Efeu - Die Kulturrundschau

Wir sind wirklich unbesiegbar

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28.05.2024. Der Tagesspiegel hat viel Freude am Duell der Nervenzusammenbrüche zwischen Natalie Portman und Julianne Moore in Todd Haynes Film "May December". Die SZ unternimmt einen Streifzug durch Charkiw und schaut an der Fassade des "Derschprom" hoch: einer Kathedrale der sowjetischen Avantgarde. Die FAZ lauscht einer Gedichtrezitation von Serhij Zhadan in Kiew, während die Luftalarm-Apps auf den Handys zu vibrieren beginnen. Die SZ ergründet außerdem das "Luxus-Paradoxon" von Marken wie Chanel und Co.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2024 finden Sie hier

Film

Freude am High Camp: Julianne Moore und Natalie Portman in "May December"

Tagesspiegel-Kritiker Jan Künemund hat viel Freude daran, wie Todd Haynes Natalie Portman und Julianne Moore in "May December" im Duell der Nervenzusammenbrüche inszeniert: Der Regisseur "kennt sich sehr gut aus mit flamboyanten Inszenierungen toxischer Weiblichkeit, und Moore und Portman geben wirklich alles, um das bereits erhitzte Filmmaterial nochmal auf den Grill zu legen. Immer wieder nimmt die Kamera die Position eines Spiegels ein, vor dem die Figuren (und die Schauspielerinnen) ihre Gesten überprüfen, ihre Nervenzusammenbrüche proben, den Effekt ihrer gelispelten Pointen kontrollieren." Die zahlreichen Referenzen, die Haynes in seinem Film als Ostereier versteckt, muss man dabei "nicht kennen, um in 'May December' Spaß zu haben. Das von zwei grandiosen, High-Camp-erfahrenen Schauspielerinnen abgefackelte Duell zweier schillernden Figuren am Rande eines Sumpfgebiets, in dem die hochfrequenten Geräusche der Grillen an den Nerven zehren, reicht für diese Method-Acting-Party vollkommen aus."

Außerdem: Karsten Munt führt im Filmdienst durch die Filme von Sean Baker, dessen neuer Film "Anora" eben in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde (unser Resümee). Trump hat eine Unterlassungserklärung gegen Ali Abbasis in Cannes gezeigten Film "The Apprentice" abgegeben, berichtet Marie-Luise Goldmann in der Welt. In der FAZ gratuliert Andreas Kilb Jean-Pierre Léaud zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Klofts von der ARD online gestellte Dokumentation "24 h D-Day" (FAZ), die ARD-Doku "Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie Helmut Kohl die Staatssicherheit narrte" (FAZ) und die Kinderserie "Bluey" (TA).
Archiv: Film

Literatur

Artur Weigandt steuert in der FAZ Eindrücke von einer Gedichtrezitation bei, die Serhij Zhadan im Sportpalast in Kiew vor tausenden Zuschauern abgehalten hat. "Seine Worte fließen leicht, als wollten sie das Publikum trösten. Dann endet ein Gedicht mit dem Wort 'Tod', kurz zuvor hatten auf einigen Smartphones der Zuhörer die Luftalarm-Sirenen der App 'Air Alert' begonnen, hörbar zu vibrieren. Kurz darauf ertönt, als sei das Teil der Inszenierung, auch der Luftalarm der Stadt Kiew. 'Wie ich höre, haben wir gerade Luftalarm. Wir sollten das Gebäude verlassen', sagt Zhadan zum Publikum. 'Nein', widerspricht die Menge einhellig. Doch der Veranstalter erinnert an die Sicherheitsbestimmungen. ... Nach zwanzig Minuten ist der Luftalarm vorbei. Alle bewegen sich zivilisiert zurück in die Halle, nehmen ihre Sitzplätze ein. Zhadan steht schon auf der Bühne und beobachtet die letzten eintreffenden Gäste. 'Es ist wirklich schön, dass so viele zurückgekommen sind. Wir sind wirklich unbesiegbar.'"

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Weiteres: Andreas Hartmann erzählt in der taz von seiner Begegnung mit dem Autor David Zane Mairowitz, dessen 1993 gemeinsam mit Robert Crumb gestalteter Kafka-Comic nun wiedererschienen ist. Marielle Kreienborg erinnert in der taz an die Schriftstellerin Goliarda Sapienza, die vor 100 Jahren geboren wurde. Sieglinde Geisel nimmt sich für den Page-99-Test von Tell Jenny Erpenbecks eben mit dem International Booker Prize ausgezeichneten Roman "Kairos" vor.

Besprochen werden unter anderem Theresia Enzensbergers Essay "Schlafen" (NZZ), Louisa Lunas "Abgetaucht" (FR), Constantin Schreibers Kriminalroman "Kleopatras Grab" (54 Books), Ingo Schulzes "Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet" (FAZ), eine Neuausgabe von Elmore Leonards Western "Letztes Gefecht am Saber River" (Welt) sowie Thomas Medicus' Klaus-Mann-Biografie (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Architektur

Das "Derschprom"-Gebäude in Charkiw.

