Efeu - Die Kulturrundschau

Keine guten Inhalte für eine Show

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21.03.2024. Die Filmkritiker feiern Hirokazu Kore-Edas Film "Die Unschuld" über eine japanische Schule, der ihnen die schönsten vierzig Minuten des Kinojahres beschert. "Wird hier auf die Waage gelegt, was nicht wägbar ist", fragt die taz im Humboldt Forum, das derzeit Beutekunst der Napoleonischen Kriege, der Kolonialzeit und des Nationalsozialismus zeigt. Gefragt, weshalb er keinen Künstler aus Israel eingeladen hat, rät Adriano Pedrosa, Kurator der Kunstbiennale Venedig, der Welt, mal bei Wikipedia nachzuschauen, was der Globale Süden ist. Der SZ dröhnen die Ohren nach den Palästina-Slogans der Band Idles in Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2024 finden Sie hier

Literatur

Der Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse zur Literatur der Niederlande und Flanderns bietet vor allem jungen literarischen Stimmen ein Podium, freut sich Geertjan de Vugt in der SZ. "Dafür gibt es gute Gründe: Die spannendsten literarischen Entwicklungen findet man heute in den Niederlanden bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die dem deutschen Publikum noch eher unbekannt sind. Von dieser jungen Generation werden Themen wie der Klimawandel, Gendergerechtigkeit, die Migrationskrise, Mutterschaft, Mehrsprachigkeit, KI oder das Leben im postkolonialen Zeitalter künstlerisch erforscht und verarbeitet." Für den Tagesspiegel stattet Gerrit Bartels der Literaturszene in Amsterdam einen Besuch ab.

Der langjährige und beliebte Chef der Leipziger Buchmesse Oliver Zille ist bekanntlich gegangen. In einem epischen Zeit-Gespräch mit August Modersohn zeigt sich, dass diesem Rücktritt eine Menge Ärger vorausging - Zille fühlt sich offenbar von der Politik im Stich gelassen: "Die Buchmesse ist eben nicht nur eine Messe, sondern zugleich Literaturfest und noch viel mehr. Dafür braucht es andere Rahmenbedingungen: strukturell, personell, organisatorisch und auch bezüglich der Verfügungsgewalt über die erwirtschafteten Finanzen. Dazu gab es keine Einigkeit mehr."

Der Schriftsteller Franz Dobler erzählt in der taz von seinem krachend gescheiterten Versuch, eine Schulklasse für Lyrik zu begeistern. Den Schülern wurde der Umgang mit Sprache zuvor nämlich gründlich madig gemacht: "Sie hatten ihr ganzes letztes Hauptschuljahr damit verbracht, Bewerbungsschreiben zu lesen und Bewerbungsschreiben zu schreiben und jetzt hing ihnen das Scheißbewerbungsschreibfach Deutsch zum Hals raus. Egal, ob Gedicht oder sonstwas. So dürfen wir uns, einige Jahre später, auch an diesem Welttag der Poesie auf die sogenannten Sonntagsreden freuen. Die bayerische Lehrkörper-Ministerin und Freie-Wähler-Frontfrau Anna Stolz wird den Plan, den musischen Unterricht an den Grundschulen zu kürzen, schon schön schönreden, ach ja, die Poesie!"

Weiteres: Nadine A. Brügger trifft sich für die NZZ mit der Schriftstellerin Zoë Jenny zum Gespräch. Lars von Törne plaudert für den Tagesspiegel mit der deutschen Mangaka Ren M. Pape. Besprochen werden unter anderem Nicole Seiferts "Einige Herren sagten etwas dazu" über die Frauen in der Gruppe 47 (online nachgereicht von der taz), Mely Kiyaks "Dieser Garten" (Freitag), Franziska Augsteins Biografie über Winston Churchill (NZZ) und Niviaq Korneliussens "Das Tal der Blumen" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Wenn Mitteilungsbedürfnis in Schweigen kippt: Hirokazu Kore-Edas "Die Unschuld"

