Efeu - Die Kulturrundschau

Ikonische Frauenbilder im Goldrahmen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2024. In Russland gibt es nun eine Liste mit verbotenen Büchern, berichtet die FAZ. Wir präsentieren ein Video von Sharon Cunio, der Frau des von der Hamas entführten Schauspielers David Cunio. Nachtkritik kämpft mit Fanny Brunners Adaption von Jacinta Nandis "50 Ways to Leave Your Ehemann" in Paderborn für die Rechte von Müttern. Die taz lauscht, wenn Mariana Sadovska dem russischen Vernichtungswillen ukrainische Volkslieder entgegensetzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2024 finden Sie hier

Film

Pascal Blum hat für den Tagesanzeiger den rumänischen Autorenfilmer Radu Jude getroffen, dessen neue Satire "Don't Expect Too Much from the End of the World" den auf Social Media grassierenden Frauenhass von Figuren wie Andrew Tate aus der Maskulinistenszene aufs Korn nimmt. Nur dass sein Tate Bobiță heißt, sich aber nicht minder in sexistischem Unrat ergießt. Bei der eher kunstfernen deutschen Kulturbürokratie, die es gerne geschmeidig hätte, führt das zu Sorgenfalten: "Eine deutsche Förderanstalt wollte den Film wegen der unflätigen Aussagen nicht unterstützen. Die Förderer hielten Bobiță für gefährlich: Was, wenn die Leute denken, in den Beschimpfungen stecke die Botschaft des Films? Sie forderten das Unmögliche: dass die Übertreibung abgeschwächt wird. Beim Gespräch in Zürich wundert sich Radu Jude über die Kritik: Gerade eine mildere Form wäre das höchste Risiko - weil man sie dann tatsächlich ernst nimmt. ... Wieso aber zieht Rumänien heute einen Frauenhasser wie Andrew Tate an? Weil er hier habe machen können, was er gewollt habe, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sagt Jude. Das pornografische Webcam-Geschäft, das Tate betrieben habe, sei heute ein riesiges Business in Rumänien."

Die Berlinale verstand sich immer schon als ein politisches Filmfestival. Es gehört zu ihren Verdiensten, dass sie sich für Filmleute, die auf der Berlinale Erfolge hatte, wie Jafar Panahi, explizit und öffentlich einsetzte. Nicht so für den israelischen Schauspieler David Cunio, wie eine Recherche der SZ herausgefunden hat (unser Resümee). Trotz vielfacher Hinweise darauf, dass Cunio, der 2013 einen Film auf der Berlinale hatte, heute zu den Geiseln der Hamas gehört, hat die Berlinale seine Geschichte nicht thematisiert - auf der Abschlussfeier, die durch ihre propalästinensischen Bekundungen Skandal machte, hätte sie zumindest teilweise dieses Video zeigen können, ein Gespräch mit Cunios Frau Sharon, die mit ihrem Mann und ihren gemeinsamen Töchtern zu den Entführten gehörte. Sie gehörte zu auch zu den befreiten Geiseln. Hier erzählt sie von den Umständen der Entführung.



Im Spiegel-Interview sagt Claudia Roth jetzt, wo es zu spät ist: "Es ist bitter, dass die missglückte und zum Teil unerträgliche Preisverleihung jetzt die ganze Berlinale überschattet. Und diese Äußerung bezog sich auf die Berlinale insgesamt zuvor. Wir haben uns ja bereits nach dem 7. Oktober gefragt: Wie sollte die Berlinale mit dem Terroranschlag auf Israel und dem Krieg in Gaza umgehen? Was könnte bei der Berlinale alles passieren?"