SZ-Kritiker Tomas Avenarius lässt sich vom berühmtesten Tourguide Charkiws in der Stadt herumführen und schaut an der Fassade des "Derschprom" hoch, des "Haus der Staatlichen Industrie", einer "Kathedrale der sowjetischen Avantgarde und des Konstruktivismus" Das Derschprom, erfährt Avenarius, "das mit seinen lineal-geraden Linien wie ein Insekt vor dem riesigen Freiheitsplatz hockt, war immer Höhepunkt von Rozenfelds Touren. Es war einer der ersten Wolkenkratzer der Sowjetunion. Und es stand eben nicht in Moskau, sondern in Charkiw." Rozenfeld kann mittlerweile keine Touren mehr machen, so Avenarius, zu gefährlich: "Er denkt jetzt laut an das, was seiner Stadt bevorstehen kann. In der Euphorie des Sommers 2022, nachdem die Russen zurückgeschlagen worden waren, hatte er mit dem britischen Stararchitekten Norman Foster und acht ukrainischen Architekten einen Masterplan für den Wiederaufbau Charkiws als Zukunftsstadt der Ukraine entwickelt. Rozenfeld hat über Foster promoviert. 'Damals dachte ich noch stolz: Und jetzt sitze ich mit Norman Foster in einer Zoom-Konferenz zusammen und plane das neue Charkiw', erinnert er sich: 'Das ist jetzt lange her.'"

Überall in der Ukraine "wachsen und wuchern" Friedhöfe, schreibt Catrin Kahlweit ebenfalls in der SZ, "Fahnen in Blau und Gelb flattern über Soldatengräbern, und Tausende weitere sind schon vorbereitet". Jetzt soll ein nationaler Militärfriedhof gebaut werden, mit dem Entwurf wurde das Architekturbüro Carat und dessen Chef Serhij Derbin betraut. Diskutiert wird unter anderem über eine Skulptur, entworfen vom Künstler Vasyl Korchovy, so Kahlweit, ein "kniender Ritter in einer historischen Rüstung. Die Figur ist aus Stahl und Bronze, in seiner Hand hält er ein Schwert, das Schmerz und Ruhm symbolisieren soll. ... Für westliche Augen sei ein kniender Ritter, sagt Derbin selbstkritisch, vielleicht kitschig. Aber für die Ukrainer sei er ikonografisch. Dabei bezieht sich der Architekt auf ein Bild, das sich täglich dutzendfach wiederholt im Land: Wenn ein Soldat, der bei der Verteidigung der Ukraine gegen Russland gefallen ist, durch seine Heimatstadt zur Beisetzung gefahren wird, steigen Hunderte Menschen aus ihren Autos aus oder von ihren Fahrrädern ab, verlassen ihre Häuser, unterbrechen ihre Arbeit. Sie treten an den Straßenrand und knien nieder."

Außerdem: NZZ-Kritiker Hubertus Adam bewundert das neue Archiv der Avantgarden in Dresden.
Archiv: Architektur

Kunst

Installationsansicht "Gift" in der Berliner Contemporary Fine Arts.

Für den Tagesspiegel schaut sich Jens Müller die Ausstellung "Gift" in der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts an, die Bilder der amerikanischen Konzeptkünstlerin Eliza Douglas zeigt - oder? Eben nicht, ruft Müller, Douglas bedient sich hier nämlich eines Tricks, mit dem damals schon Martin Kippenberger "um die Aufmerksamkeit der Kunstwelt buhlte". Douglas hat ihre Werke nämlich gar nicht selbst gemalt, verrät Müller, sondern von Auftragsmalerin in China anfertigen und ihre Motive von KI generieren lassen - eine Reflexion auf die Urheberschaft der Werke, das ist Müller klar. Und sonst? Vielleicht eine kritische Reflexion auf die Kommerzialisierung von Kunst? Müller weiß es nicht so ganz: "Das Neue, das Besondere, das Einzigartige an den ansonsten auf offenkundige Beliebigkeit mit nicht nur leichter Tendenz in Richtung Kitsch hin angelegten Bildern ist, dass sie alle mit einem ziemlich breiten und langen Geschenkband umwickelt sind, die Schleife meistens genau in der Bildmitte. Im Falle der Kuh, 'Never Enough', wurde es von der Luxusmarke Balenciaga zugeliefert, für die die Künstlerin gelegentlich als Model unterwegs ist. Wie gesagt, die Schau heißt 'Gift', Geschenk also, und mit dem Warencharakter und der Kommerzialisierung der Kunst ist es wirklich ein Kreuz, nicht wahr? Die Bilder von Eliza Douglas kosten bei CFA zwischen 24.000 und 36.000 Euro."