Der japanische Autorenfilmer Hirokazu Kore-Eda meldet sich mit einem seiner leisen Dramen zurück, für die wir ihn so sehr schätzen. In "Die Unschuld" (im Original "Ungeheuer" betitelt, nun ja) erzählt er von einer kleinen Ortschaft, in der ein Lehrer verdächtigt wird, einen Schüler geschlagen zu haben. Dieser "ganz und gar nicht besserwisserische Film" schafft es dabei, in drei Kapiteln Empathie für alle Seiten zu wecken, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher: Kenntlich wird etwa "der Druck, den die Schule als Institution auf alle Beteiligten ausübt. ... Und zwar, weil die Schule als sozialer Raum, in dem verschiedene Interessen aufeinander prallen, ein allseitiges Beobachtungsverhältnis etabliert, das weder von einer zentralen Stelle aus hierarchisch kontrolliert, noch in ein harmonisches, pluralistisches Miteinander überführt werden kann. Die Schule soll auf die Zukunft vorbereiten und produziert doch vor allem Angst vor der Zukunft." Erneut "erweist sich Kore-eda dabei als ein Meister in der Inszenierung einer kindlichen Kommunikation, in der dringlichstes Mitteilungsbedürfnis von einem Moment auf den anderen in tiefstes Schweigen, in radikale Kontaktabwehr kippen kann. Die Welt erweitert sich" im dritten Kapitel, dem "schönsten Teil des Films - vielleicht gar: in den schönsten 40 Minuten des bisherigen Kinojahres? - nicht nur in sozialer, sondern auch in topografischer Hinsicht."

Der Film handelt auch vom Leben in einer 'stinknormalen Familie', wie es im Filmdialog mal heißt, schreibt Cosima Lutz im Filmdienst. Diese zu feieren, "gehört eigentlich zur DNA des US-amerikanischen Kinos. Kore-eda gibt dieses Konzept weder der Lächerlichkeit preis, noch stellt er ihm eine allzu naiv idealisierte Alternative gegenüber; er lässt es eher eine Art Wiedergeburt durchlaufen und nutzt dafür Zeichen, die Westliches und Östliches amalgamieren. ... Fast alle Hauptfiguren tragen demonstrativ Shirts mit Aufdrucken wie "Working Class" oder "California". ... Einen verwaschenen Rest von gesellschaftlicher Utopie tragen diese T-Shirt-Aufdrucke noch in sich, als Erinnerung an das Recht auf ein Streben nach Glück, aber auch das Recht, die Mächtigen und die sozialen Verhältnisse zu kritisieren und dabei auf Höflichkeitsfloskeln zu pfeifen." Für die taz hat Thomas Abeltshauser mit dem Regisseur gesprochen.

Weiteres: Marian Wilhelm erinnert im Standard an den vor zehn Jahren verstorbenen Filmemacher Michael Glawogger. Besprochen werden Ute Holls und Peter Otts Science-Fiction-Film "Die Amitié" (Perlentaucher, FD), Kristoffer Borglis "Dream Scenario", in dem Nicolas Cage Menschen weltweit im Traum erscheint (FD), Gil Kenans "Ghostbusters: Frozen Empire" (Presse, SZ), Tamer Rugglis "Rückkehr nach Alexandria" (NZZ), die chinesische Netflix-Serie "3 Body Problem" nach dem Science-Fiction-Epos "Die drei Sonnen" von Cixin Liu (Freitag) und die DVD-Ausgabe von Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (taz). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick mit allen Kritiken vom Filmdienst zur laufenden Kinowoche.
Archiv: Film

Kunst

Bild: Verzierter Holzstab mit Frauenfigur, Suriname, ca. 1900 © Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, Foto: Claudia Obrocki

"Mulmig" ist Sophie Jung (taz) im Berliner Humboldt Forum zumute, das nach dem Den Haager Mauritshuis nun die Ausstellung "Kunst als Beute. 10 Geschichten" mit Beutekunst aus den Napoleonischen Kriegen, der Kolonialzeit und des Nationalsozialismus zeigt. Die Eingangsszene eröffnet mit einem surinamischen Holzstab in Form einer feingliedrigen Frauenfigur, der auf einem Kissen liegt, so Jung: "Er wurde um 1900 gewaltvoll einer Maroon entwendet, einer Nachkommin geflohener afrikanischer Sklaven in der damals niederländischen Kolonie Suriname. Ein Film zeigt, wie ein Erbe der beraubten Besitzerin den Stab nach über hundert Jahren wieder in die Hand nimmt, in dem klinischen Setting des Berliner Museumsdepots. Ihm gegenübergestellt ist eine Vitrine, gefüllt mit hunderten Silberlöffeln, Kinderrasseln, Schmuckstücken. Es sind Zwangsabgaben, zu denen die Nazis jüdische Menschen ab 1939 nötigten. Durch einen wendigen Museumsdirektor kamen sie während des NS in das Berliner Stadtmuseum. Wird hier auf die Waage gelegt, was nicht wägbar ist? Die Verbrechen des Kolonialismus mit der Entrechtung und Zerstörung der Juden Europas durch die Nationalsozialisten verglichen?"

