier das Titelstück:



Außerdem: Das Sexleben von Komponisten ist fürs Verständnis ihrer Werke zwar nicht immer, in Einzelfällen aber eben doch aufschlussreich, kommentiert Jeffrey Arlo Brown im VAN-Magazin. Reinhard Kager resümiert in der FAZ das Festival Wien Modern. Besprochen werden ein Konzert des Jazzgitarristen Bill Frisell in der Elbphilharmonie (Zeit), das neue Album des Wiener Quartetts Leftovers (Standard), Adela Medes Album "Ne Lépj a Virágra" (taz), Timber Timbres Album "Lovage" (FR) und Matthew Phipps Shiels "Die Purpurne Wolke" (FAZ).
Archiv: Musik