Efeu - Die Kulturrundschau

Teufelspakt auf Erden

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05.03.2024. Die NZZ befürchtet in Jonathan Glazers Auschwitz-Film "The Zone of Interest" eine Trivialisierung des Bösen. Der Eurovision Song Contest bewertet politische Songtexte nach zweierlei Maß, schreibt sie außerdem: Bei Israel ist man überpenibel. Die FAZ begegnet in Düsseldorf den finstersten Gesellen der Kunstgeschichte. Die nmz ruft bei Elisabeth Stöpplers Inszenierung einer Bernhard Lang-Oper in Stuttgart begeistert: "Who the hell is Dora?"
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.03.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Dora" Foto: Maren Siegmund.

"Who the hell ist Dora?", ruft Joachim Lange begeistert in der nmz, nachdem er Elisabeth Stöpplers Inszenierung von Bernhard Langs Oper "Dora" an der Staatsoper Stuttgart gesehen hat. Aufführung und Antwort auf dieses Motto des Abends können den Kritiker vollkommen überzeugen: "Der zentrale Clou dieser Musiktheater-Neuheit ist eine Teilantwort auf die Eingangsfrage. Dora ist nämlich auch so eine Art Faust-Figur. Keine willkürlich zur Fausta mutierte Zentralfigur des deutschen Literaturerbes. Sondern eine junge Frau Mitte zwanzig (so die Rollenbezeichnung), die es nicht mal zu den Studien gebracht hat, an denen ihr prototypisches Vorbild so verzweifelt, dass er den - höheren Ortes - ausgeheckten Teufelspakt auf Erden eingeht. Doras Version des Habe-nun-ach-Monologes beginnt mit der modernen Nullbock-Variante 'Wie ich diese Landschaft hasse' und benennt Langeweile als Grundfarbe ihres Lebens im Bannkreis ihrer Familie. Er endet mit: 'Gelangweilt endet nun mein Gang, und gelangweilt trete ich in dieses Siedlungshäuschen ein'.

Auch Reinhard Karger hält diese Inszenierung einer "bohrenden Suche nach Sinn" in der FAZ für sehr gelungen, daran hat auch das Orchester unter der Leitung von Elena Schwarz seinen Anteil: "Langs rasante Sextolen-Loops waren bei ihr in ebenso sicheren Händen wie die zarten Stellen des Stücks, A-cappella-Chöre oder sparsam begleitete Soli der Protagonisten. Überhaupt war es überraschend, welchen Sog das eher klein besetzte Orchester zu erzeugen verstand." Besprechungen gibt es außerdem in FR und SZ.

Weitere Artikel: Über die "Schlacht in der Cable Street", bei der sich 1936 Kommunisten, Arbeiterinnen und Juden der British Union of Fascists in den Weg stellten, gibt es nun ein Musical im Southwark Playhouse, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Die SZ begutachtet die jüngsten Theaterpremieren in Berlin und ist gar nicht begeistert.

Besprochen werden Barry Koskys Inszenierung der Händel-Oper "Hercules" im Schillertheater, dem Ausweichquartier der Komischen Oper (taz), Christina Gegenbauers Inszenierung von Deirdre Kinahans Stück "Der Vorfall" Stadttheater Bremerhaven (taz), Pınar Karabuluts Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" (Welt), Jan Bosses Inszenierung von Eugène Labiche "Die Affäre Rue de Lourcine" (tsp, FAZ, nachtkritik), "Der große Wind der Zeit" nach einem Roman von Joshua Sobol in der Inszenierung von Stefan Kimmig am Schauspiel Stuttgart (SZ), Sebastian Baumgartens Inszenierung von Roman Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper "Amerika" am Opernhaus Zürich (NZZ).
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Film

Andreas Scheiner formuliert in der NZZ Vorbehalte gegenüber Jonathan Glazers "The Zone of Interest" (unsere Kritik), da der Film den antisemitischen Hass seiner Figuren nicht zu fassen kriegt und den Holocaust auf ein kaltes, logistisches Unternehmen reduziert. Als Auschwitz-Kommandant Höß die "Pläne für ein neues Krematoriumssystem vorstellt, redet er von der 'Ladung', die möglichst effizient verbrannt werden müsse." Sicher, "Hannah Arendt betonte in ihrem Bericht zu Adolf Eichmann und der 'Banalität des Bösen', dass die Sprache der Nazis darauf aus war, die Ermordung der Juden möglichst zu abstrahieren". Doch Höß "war schon in den Zwanzigerjahren ein glühender Judenhasser, der gerne selber Hand anlegte. Indem Glazer ihn auf den grauen Technokraten reduziert, riskiert der Film eine Trivialität des Bösen."

