Efeu - Die Kulturrundschau

Kirchentag auf Rum-Cola

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19.01.2024. Die Inszenierung der Correctiv-Recherche am Berliner Ensemble beherrscht die Feuilletons: taz und Tagesspiegel halten die Fahne des politischen Theaters hoch, die Welt befürchtet, dass die AfD von diesem "Akt des Kulturkampfs" profitiert, die SZ entdeckt die Komik der rechten Runde. Das neue Green Day-Album spaltet: Die Zeit schwelgt im High-School-Lebensgefühl, für den Standard ist die Band zu Normies geworden. Der Tagesspiegel erforscht die Geschichte des Stilllebens in der Dresdner Gemäldegalerie. Die FAZ lauscht dem Dialog der Eremiten Michail Pletnjow und Martha Argerich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.01.2024 finden Sie hier

Bühne

"Geheimplan gegen Deutschland" am Berliner Ensemble


Als Correctiv vor einigen Tagen aufdeckte, dass sich bei Potsdam AfD-Politiker mit Rechtsextremen getroffen hatten, um über die Deportation von Flüchtlingen zu diskutieren, setzte sich hierzulande plötzlich etwas in Bewegung: In vielen Städten Deutschlands fanden und finden immer noch Demonstrationen gegen die AfD statt. Am Mittwoch veranstaltete das Berliner Ensemble unter dem Titel "Geheimplan gegen Deutschland" eine szenische Lesung der Correctiv-Recherche (hier das Script). Das hat sich natürlich keine Zeitung entgehen lassen, die Meinungen dazu gehen aber auseinander. Clara Löffler wünscht sich in der taz, dass die Ergebnisse der Recherche "nicht nur dem ausgewählten Publikum im Theater vorbehalten bleiben. Warum nicht investigative Recherchen im Fernsehen präsentieren? In der Halbzeitpause eines Fußballspiels zum Beispiel. Oder anstelle von Werbeblöcken im Abendprogramm? Schließlich ist das Skript der szenischen Lesung für jede*n im Internet frei zugänglich." Weniger von der Breitenwirkung des Abends überzeugt ist Jens Winter, ebenfalls taz, für ihn handelt es sich um eine "Selbstinszenierung von Correctiv als James-Bond-mäßige Agenten, die mit kamerabestückten Uhren Geheimtreffen von Rechtsextremisten und deren Unterstützern auffliegen lassen."

Auch Deniz Yücel ist in der Welt kritisch eingestellt, er sieht "kein relevantes Theater, sondern die Verramschung einer journalistischen Recherche" und befürchtet Übles: "so verdienstvoll diese Recherche auch war, so murks ist das Theater dazu. Denn so verwandelt man einen aufgedeckten Skandal, der der AfD in kommenden Landtagswahlen womöglich geschadet hätte, in einen Akt des Kulturkampfs. Und der hat der AfD noch nie geschadet, ganz im Gegenteil." Patrick Wildermann insistiert im Tagesspiegel hingegen: "Diese szenische Lesung ist im Theater am richtigen Platz. Schließlich, und daran erinnern auch die Polizeiwagen vor der Tür, sind die Theater Orte, an denen eine demokratische Zivilgesellschaft ihre Anliegen frei verhandeln können sollte. Nicht zuletzt die Bedrohung der Demokratie, mit der wir gegenwärtig konfrontiert sind."

Peter Laudenbach (SZ) fühlt sich in aller Irrsinnigkeit an Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard erinnert: "Kay Voges inszeniert die Potsdamer Gesellschaft am Berliner Ensemble als heitere Tafelszene: ein langer Tisch, dahinter vier Herren (Andreas Beck, Max Gindorff, Oliver Kraushaar, Veit Schubert) und eine Dame (Constanze Becker) in schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Neigt die Correctiv-Rhetorik zur Dämonisierung und Sensationalisierung der konspirativ einberufenen Versammlung freidrehender Deutschnationaler, macht Voges genau das Gegenteil: Er entdeckt die latente Komik der aufgeblasenen Runde."

Hier kann man die Lesung im Live Stream verfolgen:



Weiteres: Irene Bazinger gratuliert Katharina Thalbach in der FAZ zum 70. Geburtstag. Besprochen werden eine Aufführung von Augusta Holmès' Oper "La Montagne Noire" in der Inszenierung von Emily Hehl am Theater Dortmund (Van Magazin) und "Das beispielhafte Leben des Samuel W." von Lukas Rietzschel am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau (Welt und SZ).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Sigrid Nunez' "Die Verletzlichen" (FR), Simone Hirths "Malus" (online nachgetragen von der FAZ), die im Fischer-Verlag erschienene Textsammlung "Worte in finsteren Zeiten" (Freitag), Maurice Zermattens "Kräuterarzt" (TA), ein Wiener Kafka-Abend von Thomas Maurer (Standard), Jürgen Flimms postum veröffentlichte Autobiografie (SZ) und Barbara Beuys' "'Die Heldin von Auschwitz'. Leben und Widerstand der Mala Zimetbaum" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Jan Davidsz. de Heem, Memento mori. Ein Totenkopf neben einem Blumenstrauß, um 1655/60. Bild: Gemäldegalerie Dresden/Elke Estel und Hans-Peter Klut.

