Magazinrundschau - Archiv

Geschichte der Gegenwart

2 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - Geschichte der Gegenwart

Der Philosoph Luca Di Blasi beugt sich nochmal über die Debatten über Martin Walsers Verhältnis zu Auschwitz. Insbesondere Walsers "Unser Auschwitz"-Aufsatz von 1965 wurde von den Verteidigern herangezogen - allerdings auf Grundlage eines Missverständnisses, meint Di Blasi: Nicht um den verantwortungsvollen Umgang mit einer Kollektivschuld sei es Walser gegangen, sondern er zielte darauf ab, das nationale Kollektiv durch identitätsstiftende Schuld zu wahren - dies auch als historisches Projekt mit langem Atem im Blick auf die Überwindung der deutschen Teilung. "Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie irrig es ist, Walsers 1998 viel diskutierte Paulskirchenrede vom frühen Walser abzutrennen. Denn hier tauchen die gleichen Grundmotive wieder auf", doch "jetzt, wo die deutsche Einheit erreicht war, hatte für Walser die 'deutsche Schuld' ihre Schuldigkeit getan." Aktuelle Verschiebungen im deutschen Selbstverständnis zeigen sich "in semantischer Hinsicht: Nachdem bereits die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Ende 2022 mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine von einem 'Bruch der Zivilisation' gesprochen hatte, verwendete der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, Anfang des Jahres für den russischen Angriff exakt jenen Begriff, der bis dahin dem größten aller Verbrechen, dem Holocaust, vorbehalten war: 'Zivilisationsbruch'. Mehr noch als diese jeweilige Wortwahl war signifikant, dass in beiden Fällen kaum öffentliche Kritik zu vernehmen war. Der Historiker Dan Diner, der den Begriff des 'Zivilisationsbruchs' geprägt hatte, sprach 2022 von der Erosion der Singularität des Holocaust. Damit wird auch eine der zentralen Stützen der Gedenkgemeinschaft brüchig und ihre Erosion schreitet seit dem Krieg in der Ukraine und der kurz darauf ausgerufenen 'Zeitenwende' noch voran. Deckte sich die deutsche Gedenkgemeinschaft zeitlich sehr genau mit einer, maßgeblich von Michail Gorbatschow nach 1985 ermöglichten, Phase der Demilitarisierung und 'Friedensdividende', scheint die Betonung deutscher Schuld in Zeiten der Remilitarisierung allmählich unzeitgemäß zu werden."

Magazinrundschau vom 28.09.2021 - Geschichte der Gegenwart

Mit dem Erfolg des neuen Marvel-Superheldenfilms "Shang-Chi" könnte sich neben Black Panther ein weiterer "Superhero of Color" im Blockbusterkino etablieren, glaubt die Amerikanistin Ruth Mayer. Doch während "Black Panther" in den Comics der siebziger Jahre von Anfang an unter den Eindrücken der schwarzen Bürgerrechtsbewegung konzipiert wurde, kommt "Shang-Chi" mit der in Pulp-Heften und Bahnhofskinofilmen serialisierten Figur des Fu-Manchu im Gepäck - einer grell gezeichneten Verkörperung der "Gelben Gefahr", die in den letzten Jahren aus Gründen gesteigerter Sensibilität nicht mehr sonderlich in Mode war. Boris Karloff hatte diese Figur in den naiven Pulpfilmen der 30er fast schon subersiv als "queer" angelegt, schreibt Mayer. Dem will man heute durch neue Ernsthaftigkeit entgehen: Der neue Film "ist in jeder Hinsicht bemüht, alles richtig zu machen. Die New York Times berichtete, dass die asiatisch-amerikanischen Produzenten eine Liste der gängigen Asien-Klischees und Vorurteile führten, die es zu vermeiden galt - und sie waren zweifellos gründlich. Kein yellowface (auf dass sich so viele Hollywoodproduktionen der letzten Jahre immer noch verließen), keine gesichtslosen asiatischen Massen, keine Yakuza oder Samurai-Krieger und nur der Hauch einer Dragon-Lady in Gestalt von Shang-Chis Schwester, gespielt von Meng 'er Zhang. Aber die action-orientierte Handlungslogik des Superheldenfilms eignet sich nur bedingt für psychologische Portraits mit Tiefenschärfe, so dass der Superschurke hier letztlich erstarrt oder entleert wirkt - er macht so recht keinen Sinn mehr ohne das Narrativ der Gelben Gefahr und wird nun zur etwas banalen Kritik an der Eigendynamik toxischer Männlichkeit. ... Die Begeisterung vieler asiatischer Zuschauer*innen über den systematischen Bruch mit China-Klischees ist angesichts von yellowface-Entgleisungen und orientalistischen Klischees im Gegenwartskino nachvollziehbar. Dennoch wünschte ich mir angesichts der noblen Tragik und hyperdisziplinierten Männlichkeit des Mandarin-Dads dann und wann den queeren Camp-Appeal von Boris Karloffs Fu Manchu zurück, der weder psychologische Tiefe noch traumatische Verletzungen kannte."