Äußerst schmallippig beantwortet Adriano Pedrosa, Kurator der kommenden Kunstbiennale Venedig, die sich unter dem Titel "Foreigners Everywhere" auf queere und indigene Volkskünstler und Outsider des Kunstbetriebs aus dem Globalen Süden konzentriert, die Fragen von Gesine Borcherdt (Welt). Einen Zusammenhang zwischen antisemitischen und postkolonialen Themen im Globalen Süden will er auch nach der documenta 15 nicht erkennen - und gefragt, weshalb er zwar viele Künstler aus dem Nahen Osten, aber keinen einzigen aus Israel eingeladen hat, antwortet er: "Es gibt in meiner Ausstellung auch keine Künstler, die aus Spanien, Belgien oder Deutschland stammen. Das Hauptaugenmerk der Ausstellung liegt auf dem Globalen Süden. Israel liegt im Globalen Norden. Israel ist ein wohlhabendes Erste-Welt-Land, wie Japan oder Südkorea. Wissen Sie, was der Globale Süden ist? Sie können das bei Wikipedia nachschauen."

Weitere Artikel: Gustav Klimts lange verschollenes Frauenporträt mit dem Titel "Bildnis Fräulein Lieser", das sich über viele Jahrzehnte in einer österreichischen Privatsammlung befand, wird beim Wiener Auktionshaus Im Kinsky zu einem Schätzwert zwischen 30 und 50 Millionen Euro versteigert - und zwar gemäß der Washingtoner Prinzipien, berichtet Philipp Meier in der NZZ: "Zwischen den gegenwärtigen Eigentümern und den Rechtsnachfolgern der Familie Lieser wurde eine Einigung erzielt. Der Erlös der Versteigerung soll aufgeteilt werden." In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe, dass die 1964 entstandene Grafikserie "Jugend und Sport" des Berliner Künstlers Jürgen Wittdorf nach einem Überraschungsfund wieder komplett ist und nun in der Studio-Galerie Berlin gezeigt wird.

Besprochen werden die große Käthe-Kollwitz-Ausstellung im Frankfurter Städel (Zeit, mehr hier), die Ausstellung "Below Ground Level" der ukrainischen Künstlerin Lada Nakonechna in der Berliner Galerie Eigen&Art (taz) und die große Valie-Export-Retrospektive im C/O Berlin (FAZ, mehr hier)
Archiv: Kunst

Bühne

Bild: Szene aus "Pique Dame". Foto: Jean Louis Fernandez / Opéra de Lyon

Schlicht sensationell findet Jan Brachmann (FAZ) die Inszenierung, die der russische Regisseur Timofej Kuljabin mit Tschaikowskys "Pique Dame" auf die Bühne der Opéra de Lyon gebracht hat. Kuljabin erzählt die "Geschichte Russlands als Militarisierung der Bevölkerung im Dienst eines Imperiums, dessen Wachstum auf einer projizierten Landkarte gezeigt wird. (…) Man hat diesen Zusammenhang von Militarismus, Imperialismus und Okkultismus, den Tschaikowsky ja mit größter Präzision beschreibt, kaum einmal derart klar auf der Szene durchgearbeitet gesehen wie hier." Aber leicht ist es nicht für Richard Brunel, Intendant der Opéra de Lyon, sein Haus in der "europäischen Spitzenliga" zu halten, meint Brachmann: Trotz gestiegener Kosten muss er seit 2013 mit Subventionskürzungen klarkommen: "Der elitenfeindlichen Zangenbewegung aus Grünen und Rechtspopulisten in Frankreich hat er aktuelle Kürzungen um je eine halbe Million Euro durch das Regionalpräsidium und die Stadtverwaltung zu verdanken, die Brunel zwar durch Sponsoren und Mäzene kompensieren konnte, was ihm aber nur Planungssicherheit für drei Jahre gewährt."

