Mord und Ratschlag

Londoner Regeln

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
27.09.2018. Mick Herron führt in seinem vergnüglichen Spionage-Thriller "Slow Horses" die lahmen Gäule des MI5 ins Rennen gegen die Kaltblüter aus der Direktion, eine Bande kopfloser Entführer und abgedriftete Journalisten.  In Jérôme Leroys Elegie "Die Verdunkelten" beobachtet der Geheimdienst obsessiv, aber machtlos die Flucht der Menschen aus der digitalen Tyrannei.
CoverKaum ein Autor wird in Britannien so heiß gehandelt wie Mick Herron, sein Roman "Slow Horses" ist vor allem in Kreisen der Guardian-Leserschaft hot shit: Ein Spionagethriller in links und lustig. Natürlich steckt viel John Le Carré in der Geschichte, aber sie erinnert auch an die Terroristenklamotte "Four Lions" oder an Ricky Gervais' Büro-Sitcom "The Office". Denn ein Geheimdienst ist natürlich immer auch eine Behörde.

Der Roman beginnt mit einem furiosen ersten Kapitel, das erzählt, wie der junge, talentierte River Cartwright mit Karacho seine Karriere in die Grütze fährt. River ist der etwas traurige Sohn einer Hippie-Mutter, die sich früh davon machte. Sein Großvater ist allerdings eine Geheimdienst-Legende, ehrfürchtig O. B. genannt, Old Bastard. Seinetwegen wurde River nach einem vermasselten Einsatz nicht gefeuert, sondern nach Slough House abgeschoben. In der Außenstelle von Finsbury stellt der MI5 die Versager aus den eigenen Reihen kalt, die Trottel, Alkoholiker und Depressiven - die Slow Horses. Die lahme Gäule warten hier auf ihre zweite Chance, den Wiederaufstieg in die Klasse der Vollblüter. Solange versehen sie ihren Dienst nach Vorschrift, hören Handygespräche ab und schleichen um die Zentrale von Regent's Park, um sich den alten Kollegen in Erinnerung zu bringen: Die gefallene Chefsekretärin ("Meine Name ist Catherine, und ich bin Alkoholikerin"), der Nerd, der andere Menschen für überflüssig hält, oder der Unglücksrabe, der geheime Unterlagen in der U-Bahn liegen ließ. "Kommando Abstellgleis" nannte Sophie Hénaff dieses bewährte Erzählmuster.

Ins Slough House kommt Bewegung, als River den miesen Auftrag erhält, einen Journalisten zu überwachen, oder vielmehr seinen Müll zu durchwühlen. Der zum Kolumnisten abgesunkene Robert Hobden war einmal ein einflussreicher Reporter, bis er nach rechts abdriftete: "Vom wütenden jungen Mann zum gereizten alten Knacker" - man kennt diese Leute. Aber weil der britische Geheimdienst es einfach drauf hat, zeigt sich prompt, dass der Schreiberling etwas mit der dem Drama zu tun hat, das schon bald ganz London in Atem hält: Ein junger Mann wurde entführt, seine Drangsalierer drohen, ihn binnen zwei Tagen zu töten und seine Enthauptung im Internet zu zeigen. Wer sich hinter der Untat verbirgt, ist unklar: Islamischer Staat, al Qaida oder Rechtsradikale. Der MI5 hat eindeutig seine Hände im Spiel. Aber wie und warum? Und bitte welche Abteilung? Der entführte Junge bangt um sein Leben, doch hat er seine Sinne noch genug beisammen, um die Einfalt seiner, nun ja, recht kopflosen Kidnapper zu erkennen. In seinem Geiste firmieren sie als The Three Stooges. Wären es zwei, hätte er sie Dick und Doof genannt.

Die Profis von Regent's Park lassen sich von dieser "Gruppe origineller Denker" ebenso wenig aus der Ruhe bringen, wie sie sich "von den verrückten Liberalen in Brüssel gängeln" lassen. Sie berufen den Effizienzausschuss ein, der früher Lenkungsausschuss hieß und davor Steuerung und Übersicht. In dieser Behörde herrschen Maß und Vernunft. Und Londoner Regeln. Wenn George Smiley in Le Carrés Romanen von "Moskauer Regeln" raunte, galt besondere Vorsicht. Die Londoner Regeln wurden in den Korridoren von Westminister entwickelt, nein perfektioniert, und sie erfordern ein Höchstmaß an persönlicher Absicherung: "Jeder rettet seinen Arsch."

Herrons Roman ist im Original bereits 2010 erschienen. Das Timing ist bei einer Terrorismussatire eine heikle Angelegenheit, vielleicht hat der Diogenes Verlag deshalb gewartet, bis er die Übersetzung auf den deutschen Markt gebracht hat. In manchen Zeiten vergeht einem das Lachen. Dass sich seitdem auch die Weltlage völlig verändert hat, schadet dem Roman kaum. Mehr als von seinem etwas unplausiblen Plot ist er sowieso von seinen Punchlines getrieben. Dabei entwickelt er am Ende durchaus Pageturner-Qualitäten, wenn die vielen Perspektivwechsel vom Anfang nicht mehr so abrupt den Lesefluss bremsen. Und Herrons Schreibe ist auf der Höhe der Zeit. Im Slough House mag das Personal nicht unbedingt schussfest sein, dafür ist es absolut pointensicher.

