Hörbuch der Saison

Hörbuch der Saison Frühjahr 2004

04.03.2004. Fünf gewaltige Lesungen stellten in den letzten sechs Monaten das Durchhaltevermögen der Hörer auf die Probe: Kinskis Rezitationswerk, Hugos "Die Elenden", Svevos "Zeno Cosini", O'Briens "Auf Schwimmen zwei Vögel" und Meyrinks "Golem".
Fünf gewaltige Lesungen stellten in den letzten sechs Monaten das Durchhaltevermögen der Hörer auf die Probe: Klaus Kinskis komplettes Rezitationswerk, Gert Westphals ungekürzte Hörbuchfassung von Victor Hugos Roman "Die Elenden" sowie die ebenfalls ungekürzten Lesungen von Italo Svevos "Zeno Cosini", Flann O'Briens "Auf Schwimmen-zwei-Vögel" und Gustav Meyrinks "Golem". Viel Lob gab es für die stark, aber "überaus klug gekürzte" Fassung des "menschlichen Makels" von Philip Roth und Thomas Bernhards selbst gelesene Prosaminiaturen "Ereignisse". Einhelligen Jubel strichen auch Dylan Thomas' Hörspiel "Unter dem Milchwald" und die Kompilation "Alles Lalula" mit Texten von Valentin bis Schwitters ein.

Zunächst zur schweren Kost: Nicht ganz einer Meinung waren die Kritiker, was die Qualität von Klaus Kinskis Rezitationswerk () betrifft. Während Jochen Hieber den ewigen Provokateur in der FAZ kurzerhand in den "Himmel der Hörewigkeit" hebt und Udo Feist in der FR schlichtweg begeistert ist, tadelt Martin Z. Schröder in der Süddeutschen Kinskis Sprechweise als "lärmend", "naiv" und "textfremd". Einig sind sie sich indessen darin, dass Kinskis stimmliche Fähigkeiten - die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1957-1964 - nicht für jeden der rezitierten Texte ausreichen. Das allerdings scheint bei den 1024 Minuten, die bis auf die letzte große Sprechrolle, "Jesus Christus - Erlöser", das komplette Rezitationswerk enthalten, durchaus verzeihlich. Jochen Hieber jedenfalls ist hin und weg, wenn Kinski in seiner "mit den Wassern des Expressionismus" gewaschenen Sprechweise Dostojewskij, Shakespeare oder Brecht deklamiert.

In der FAZ stimmte Wolfgang Schneider eine Lobeshymne auf Wolf Eubas Vortrag des "Golems" an. Gustav Meyrinks "verwinkelten" Roman um den Gemmenschneider Athanasius Pernath, der im jüdischen Ghetto in Prag von Alpdrücken und Wahnvorstellungen heimgesucht wird, sei zwar stark von theatralischem Bewusstsein und forcierten Gebärden geprägt. Doch Eubas Stimme und sein süddeutscher Zungenschlag nimmt diesem wichtigen Werk des deutschen Expressionismus die "Überspanntheit", ohne sein "Pathos" der Lächerlichkeit preiszugeben, findet Schneider.

FAZ-Rezensent Jochen Hieber hat jede Menge Stehvermögen bewiesen und wurde offenbar reichlich belohnt: Den 2002 verstorbenen Gerd Westphal kürt er angesichts seiner brillanten, zehn CDs füllenden Einlesung von Victor Hugos Romanmonster "Les Miserables - Die Elenden" ) posthum zum "Vertrauensmann für vorgelesene Weltliteratur" - auch wenn man über einen DVD-Spieler verfügen müsse, um in den Genuss der ungekürzten Fassung zu kommen. Die außerordentlich variable Vortragskunst Wolfgang Reichmanns, die sich bei Italo Svevos Porträt eines begüterten Zwangsneurotikers "Zeno Cosini" bestens bewährt, gab Hieber Anlass, die Archive des öffentlichen Rundfunks als wahre Schatzkammern für erlesene Hörerlebnisse zu preisen.
Mit "lakonischer Selbstverständlichkeit" fühlt sich Hieber schließlich von Harry Rowohlt durch Flann O'Briens verstrickten Roman "Auf Schwimmen-zwei-Vögel" geführt, von dem James Joyce hoffte, dass die Kritiker merken, "was ihnen beim Ullysses entgangen ist: dass es ein komisches Buch ist".

Leichter zu ermüdenden Hörern legen die Kritiker nachdrücklich einen Amerikaner und einen Waliser ans Herz: Philip Roths in den deutschen Feuilletons allseits bejubelten Roman "Der menschliche Makel" verwandeln Valerie Stiegele und Norbert Schaeffer mit ihrer Hörspielbearbeitung trotz der erheblichen Kürzungen nach Ansicht des SZ-Reszensenten Tobias Lehmkuhl in richtig großes "Kopfkino". Das liegt nicht zuletzt an den hervorragenden Sprechern, denen es gelingt, die Zwiespältigkeit von Roths Charakteren zu transportieren, so Lehmkuhl.

Mit dem Hörspiel "Unter dem Milchwald" hat Dylan Thomas sein Requiem geschrieben, versichert Tobias Döring in der FAZ. Die Vertonung der deutschen Nachdichtung von Erich Fried jagt auch dem Zeit-Rezensenten Konrad Heidkamp einen ehrfurchtsvollen Schauer über den Rücken: endlich erfülle sich das "ewige poetische Versprechen" von Thomas' "Weltallegorie" - ausgerechnet in der deutschen Hörspielbearbeitung, die ihr "mit hochdeutscher Zurückhaltung Dauer verleiht".

Schließlich sei noch auf zwei Hörbücher hingewiesen: Thomas Bernhards Vortrag seiner Prosaminiaturen "Ereignisse" (bestellen) hat beim SZ-Rezensenten Tobias Lehmkuhl zu der kühnen Vermutung geführt, ein "feines Häutchen" liege über Bernhards Stimmbändern, "das alle Erregung mitschwingen lässt, die Worte aber, so ungeheuerlich sie auch sein mögen, stets vor dem Zerfasern bewahrt". Auch Rolf Michaelis schwärmt in der Zeit von der faszinierenden Stimme Bernhards. Lob auch für die von Wolfgang Hörner und Herbert Kapfer herausgegebene Kompilation "Alles Lalula" , die Texte von Kurt Schwitters, Karl Valentin bis Christian Morgenstern in Originalaufnahmen der Autoren versammelt. Die Auswahl dieser "Geräuschlyrik" preisen Jens Bisky in der SZ und Joachim Kalka in der FAZ einhellig als "konkurrenzlosen" "großartigen Fundus", und Konrad Heidkamp verspricht in der Zeit ungeahnte Hörgenüsse.

Jan Friedrich