Vergangenes Jahr hat das Chamäleon Berlin, das sich auf Zeitgenössischen Zirkus spezialisiert hat, den Theaterpreis des Bundes erhalten. Erwächst den Theatern von Seiten des Zirkus ein neuer Konkurrent, fragt Nachtkritikerin Elena Philipp. Möglich wäre es, trotz Förderung mit nur einem Bruchteil des Berliner Kulturetats, meint Philipp nicht nur mit Blick auf die Inszenierung "Show Pony" des Frauenkollektivs "Still Hungry", das sich der Frage stellt, wie es ist, auf offener Bühne zu altern: "Romy Seibt erinnert, wie sie als Turmspringerin ihre Kindheit in nassen Badeanzügen verbrachte, um als DDR-Athletin ihren Vater stolz zu machen. Dabei ging ihre innere Stimme verloren: bis sie sich kürzlich wieder meldete und ihr riet, eine lang schon nicht mehr funktionierende Ehe hinter sich zu lassen. Fremdbestimmung, Trauma, Scheidung: Keine guten Inhalte für eine Show, die positiv wirken und sich verkaufen soll. Absolute Tabus für den Zirkus, in dem alles glänzende Oberfläche ist. Oder?"

Besprochen werden Antú Romero Nunes' Ilias-Inszenierung "Achilles - ein Stück mit Fersen" am Theater Basel (SZ), Sheena McGrandles' Oper "Mint - An Opera about Money" am Berliner HAU (taz), Marie Schwesingers Stück "LebensWert" über Täter und Mitwisser der Euthansie am Theater Kiel (taz) und Alice Aspers Stück "Ein Stück Illusion. Stlopersteine" im Berliner Theater im Palais (Tsp).
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich unbehaglich fühlte sich SZ-Kritiker Joachim Hentschel beim Berliner Auftritt der britischen Postpunk-Band Idles, die die Stimmung im Saal mit Palästina-Slogans immer weiter aufpeitschten, bis die Band ihr Publikum in der mit 8.000 Menschen ansehnlich gefüllten Max-Schmeling-Halle schließlich zu kollektiven "Ceasefire Now"-Chören aufriefen. "Spätestens da kippte das leichte Unbehagen bei vielen im Saal in profunde Verärgerung. Nicht, weil ein Ruf nach Waffenruhe in Gaza, wie ihn auch Präsidenten und Minister weltweit äußern, verwerflich oder emotional unverständlich wäre. Sondern weil an dieser Stelle des Abends völlig klar war, dass keiner der Musiker sich im Lärmtaumel noch die Mühe machen würde, die Standpunkte weiter auszudifferenzieren - oder, auch das würde ja in Konzerthallen-taugliche Slogans passen, gar etwas über die menschenfeindliche Aggression der Hamas oder das Schicksal der Geiseln zu sagen."

Weitere Artikel: Jean-Martin Büttner staunt im Tagesanzeiger über die Geschichte des Komponisten Johan Röhr, der sich auf Spotify hinter 650 Namen versteckt und über 2700 Lieder (oder besser gesagt: "mood pieces") auf dem Angebot des Streamingdienstes hat - und damit in Summe häufiger gestreamt wird als Michael Jackson. Heide Rampetzreiter erinnert in der Presse an das Popjahr 1994, das diverse Platten für die Ewigkeit abgeliefert hat. Arno Lücker empfiehlt in VAN diverse Aufnahmen von Georg Philipp Telemanns "Passionen".

Besprochen werden die Bruckner-Ausstellung in der Nationalbibliothek in Wien (Standard), ein Rameau- und Mahler-Konzert des von François-Xavier Roth dirigiertenn Ensembles Les Siècles in Zürich (NZZ), ein von John Storgards dirigiertes Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie mit der Geigerin Leila Josefowicz (Tsp), das neue Album des Hiphopers Manillio (TA), das neue Album von Justin Timberlake (Standard) und Adrianne Lenkers Country-Album "Bright Future" (Standard).

Archiv: Musik
Stichwörter: Idles, Country, Spotify, Hamas, Postpunk