Außerdem: Besprochen wird die Ausstellung "Antoni Tàpies: Die Praxis der Kunst" im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid (Welt) und die Ausstellung "Schönheit und Verzückung - Jan Baegart und die Malerei des Mittelalters" im Museum Kurhaus Kleve (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Douglas, Eliza, Konzeptkunst

Musik

Paavo Järvi hat das Ende von Schostakowitschs Fünfter richtig verstanden, freut sich NZZ-Kritiker Christian Wildhagen nach dem Konzert des Tonhalle-Orchesters: "Bei Dirigenten, die nicht genau hinschauen, klingt das schnell, als wäre Beethoven, der Erfinder solcher Jubelschlüsse, nach Hollywood ausgewandert." Doch "in Wahrheit ist diese Fünfte jedoch ein Kassiber aus der finsteren Zeit des sogenannten Großen Terrors. Järvi macht dementsprechend den Zwang deutlich, unter dem hier gejubelt wird. Schon den zweiten Satz schärft er zur Groteske. ... Im Finale demaskiert Järvi die Musik dann endgültig: Deren kämpferische Rhetorik dröhnt so sinnentleert wie politische Worthülsen, und der Schluss ist nicht nur bedrängend langsam gedreht, er kippt auch um ins Brutale. In den letzten Takten scheinen Pauken und Schlagwerk die Musik selbst regelrecht ins Verstummen zu knüppeln. Das ist radikal, aber von der Partitur gedeckt. Und es stimmt nachdenklich: So gespielt, dürfte dieser Komponist auch in Putins schöner neuer Welt bald auf irgendeinem Index landen."

Ziemlich beeindruckend findet tazler Karl Bruckmaier das argentinische Trio Reynols, das der vom Down-Syndrom betroffene Schlagzeuger Miguel Tomasín mit den Gitarristen Alan Courtis und Roberto Conlazo aufgebaut hat und das es südamerikaweit zu einiger Popularität gebracht hat, jenseits davon aber kaum bekannt ist. "Mit unzähmbarem Größenwahn hat er das Selbstverständnis der aufstrebenden Rocker und Versuchsavantgardisten auf ein Level gebracht, auf dem Sinfonien für 10.000 Hühner möglich wurden, Konzerte, bei denen das Publikum gespielt worden ist oder der Eiffelturm." Die beiden Co-Musiker "genießen es, von Miguel in immer neue grandios verrückte Zusammenhänge gedrängt zu werden; sie lieben seinen Nichtgesang und seine erfundenen Textzeilen in fremdartigster, vertrautester Sprache, seine Anleihen bei Bolero und Schlager; sie vertrauen seinem oft rudimentären Spiel, das plötzlich zu einer Expertise finden kann, die einen staunen lässt. ... Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones, frühe Can oder The Fall? Es ist jedenfalls eine selten gehörte Freiheit, die eine Musik von Reynols antreibt."



Weitere Artikel: Du Pham freut sich in der taz über das Punkfanzine Ostsaarzorn, das noch nach alter Vätte Sitte aus dem Geist der absoluten Unabhängigkeit heraus produziert wird und sich in seiner aktuellen Ausgabe dem Thema "Punk & Jewishness" widmet. Frederik Hanssen porträtiert für den Tagesspiegel Ulrich Eckhardt, Leiter der Berliner Festspiele, als sie wirklich noch glamourös waren, der heute 90 Jahre alt wird.

Besprochen werden Diedrich Diederichsens Essaysammlung "Das 21. Jahrhundert" (FR), zwei Klavierkonzerte von Alexander Krichel und Cheng Zhang (VAN), das Album "Tide" des Quartetts Hilde (FR) sowie das Frankfurter Museumskonzert mit Schönberg und Verdi (FR).
Archiv: Musik

Design

Die großen Modelabels verkaufen ihre Ware zu exquisitesten Preisen auf Investmentniveau, vermarkten sich auf Social Media aber als Hüter hehrster Handwerkskunst, während zugleich selbst für geschulte Augen kaum mehr unterscheidbare Fakes aus dem asiatischen Billigsegment die Märkte fluten, schreiben Julia Werner und Olivia von Pilgrim in der SZ. Beispiel Chanel: "Unter dem Titel 'Métiers d'Art' hat das Unternehmen seit 1983 Dutzende Ateliers gekauft, deren Disziplinen - Federschmuck, Knöpfe, Hüte, Stickereien - ohne dieses noble Engagement, klar, wohl verloren wären. Diese göttliche craftsmanship ist natürlich der Haute Couture vorbehalten, also der Maßanfertigung, die definitiv Luxus ist. Aber der Heiligenschein erleuchtet natürlich auch all die anderen Produkte, die das gleiche Logo tragen. ... Das Luxus-Paradoxon ist, dass Verkäufer uns die ganze Zeit die Einzigartigkeit ihres Produkts glauben machen wollen. Aber Bernard Arnault, Gründer und Mehrheitseigner des Luxuskonzerns LVMH, ist mit einem geschätzten Vermögen von 233 Milliarden Dollar der reichste Mann der Welt. Man muss sich also die Frage stellen, wie jemand so galaktisch reich werden kann mit der Hilfe von langsamen, vom Aussterben bedrohten Menschenhänden."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Chanel, Social Media