Im Tagesspiegel freut sich Nicola Kuhn, dass die Ausstellung "Zeitlose Schönheit. Eine Geschichte des Stilllebens" nach langer Vorlaufzeit nun endlich in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zu sehen ist: Sie erlebt eine beeindruckende Schau, "die zwar um ein einziges Genre kreist, durch die Untergattungen aber in viele Richtungen weist. Vor allem hält sie die Zeit für einen Moment fest, lässt den Sturm da draußen vorübergehend vergessen. Was schlicht mit einer Madonna mit Kind und zwei Heiligen von Lorenzo di Credi Anfang des 16. Jahrhunderts begann, zu deren Füßen ein kleiner Strauß in einer Vase steht, so dass es für die Kirchenbesucher wie ein realer Altarschmuck aussah, führte im 17. Jahrhundert zu opulenten Arrangements, überladenen Bouquets. Auch wenn das Stillleben an die Vergänglichkeit und Gottesfürchtigkeit gemahnt, in Bescheidenheit übten sich dessen Maler nicht." Und sie lernt: "Im 17. Jahrhundert erlebte das Stillleben einen Boom. Das zu Wohlstand gekommene Bürgertum dekorierte seine neuen Häuser großzügig mit Malerei, um es dem Adel gleichzutun. Rund zwanzig Werke schmückten im Goldenen Zeitalter durchschnittlich einen Haushalt, in den prosperierenden Städten gab es ebenso viele Maler wie Bäcker."
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Film

Rüdiger Suchsland wundert sich auf Artechock darüber, dass das Aus für die beiden Vorstände der Babelsberger Filmstudios auffallend zögerlich nach Außen kommuniziert wurde. Um die Studios, in den Neunzigern noch als Hoffnungsträger für einen international attraktiven Produktionsstandort Deutschland gehandelt, steht es in letzter Zeit sehr schlecht: "Die Pandemie hat Babelsberg getroffen, die allgemeine Kinokrise ist viel stärker geworden. Es gab Kurzarbeit und Auftragsmangel. Und es gab 2023 keine einzige Hollywoodproduktion - natürlich haben da die Streiks in den USA auch nicht geholfen. Zugleich leiden Filmstudios heute keineswegs unter Auftragsmangel. Studios sind im Prinzip gut beschäftigt. Aber die deutschen Studios können - auch wegen der Versäumnisse der Filmförderung - nicht mit der scharfen internationalen Konkurrenz mithalten. Selbst deutsche Produktionen - Kino wie Serien - drehen in Budapest und Prag oder in Rumänien. In diesen Ländern locken nicht zuletzt Steuervorteile die Produzenten."

Rettet den Stummfilm, ruft Patrick Holzapfel in der NZZ anlässlich des Stummfilmfestivals im Filmpodium Zürich. Dabei geht es ihm zwar auch, aber beileibe nicht nur ums Archivieren und Verwalten. Sondern vor allem ums freudige Wiederentdecken und Schöpfen aus den Vollen: Denn "im Stummfilm herrscht ein ungetrübter Glaube an die visuellen Möglichkeiten vor. ... Sieht man Stummfilme, kann man nicht aufs Handy schauen oder bügeln, denn man würde alles verpassen. Lässt man sich auf sie ein, merkt man erst, wie vollgetextet die meisten Bilder sind, die heute produziert werden. Ständig werden uns potenzielle Bedeutungen vorgekaut und Interpretationen ins Ohr gesetzt. Seien es Sportkommentatoren, unzählige Podcasts und Talkshows oder Filme, in denen mehr geredet wird, als man hören kann. Oft wird von unerträglichen Bilderfluten berichtet, längst aber sind es die Interpretationen der Bilder, vor denen man sich retten muss. Stummfilme bieten da trotz den bisweilen erklärenden Zwischentiteln einen anderen, durchaus befreienden Ansatz", in ihren hält sich "eine aufregende Ambiguität".

Weitere Artikel: Der Londoner Filmemacher Ayo Tsalithaba hat im Zuge der "Strike Germany"-Kampagne seinen Film "Atmospheric Arrivals" aus dem Programm des Forum Expanded der Berlinale abgezogen. Anna Bitter führt auf Artechock durch die Filme von Catherine Breillat, deren "Im letzten Sommer" (unsere Kritik) gerade in den Kinos läuft. Lukas Foerster resümiert für Cargo das Kölner Symposium "Prozessieren" über juristische Verfahren im Dokumentarfilm. Dunja Bialas empfiehlt auf Artechock die Retrospektive Claire Simon im Filmmuseum München. Arne Koltermann blickt für den Filmdienst auf die Geschichte des Radios im Film. Marian Wilhelm informiert sich für den Standard, was es mit dem neuen Berufsfeld der Intimitätskoordination bei Dreharbeiten auf sich hat. Eva Dinnewitzer schaut sich für die Presse den Hype um Jeremy Allen Whites Muskelpakete genauer an.