Weitere Artikel: Harry Nutt hat in der Berliner Zeitung wenig Hoffnung, dass die Aufarbeitung des "Überbietungswettkampfs moralischer Eitelkeit", der sich ihm am Ende der Berlinale bot, mehr zu Folge hat als lediglich die "zähe Dehnung der jeweiligen Positionen und Meinungen". Susanne Lenz spricht für die Berliner Zeitung mit dem Regisseur İlker Çatak über dessen Kritik an den deutschen Medien, die seine Oscarnominierung für Deutschland zu oft unterschlagen hätten (unser Resümee). Der Tagesanzeiger hat für die SZ Johanna Adorjáns Gespräch mit Jonathan Glazer über dessen in der Jungle World besprochenen "The Zone of Interest" online nachgereicht (unsere Kritik hier). Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja erzählt (online nachgereicht) in der FAS von dem beeindruckenden Filmerlebnis, das sich ihr auf der Berlinale mit dem ukrainischen Film "Intercepted" bot (mehr zu diesem Film bereits hier). Christiane Peitz staunt im Tagesspiegel, dass Michael Lockshins russische Bulgakow-Verfilmung "Meister und Margarita" in Russland trotz putinkritischer Spitzen noch immer äußerst erfolgreich läuft und noch nicht aus dem Verkehr gezogen wurde (hier und dort unsere Resümees). Philipp Hedemann plaudert für den Standard mit Uschi Glas, die eben 80 Jahre alt geworden ist. Erste Filmfirmen gehen gegen TikTok vor, da dort immer mehr in Einzelteile zerlegte, aber dann doch in Gänze sehbare Spielfilme auftauchen, berichtet Ann-Marlen Hoolt im Tagesanzeiger. Valerie Dirk schreibt im Standard einen Nachruf auf den bedeutenden Filmwissenschaftler David Bordwell.

Besprochen werden Saim Sadiqs "Joyland" (Standard), Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (Presse) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Shōgun" (taz).
Archiv: Film

Literatur

In Russland kursiert eine Liste mit etwa 300 Titeln, die aus den Buchläden lieber entfernt werden sollten, berichtet Anna Narinskaya in der FAZ. Dabei handelt es sich um Bücher, darunter "zahlreiche wegweisende Texte der Weltkultur", die sich in irgendeiner Form mit Homosexualität befassen. "Ein besonderer Zynismus der aktuellen Situation besteht darin, dass die Liste der zur Verbreitung verbotenen Bücher nicht 'von oben' kommt, sondern 'von unten' vorgeschlagen wurde. Es handelt sich also vermutlich nicht um eine strenge Anweisung der Regierung, sondern um eine Eigeninitiative der Mitarbeiter der Buchindustrie, die die Traditionen und Gesetze des heutigen Russlands respektieren. Tatsächlich fürchten die Verleger und Buchhändler, wegen des Vorhandenseins von 'Propagierung nicht traditioneller Beziehungen' in den ihnen unterstellten Betrieben mit Strafzahlungen belegt oder gar gerichtlich belangt zu werden, und versuchen sich irgendwie abzusichern."

Außerdem: In der taz stellt Harff-Peter Schönherr die aus bibliophilen Kleinoden bestehende Buchreihe "European Essays on Nature and Landscapes" im KJM Buchverlag vor. Die schwedische Comiczeichnerin Anneli Furmark beantwortet den Tagesspiegel-Fragebogen zu ihrer Arbeit. Ronald Pohl eröffnet die Standard-Artikelreihe zum Karl-Kraus-Jubiläumsjahr. Eva Karnofsky führt im Literaturfeature für den Dlf Kultur durch die Literatur der Niederlande und Flanderns, die in diesem Jahr auf der Leipziger Buchmesse zu Gast sind.

Besprochen werden unter anderem Nicole Hennebergs Biografie über Gabriele Tergit (Standard), Jürgen Theobaldys Band "Nun wird es hell und du gehst raus" mit ausgewählten Gedichten (FR), Jacqueline Kornmüllers "Das Haus verlassen" (Standard), Michael Lentz' "Heimwärts" (NZZ) und neue Krimis, darunter Fabio Stassis "Die Seele aller Zufälle" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Christian Morgensterns "Denkmalswunsch":

"Setze mir ein Denkmal, cher,
ganz aus Zucker, tief im Meer ..."
Archiv: Literatur