Nicht zu übertreffen sind die beiden Machtfiguren, die sich in diesem Roman gegenüberstehen: Die ehrgeizige, manipulative Diana Taverner, genannt Lady Di, Vizedirektorin des MI5, gegen deren coole Abgebrühtheit sich Claire Underwood wie eine Klosterschülerin ausnimmt. Und Jackson Lamb, einst legendärer Agent im Dienst Ihrer Majestät, jetzt aus unerfindlichen abserviert ins Slough House. Er ist die titelgebende, enigmatische Gestalt der Reihe. Die absolute Nemesis: Fett und schwabbelig, mit Mundgeruch und ohne Manieren. Aber undurchschaubar und wahnsinnig ausgekocht. Ein Spitzenduell.

Mick Herron: Slow Horses. Ein Fall für Jackson Lamb. Roman Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich 2018, 480 Seiten, 24 Euro.

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Cover: Die VerdunkeltenEbenfalls eine Art linker Geheimdienstfantasie ist Jérôme Leroys "Die Verdunkelten". Doch während Mick Herron auf Humor und Ironie setzt, ist bei Leroy alles Melancholie. In seinem zwischen Endzeitvision und Gegenwartsanalyse changierenden Roman haben die Gesellschaften ihren Zusammenhalt verloren, die Menschen ihren Glauben an die Zukunft und die Versprechen ihren Wert. "Die sozialen Netzwerke haben geschafft, was die Geheimpolizeien sämtlicher Regime sich nicht in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hätten: Die Leute liefern sich selbst ans Messer." Und um sich ihre Wohnungen noch leisten zu können, müssen die Verarmten der Welt andere Verarmte bei sich wohnen lassen. Paris fällt erst dem Terror islamistischer Fanatiker zum Opfer, dann der Überwachung der Sicherheitsdienste. Alles zerfällt. Die Welt zerbricht, und die Menschen verschwinden.

Auch der Schriftsteller und Journalist Guillaume Trimbert entfremdet sich der Welt. Er hat die fünfzig überschritten. Gewicht und Blutdruck nehmen zu, die Verführungskraft schwindet. Sportwagen und Champagner Zero Dosage sind nur die mickrigen Surrogate der Konsumkultur. Seine Freundin trennt sich von ihm, um mit einer anderen Frau eine Familie zu gründen. Im Gegenzug verabschiedet sich auch Trimbert von seiner alternden Mäzenin, einer Psychoanalytikerin und strengen Lacan-Adeptin. Er war für sie wie ein Übersee-Departement, wie er selbst gern spottete: "Ich koste sie viel Geld, bringe ihr nicht viel ein, aber bei mir kann sie ein wenig Sonne tanken." Jetzt hat Trimbert genug: "Man müsste sich verflüchtigen, denkt er, "niemandem Bescheid sagen, es nicht groß ankündigen, jedes Pathos vermeiden". La Douceur heißt der Sehnsuchtsort, den man sich ein bisschen vorstellen kann wie die ZAD bei Nantes vor ihrer Räumung, eine Zone à défendre gegen das Internet.

Der Geheimdienst versucht, die Flucht der Menschen aus der Stadt aufzuhalten. Doch Paris leert sich. Die Wirtschaft bricht zusammen. Gibt es etwa ein Recht zu verschwinden? Trimbert wird von Capitaine Agnès Delvaux beschattet. Die junge Agentin observiert den alternden Schriftsteller auf Schritt und Tritt, sie dringt in seine Wohnung ein, in seinen Laptop, in seine Gedanken. Erst abgestoßen von diesem Zyniker ohne Biss, dann fasziniert, schließlich obsessiv. Worin allerdings die Anziehungskraft gründet, versteht man lange nicht. Während Trimbert aus der Welt taumelt, gewinnt Agnès neuen Boden unter den Füßen.

Der Roman vollzieht dabei ganz ähnliche Bewegungen wie sein zivilisationsmüder Protagonist. Er kreist um Trimberts digitale Fatigue, seine Verweigerung à la Bartleby und Oblomow, seine Erinnerungen an den politischen Aktivismus der siebziger Jahre, die Nelkenrevolution in Portugal und die Filme Chris Markers. Zum Abschied führen ihn seine Streifzüge durch Paris zu den poetischen Proletariern, den liebenswerten Alkoholikern und den Literaten des Rive Gauche, die allesamt der Vergangenheit hinterher trauern: dem in den Farben eines Kirchenfenstern funkelnden Gestern, der Nouvelle Vague, dem Kommunismus: "Sexy sollte er sein und mit dem Flair eines Badeortes."

Vor zwei Jahren machte Jérôme Leroy mit seinem Polit-Thriller "Der Block" Furore, der den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich als Gewaltgeschichte erzählte. Auch in den "Verdunkelten" verbinden sich Ideen- und Kriminalroman zu einer Mischung aus Geheimdienstthriller, kulturkritischem Lamento und eskapistischer Fantasie. Das ist ein bisschen brillant, ein bisschen prätentiös, und vielleicht eher reaktionär als revolutionär. Eine Elegie der Sanftmut gegen die Tyrannei der Technologie.

Jérôme Leroy: Die Verdunkelten. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus. Hamburg 2018, 18 Euro.