Besprochen werden Yorgos Lanthimos "Poor Things" (Welt, unsere Kritik), Franco Rossos Musikfilm "Babylon", der laut Robert Wagner auf critic.de "jede Menge trotzigen Groove" bietet, und die ARD-Serie "Oderbruch" (Tsp). Hier außerdem der Überblick über die Artechock-Kritiken zur aktuellen Kinowoche.
Archiv: Film

Musik

Jan Brachmann resümiert in der FAZ das Luzerner Festival "Le piano symphonique", wo ein gemeinsames Konzert von Michail Pletnjow und Martha Argerich zu einem "Dialog zweier asketischer Eremiten" wurde, "wie von Jusepe de Ribera gemalt: Sie haben kein Interesse mehr daran, aufgeweckt und gewitzt zu wirken. Die Schule der Beflissenheit haben sie vor Jahrzehnten verlassen. Aber bei den leisen Harmoniewechseln, die sie Falltüren gleich öffnen, erzählen sie davon, dass Gott dem Menschen am nächsten ist, wenn er ihm den Boden unter den Füßen wegzieht - und lächeln weise dazu." Ein kleiner Auszug:



Sehr beeindruckt ist SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber vom Auftritt Lin Liaos, die zum Auftakt des Berliner Ultraschall-Festivals das Deutsche Symphonie-Orchester dirigiert hat. Zum Pult geht sie ohne viel Aufhebens. "Sogleich erkennbar ihre musikalische Energie, die aber mit einschließt, dass sie sich, am Pult angekommen, nicht sogleich und schon erregt in die dröhnenden Schlaggewitter der Komposition von Alexandra Filonenko hineinstürzt, wie es Dirigenten brodelnden Gemüts gern tun, sondern dass sie eine ganze Zeit lang abwartet, Ruhe sucht und findet, Konzentration quasi zwingend auf das in voller Größe angetretene Deutsche Symphonie-Orchester überträgt." Ihr "gestenreiches Dirigieren ohne Taktstock bevorzugt weit ausschwingende Arme, punktgenau gesetzte, dynamische und rhythmische Zeichen, bis in rigorose Klangattacken hinein."

Die Poppunk-Stadionhelden Green Day legen mit "Saviors" ein neues Album vor. Julia Lorenz erzählt auf Zeit Online wie die Band mit ihrem Bengel-Punk in den Neunzigern erst das Lebensgefühl einer ganzen Gymnasiastengeneration auf den Punkt brachten, und schließlich mit "American Idiot" im Jahr 2004 zu einem Sprachrohr fürs amerikanische Unbehagen am eigenen Land wurden. Ähnliche Töne finden sich auch auf diesem Album: Zwar "wollten Green Day nie die titelgebenden Saviors sein, die großen Welt- und Seelenretter, doch sie sind es natürlich immer gewesen. Und so klingt ihr neues Album wie ein Kirchentag auf Rum-Cola, vielleicht auch wie ein Klassentreffen mit Filmriss und deep talk, bei dem der Oberstufenclown zum Heulen ausnahmsweise nicht aufs Klo geht. Cooler wird es nicht mehr in diesem amerikanischen Traum." Jakob Biazza von der SZ schätzt Billie Joe Armstrong von Green Day zwar als "einen der wirklich großen Songwriter seiner Generation" und hört auf dem Album auch ein, zwei Hits. Doch der Rest soll "wohl eine Art Querschnitt aus dem bisherigen Schaffen der Band sein - und muss daran ein wenig unausweichlich scheitern. Es gibt nun mal keinen catchy Rock-Antenne-Alternative-Grunde-Stadtion-Power-Pop mit echter Punk-Attitüde und neuerdings auch kleinerem Brit-Pop-Tüdelü. Zwischendrin sind Gitarren-Stumpfsinn und Druckabfall also doch ein wenig virulent." Für den Standard zeichnet Christian Schachinger Green Days Weg von einer Punkerspelunken- zur Stadionrockband nach und kommt zu dem Schluss: "Poppunk, inklusive der optischen Normierung im ewiggleichen Stachelfrisur-, Schottenkaro- und Grindtattoo-Outfit, ist eigentlich die Pest" - auch wenn ihm immerhin gefällt, dass Green Day die eine oder andere okaye politische Botschaft in die Stadions pusten.



Weitere Artikel: Hartmut Welscher spricht für VAN mit der Mentaltrainerin Petra Keßler über die psychischen und physischen Belastungen, denen Berufsmusiker ausgesetzt sind. Im VAN-Essay denkt Wendelin Bitzan über Nikolaj Medtners Klavierkonzerte nach. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Kai Sina über den populären christlichen Popsong "Oceans".

Besprochen werden zwei Berliner Bartók-Abende mit den Berliner Philharmonikern und dem Konzerthausorchester (VAN), Florian Völkers Studie "Kälte-Pop" über die frostige Coolness der Neuen Deutschen Welle der frühen Achtziger (Freitag), ein von Beat Furrer dirgiertes Konzert in Wien mit eigenen Kompositionen (Standard), das neue Album von Sleater-Kinney (taz) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Andreas Dorau (Tsp).

Archiv: Musik