Musik

Auf ihrem neuen Album "Songs of Wounding" lässt die aus der Ukraine stammende, in Köln lebende Sängerin Mariana Sadovska gemeinsam mit dem Musiker Max Andrzejewski und dem aus Lviv stammenden Gesangstrio Kurbasy ukrainische Volkslieder auf Avantgarde und Neue Musik treffen, schreibt Jens Uthoff in der taz: "Die musikalische Ausgrabungsarbeit ist ihr ein politisches Anliegen - Russland hat das eigenständige Lied- und Kulturgut der Ukraine vor und nach der Sowjetzeit immer zu unterdrücken versucht." So "kämpft sie gegen diesen Vernichtungswillen an, nach dem 24. Februar 2022 hat sie sich auch mal als Teil eines 'musikalischen Bataillons' bezeichnet. ... Viele Songs erinnern an Klagelieder, etwa 'Nachtigall' und 'Der Wind weht aus den Bergen', bei denen der Gesang im Vordergrund steht." Zu hören sind aber auch "Brüche innerhalb der Songs, etwa wenn hymnische und harmonische Passagen übergehen in chaotisch-nervöse Töne der Rhythmussektion. Damit gelingen Sadovska und ihren Mitmusiker:innen überraschende Interpretationen. Ursprünglichkeit und Tiefe gehen den Songs keineswegs verloren - ganz im Gegenteil, sie gewinnen durch diese Neubearbeitungen." Die Wurzeln des Projekts liegen bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, in der Outernational-Konzertreihe:



Weitere Artikel: Marc Zitzmann erinnert in der FAZ daran, wie auch Musik in die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager eingebunden war: Es ging um "koordinieren, valorisieren, unterhalten, bestrafen". Bei den Brit Awards räumte die Newcomerin Raye ordentlich ab, meldet Karl Fluch im Standard. Joachim Hentschel telefoniert in der SZ den für die explodierenden Ticketpreise in der Popkonzertbranche Verantwortlichen hinterher. Jean-Martin Büttner wirft für die NZZ einen Blick auf die Liebe von Popstars zu Luxusautos. Elena Oberholzer erinnert in der NZZ an die vor 30 Jahren gegründeten Spice Girls.

Besprochen werden eine vom Tonhalle-Orchester musikalisch unterlegte Aufführung Arnold Fancks und Georg Wilhelm Pabsts Stummfilmklassiker "Die weiße Hölle vom Piz Palü" in Zürich (NZZ), zwei Berliner Brahms-Abende mit Elisabeth Leonskaja (Tsp), ein Auftritt von Faber in Berlin (taz), Tyler Childers' Country-Konzert in Hamburg (SZ) und die Netflix-Doku "The Greatest Night in Pop" über die Entstehung des Benefizsongs "We Are the World" (SZ).
Archiv: Musik

Architektur

In der Debatte um das historische Zentrum Berlins wird immer noch stark aus westdeutscher Perspektive gedacht, beklagt Hans Stimman in der FAZ. Die andauernden Diskussionen verwiesen "auf die Schwierigkeiten bei der Suche nach dem verlorenen Ganzen der Stadt. Die Auseinandersetzungen über die Bebauung des Molkenmarktes - immerhin des ältesten Platzes Berlins -, das Ausklammern der Quartiere rund um St. Marien und der Umgang mit dem einstigen Heilig-Geist-Viertel als bürgerliches Gegenüber des Stadtschlosses, das von 1986 an von der DDR zur Grünfläche namens Marx-Engels-Forum umgebaut wurde, werden provinziell und mit parteipolitischer Färbung geführt. So ist es bis heute bei den Fragmenten der untergegangenen sozialistischen Gesellschaftsutopie geblieben, deren Leere von Theoretikern inzwischen allerdings als der eigentliche Reichtum einer autogerechten und durchgrünten Stadtlandschaft angesehen wird. Eine andere theoretische Position der Stadtentwicklung sieht die stadtgestalterische Essenz Berlins gerade in der durch die Teilung verstärkten Polyzentralität."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Berlin, DDR, Berliner Mauer

Kunst

Die originale Zeichnung von Lucas Cranach aus dem Louvre diente Christian Goller als Vorlage für ein gefälschtes Tafelgemälde (Abb. Original: bpk | RMN - Grand Palais | Jean Popovitch, Fälschung: HeFäStuS, Universität Heidelberg, Susann Henker)