Außerdem: Jakob Thaller führt im Standard durch das Programm des Jüdischen Filmfestivals in Wien. Für die FAZ spricht Mina Marschall mit der Unterwasser-Kamerafrau Christina Karliczek Skoglund über deren in der ARD gezeigte Doku "Geister der Arktis".

Besprochen werden Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (taz, FAZ), Ethan Coens lesbische Krimikomödie "Drive Away Dolls" ("schlingert von einem Humorschlagloch in den nächsten Witzgraben", muss Nadine Lange im Tagesspiegel feststellen), die Netflix-Serie über Alexander den Großen, die in Griechenland wegen einiger homosexueller Liebesszenen für politische Diskussionen sorgt (Presse, mehr dazu bereits hier) und die im ZDF gezeigte, dänische Thrillerserie "Oxen" (FAZ).
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Musik

Einigermaßen schäbig findet es Matthias Venetz, wie sich der Eurovision Song Contest gegenüber Israel in den letzten Wochen verhalten hat: Die Ausschlussforderungen diverser Länder und Initiativen wehrte die Veranstaltung zwar noch ab, dafür ließ man sich aber gleich zwei Lieder vorlegen, die beide zumindest chiffriert an das Hamas-Massaker erinnern, aber als zu politisch abgelehnt wurden und nun von israelischer Seite aus überarbeitet werden. Doch "wer sich die jüngere Vergangenheit des ESC anschaut, könnte zum Schluss kommen: Ob eine Erinnerung politisch ist, hängt davon ab, wer erinnern will. 2016 gewann die ukrainische Sängerin Jamala mit den Lied '1944' den ESC. Es bezieht sich auf ein Verbrechen gegen die Volksgruppe der Krimtataren. ... Auch damals wurde Kritik geäußert, das Lied sei zu politisch. Doch die EBU winkte ab und teilte mit, weder Titel noch Inhalt des Liedes hätten einen politischen Hintergrund. Eine deutliche politische Botschaft platzierte 2019 die isländische Band Hatari. Während der Punktvergabe in Tel Aviv hielten die Bandmitglieder Schals mit der palästinensischen Fahne in die Kamera. Später verhängte die EBU eine Buße von 5000 Euro gegen das isländische Fernsehen. Interessant ist dabei, dass Hatari bereits vor dem ESC angekündigt hatte, die Veranstaltung für eine Stellungnahme zu nutzen."



Wenn die französische Flauschpop-Band Air, wie eben in Berlin geschehen, dreimal hintereinander ihr in den Neunzigern erschienenes Album "Moon Safari" aufführt, dann ist das quasi in Vintage-Nostalgie verpackte Vintage-Nostalgie, erfahren wir von Dirk Peitz auf Zeit Online: Damals rief das Album sehnsuchtsvollen Retrofuturismus als Gegenwarts-Signatur aus - und heute erinnert man sich eben sehnsuchtsvoll an dieses Damals. "Die Illusion jedenfalls gelingt, dass Musik wie die von Air neben der Zeit existieren kann, weil sie nie für eine bestimmte gemacht wurde." Dies wäre nur "dann problematisch, wenn die hergebrachte Regel noch gelten würde, dass der Fortschritt in der Popmusik zwingend mit einem allgemeinen emanzipativen in der Gesellschaft einhergeht und das Neue in der Popmusik auch immer als Ausdruck der Befreiung marginalisierter Stimmen zu verstehen ist." Doch "das Konzept Vintage hat den bedeutsamen Bestandteil des Fortschrittsglaubens in der Popkultur ohnehin fragwürdig gemacht, nämlich dass Musik wesentlich zur Generationengründung und -abgrenzung beiträgt."

Weiteres: Joachim Hentschel berichtet in der SZ von der Trauerfeier für Frank Farian. Besprochen wird das neue Album der Idles (NZZ).

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Literatur

Markus Bauer resümiert in der FAZ ein Festival zur rumänischen Gegenwartsliteratur. Besprochen werden unter anderem Roberto Savianos "Falcone" (FAZ), Alia Trabucco Zeráns "Mein Name ist Estela" (online nachgereicht aus der WamS), Romane von Lea Singer und Jan Koneffke über Joseph Roth (NZZ), Michela Murgias "Drei Schalen" (taz) und Volha Hapeyevas "Samota" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Mary Sibande. To everything there is a season, 2019. Foto: Kunstpalast Düsseldorf. 

FAZ-Kritiker Stefan Trinks begegnet in der Ausstellung "Tod und Teufel. Faszination des Horrors" im Kunstpalast Düsseldorf den finstersten Gestalten der Kunstgeschichte: Von Hans Baldung Griens "Hexensabbat" über die Schwarze Romantik zu Ende des 19. Jahrhunderts bis zum "Zombie Boy" Rick Genest, der mit seinen gruseligen Tattoos Lady Gaga begeisterte - die "Ikonographie des Bösen" wird hier in fast allen Facetten gezeigt, so Trinks. Neben Dämonen und Monstern gibt es aber auch subtilere Darstellungen des Horrors: "Für die fotografische Fuge der finalen 'Letzte(n) Mahlzeit im Todestrakt' wiederum lichtet der Brite Mat Collishaw sogenannte Omega Meals, letzte Essenswünsche zum Tode Verurteilter in den Vereinigten Staaten wie extradicke Burger oder auch nur ein anrührendes Glas wie von Muttern eingelegter Gurken, vor nachtschwarzem Hintergrund in der barocken Manier niederländischer Vanitas-Stillleben ab. Mit diesen Henkersmahlzeiten von als Mörder überführten Individuen führt Collishaw die Gattung auf einen unüberbietbaren Endpunkt des hochsymbolischen Exitus."

"Der Erinnerung an den Genozid wird man in Ruanda kaum entkommen", weiß Tom Mustroph, der für die taz die Kigali Triennale besucht hat. Natürlich ist die Erinnerung an die grausamen Verbrechen auch in der ausgestellten Kunst allgegenwärtig, hinzu kommen jedoch, so Mustroph, neue Perspektiven, Fragen und vor allem - Hoffnung: "Die ausgestellte Kunst selbst ist auffällig optimistisch. Manzi Jackson etwa schickt mit der zwischen Surrealismus und Technikfaszination changierenden Bildserie 'Take Me to Space' afrikanische Astronautinnen in eine extraterrestrische Wunderwelt mit üppiger Fauna. Ein großformatiges Foto von Gilles Dusabe fängt eine Frau im roten Kleid ein, die waagerecht über der Erde zu schweben scheint. Und auch die Fotoarbeit 'Kigali on the Horizon' von Abdul Mujyambere enthält eine der Zukunft zugewandte Note. Männer und Frauen stehen in einer Reihe hintereinander, sind durch ein Seil verbunden und bewegen sich vom Ufer eines Sees zu dessen Mitte hin. Alle drei Künstler kommen aus Kigali, Gilles Dusabe lebt zeitweise auch in Genf."

In der FR rollen der Kunsthistoriker Leonhard Emmerling und der Kulturmanager Wolf Iro den Documenta Skandal umd Ranjit Hoskoté (unser Resümee) noch einmal auf und fragen, welche Haltung für einen Neubeginn nötig wäre: "Der notwendige Neuanfang der Documenta muss darin liegen, sich von Antisemitismus klar zu distanzieren und ihm den Raum zu verwehren - angesichts der Vielzahl problematischer Haltungen in der Kunstszene keine geringe Aufgabe. Er muss aber auch darin bestehen, dem Anspruch einer Weltkunstschau gerecht zu werden. Die Welt mit ihrer Fülle von Perspektiven muss in einem direkten Sinne zur Sprache kommen, denn 'Sprechen begründet ein Subjekt' (L. Martín Alcoff). Man muss der Welt das Recht einräumen, die Documenta selbst zu perspektivieren. Perspektivieren, wohlgemerkt, heißt nicht Relativieren."

Weiteres: Im Tagesspiegel unterhalten sich Christiane Meixner Birgit Rieger Cristina Plett mit fünf Künstlern über ihre aktuellen Ausstellungen in Berlin, unter anderem mit dem Fotografen Yero Adugna Eticha und der iranischen Filmemacherin Shirin Neshat.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zum Surrealismus in Brüssel: "Imagine! 100 Years of International Surrealism." in den Königlichen Museen der Schönen Künste und "Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium" im Bozar (SZ) und die Ausstellung "Dan Flavin" im Kunstmuseum Basel (NZZ).
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