"Aus dem Falschen das Richtige lernen": mit diesem "recht habermasianischen" Untertitel eröffnet eine Ausstellung zu "Kunst und Fälschung" im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg, bei der FAZ-Kritiker Thomas Thiel die "Aura des Kunstfälschers" genießt. Die Ausstellung will den Fälschern weder huldigen, noch sie verdammen, so Thiel, die Faszination für die talentierten Betrüger bleibt aber ungebrochen. "Heldengeschichten" werden hier allerdings nicht erzählt, meint der Kritiker, der zum Beispiel die Fälscherlaufbahn von Elmyr de Hory nachverfolgen kann, der seinen Besitz an die Nazis und seinen Vater in Auschwitz verlor und in seinem Pariser Atelier begann, berühmte Maler nachzuahmen. Die Ausstellung zeigt vor allem aber auch, wie man den Duplikaten eigentlich auf die Schliche kommen kann: "Der Kunstfälscher hat in der Regel vier Gegner. Der eine ist die Selbstüberschätzung, der zweite die Ruhmsucht, der dritte die Gewohnheit und der vierte der Anachronismus. An den Heidelberger Exponaten lässt sich das gut beobachten. Das Lovis Corinth zugeschriebene Porträt eines Frauenkopfs wirkt täuschend echt, nur leider kam die gewählte Frisur erst nach dem Tod des Künstlers in Mode. Die Farbgebung in der van Gogh zugeschriebenen Seenlandschaft ist von höchster Intensität. Derart flammend hat der Maler aber erst in einer späteren Phase gemalt. In anderen Fällen ist der Pinselduktus oder die Signatur verkehrt und manchmal auch das Bild auf den Kopf gestellt."

Weitere Artikel: Marcus Woeller meldet in der Welt, dass das "Porträt von Geneviève" von Françoise Gilot, der ersten Frau, die "Picasso den Laufpass gab", bei Sotheby's versteigern wird.
Archiv: Kunst

Bühne

Das "Mädchen mit dem Perlenohrring" in "50 ways to leave your Ehemann am Theater Paderborn. Foto: Meinschäfer Fotografie.

"Wenn es eine Divorce Barbie gäbe, hätte sie kaputte Schuhe, Alditüten und Mahnungen als Ausstattung", hört Nachtkritikerin Karin Yeşilada bei Fanny Brunners Adaption von Jacinta Nandis Buch "50 Ways to Leave Your Ehemann" am Theater Paderborn: Der Regisseurin ist es gelungen, Brunners wütende Abrechnung mit dem Patriarchat witzig zu inszenieren, ohne dabei die Botschaft zu untergraben, freut sich die Kritikerin. Es geht um die prekäre Situation alleinerziehender Frauen, um unbezalte Care-Arbeit, gesellschaftliche Vorurteile und all die Dinge, von denen manch einer glaubt, wir hätten sie längst überwunden: "Gleich zu Beginn setzt sie starke Bilder, und zwar wortwörtlich, denn drei Schauspieler stellen drei ikonische Frauenbilder im Goldrahmen nach: Zunächst erscheint Jan Gerrit Brüggemann als Jan Vermeers leicht zickiges 'Mädchen mit dem Perlenohrring', dann gibt Kai Benno Vos die hintersinnig lächelnde 'Mona Lisa' von Leonardo da Vinci, und schließlich erscheint Johannes Karl als arg zerzauste, üppig ausgepolsterte 'Venus' von Sandro Botticelli - großartig! Wie Mädchen und Mona Lisa dann der 'Geburt der Venus' (auf dem Küchentisch in der Schaumstoff-Muschel balancierend) im riesigen Bilderrahmen beiwohnen ist urkomisch, und ihre zwischenzeitlichen Eröffnungsargumente gehen dabei fast schon unter. Danach und für den Rest des Stückes machen sich die drei dann in schwarzen Jogginghosen und Unterhemden als Hausmänner in der Wohnung zu schaffen."

Besprochen werden Bérénice Hebenstreits Inszenierung von Gerhild Steinbuchs Stück "Stromberger oder Bilder von allem" am Voralberger Landestheater (nachtkritik), der zweite Teil von Anna-Sophie Mahlers Adaption von Uwe Johnsons "Jahrestage" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik), Oliver Frljićs Adaption von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" am Gorki in Berlin (nachtkritik), Yana Ross' Adaption von "Sterben Lieben Kämpfen" von Karl Ove Knausgård am Berliner Ensemble (taz), Stefano Gianettis Inszenierung von Karol Szymanowskis Oper "Król Roger" im Rahmen des Kurt Weill Fests in Dessau (nmz), Nora Schlockers Inszenierung von Suzie Millers Monolog "Prima Facie" am Münchner Residenztheater (SZ), Andreas Merz-Raykov' Natalka Vorozhbyt Stück "Non-Existent" am Schauspiel Essen (SZ), Ingo Kerhofs Inszenierung von György Kurtágs "Fin de partie" an der Oper Dortmund (FR), Nadav Zelners Tanzstück "Glue Light Blue" am Hessischen Staatsballett in Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne