Mord und Ratschlag

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
17.05.2002. Die Krimikolumne: Heute: Heimtückisch sorgt Charles Willeford dafür, dass sich die Leser mit einem Mörder identifizieren.
Erst spät kam der Ruhm zu Charles Willeford. Genauer gesagt: als der Autor 65 alt war, vier Jahre vor seinem Tod. Davor war Willeford, ein ganzes Leben lang, der vermutlich unbekannteste große amerikanische Autor des letzten Jahrhunderts. Er war 1919 in Little Rock, Arkansas geboren worden, hatte früh seine Eltern verloren, Jahre seiner Jugend als Eisenbahn-Tramper verbracht, war zur Armee gegangen und vielfach dekoriert aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt. Er studierte Malerei und Literatur, schlug sich mit diversen Jobs durch - unter anderem als Pferdetrainer und Radiosprecher - und begann schon während seiner Militärzeit zu schreiben. Gedichte, die keiner lesen (heute verkaufen sich die Erstausgaben im fünfstelligen Dollar-Bereich) und Romane, die keiner verlegen wollte. So landeten seine Bücher bei jenen Verlagen, die mit ihren Billig-Paperbacks die auch erst hinterher legendär gewordenen Pulp-Magazine abgelöst hatten. Obgleich viele der damaligen Autoren bei Gold Medal und Dell - Willefords Verlage allerdings lagen meist noch einmal eine Qualitätsstufe tiefer - inzwischen als Klassiker der amerikanischen Pulp Fiction gelten und nach wie vor höchst lesenswert sind, war Willeford unter den viel schreibenden Kollegen von Anfang an ein wenig fehl am Platz. Ihm nämlich war es Ernst mit der Literatur, er feilte, wenn die Existenzbedingungen es zuließen, lange an seinen Texten und hielt die Heroen der Moderne, James Joyce oder Franz Kafka, für das Maß aller Dinge.

Willefords Magisterarbeit, sie wurde 1987 in erweiterter Form veröffentlicht, widmete sich dem "immobilisierten Helden" in der modernen Literatur von Dostojewski bis Salinger - und genau diese Sorte Anti-Helden bevölkern als Protagonisten und fast immer als Ich-Erzähler die Romane Willefords. Diese liegen dann auch, von den späten Polizeiromanen erst einmal abgesehen, im Grenzgebiet von Hard-Boiled-Kriminalliteratur und existenzialistischem Absurdismus, zwischen Jim Thompson und Albert Camus, in einem Niemandsland der Sinnlosigkeit, in dem das Verbrechen kein Akt narrativer Sinngebung ist, sondern Verzweiflungstat in einer Welt, die auch durch seine Bestrafung nicht wieder einzurenken ist. In Willefords Erstling, "The High Priest of California" von 1953 etwa geschieht kein Mord, es gibt keinen Fall und keinen Detektiv. Der Ich-Erzähler Russell Haxby ist ein Gebrauchtwagenhändler, der vom Leben im allgemeinen und den Frauen im besonderen reichlich gelangweilt ist und in seiner Freizeit eine normalisierte Fassung von James Joyces' "Ulysses" herstellt (was durchaus typisch ist für Willefords gebildete Antihelden wie für seinen Humor). In einem übel beleumundeten Tanzlokal lernt er eine etwas naive, sehr scheue Frau kennen und ist fasziniert, weil sie ihn abweist. Es stellt sich heraus, dass sie einen zwanzig Jahre älteren Ehemann hat, an den sie mit neunzehn geraten ist, der aber seit Jahren als geistiges Wrack in ihrer Wohnung vor sich hinvegetiert. Haxby hat nichts Eiligeres zu tun, als ihn, mit allen erdenklichen Mitteln, loszuwerden, um Alyce für sich zu gewinnen. Der Roman ist die Geschichte einer Annäherung, eine schwarze Romanze mit einem schockierenden Ende.

Schon in diesem Erstling steckt der ganze Willeford: das Verbrechen findet auf einer psychologischen Ebene statt, der Täter macht sich die Finger nicht schmutzig, strukturell aber wird Russell Haxby zum Mörder, wie die Männer in vielen von Willefords späteren Romanen, die, habituell unfähig zur bürgerlichen Existenz, die Frauen, die sie lieben und hassen zugleich, umbringen. Der wahre Angelpunkt der Romane ist stets das "Ich", von dem her sie erzählt werden. Kaum einmal hat man als Leser ein Problem damit, Sympathien für diese Figuren aufzubringen, seien es Gebrauchtwagenhändler (in "The Woman Chaser") oder Alkoholiker (in "Pick-Up") oder sogar Kunstkritiker (in "Die Kunst des Tötens", einer mörderischen Satire auf den Kunstbetrieb) - bis man irgendwann entgeistert feststellt, dass man sich mit einem Mörder identifiziert hat, einem Menschen, dessen moralische Maßstäbe rettungslos aus den Fugen geraten sind. Nicht zuletzt sind Willefords Romane daher Experimente mit der Identifikationslust des Lesers, der, ohne es zu merken, aufs Glatteis geführt wird und miterleben muss, wie der Held, den er eben noch mochte - ganz anders als all die bei aller Ambivalenz fast immer auf der richtigen Seite stehenden "tough guys" der klassischen amerikanischen Krimitradition - brutale, kaum oder gar nicht zu rechtfertigende Verbrechen begeht. Niemand kommt einem dabei moralisch zu Hilfe, es gibt keinen sicheren Standpunkt, der hinter dem des Erzählers durchscheint, sondern nur diese lakonischen, kurzen Sätze, die Banalitäten wie Ungeheuerlichkeiten im selben unaufgeregten Tonfall notieren. Vom Erzählgestus her sind Beschreibungen eines brutalen Mords und des, nur zum Beispiel, Kaffeekochens, nicht unterschieden. Das ergibt eine so faszinierende wie unbequeme Leseerfahrung: Man verliert den Boden des sicheren Urteils unter den Füßen.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass Willeford so lange nicht das Publikum gefunden hat, das er eigentlich verdiente. Die seriöse Kritik rührte die Schundromane, zwischen denen sich das Willefordsche Frühwerk tummeln musste, nicht an - und noch die hartgesottensten Krimileser hatten für die Verstörungen, die bei der Lektüre nicht ausbleiben, herzlich wenig übrig. Der späte Erfolg mit der Serie um den Polizisten Hoke Moseley ist wiederum auch kein Zufall, denn die Bücher funktionieren nach einem anderen, weniger radikalen Konzept. Die Zentralfigur ist knapp über vierzig, wirkt aber mit künstlichem Gebiss und einer Weltanschauung, die zwischen Resignation und der Unaufgeregtheit desjenigen, der in seinem Leben alles gesehen hat, schwankt, sehr viel älter, ein wenig wie ein Alter Ego des Autors. In "Miami Blues", dem ersten Roman der Serie - unter demselben Titel so exzellent wie erfolgreich verfilmt -, treten die Mischfiguren vieler früherer Werke klar in zwei Charaktere auseinander: den Sympathieträge Moseley auf der einen, den Psychopathen Freddy J. Frenger, Jr. auf der anderen Seite. Der Roman beginnt, absurd genug, damit, dass Frenger bei seiner Ankunft in Miami (er kommt gerade aus dem Knast) einem lästigen Hare Krishna aus purer Bosheit den Finger bricht; der stirbt sogleich am Schock. Der von Willeford gerne in hinterhältiger Absicht bemühte Zufall will es, dass Frenger an die als Prostituierte arbeitende Schwester des Opfers gerät, die wiederum von ihrem Bruder schwanger war und deshalb nun von ihrem Vater des Auftrags zum Mord bezichtigt wird: Freddy J. Frenger, Jr., schuldig und unschuldig zugleich, ist so, ehe er es sich versieht, der Hauptverdächtige. Der Rest des Buches ist ein so groteskes wie gewalttätiges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Moseley und Frenger, das Moseley zu seinem, zu Willefords und zu unserem Glück gerade so überlebt. Nach dem Erfolg des ersten Bandes sollten drei weitere Fortsetzungen folgen, Willeford wurde damit in seinen späten Jahren noch zum gefeierten Kultautor.

Die ganze Geschichte ist das jedoch noch nicht. Keineswegs war Willeford nämlich geneigt, sich den Gesetzen der Serienkonvention einfach so zu beugen. Er schrieb, unter dem Titel "Grimhaven", einen zweiten Roman um Hoke Moseley, der einen eklatanten Rückfall in frühere Gewohnheiten darstellte: Moseley, der Held, tötet darin seine beiden Kinder und beinahe auch die Ex-Frau. Willefords Verlag weigerte sich, den Band zu veröffentlichen, bis heute hat seine Witwe die Rechte an dem Manuskript nicht herausgerückt. Altersweise geworden, gab Willeford nach und schrieb drei wunderbare, so kluge wie herzzerreißend komische Fortsetzungen von "Miami Blues". Alle vier Bände, ohne jede Frage ziemlich einsame Höhepunkte der Kriminalliteratur, waren in Deutschland - wo sie ursprünglich bei Ullstein, später bei Rowohlt erschienen - jahrelang vergriffen. Es ist, auch wenn man ähnliches gewohnt ist, ein Armutszeugnis für die großen deutschen Verlage, dass vieles von Willeford nie übersetzt und der Rest irgendwann aus dem Programm gekippt wurde. Zwei ambitionierte Kleinverlage besitzen nun den gar nicht laut genug zu preisenden Mut, Charles Willeford in Deutschland (wieder) zugänglich zu machen: der engagierte Herausgeber Frank Nowatzki hat in der Reihe Pulp Master beim Mass Verlag Willefords kurzen Romanerstling "Der Hohepriester" nach beinahe fünfzig Jahren (!) erstmals auf deutsch veröffentlicht, innerhalb der rundum empfehlenswerten Anthologie "Antihero" - und er hofft, weitere bisher nicht übersetzte Romane folgen lassen zu können. Und für Juni kündigt der auf dem Gebiet der Kriminalliteratur bisher überhaupt noch nicht hervorgetretene Berliner Alexander-Verlag eine überarbeitete Neuausgabe von "Miami Blues" an, verbunden mit dem Versprechen, die drei folgenden Bände im halbjährlichen Abstand hinterherzuschicken. Damit sind die Bedingungen günstig wie nie, den amerikanischen Klassiker Charles Willeford endlich auch in Deutschland zu entdecken.


Frank Nowatzki (Hg): "Antihero". Feat. Charles Willefords "Der Hohepriester". Pulp Master 10. Maas Verlag, Berlin 2001, broschiert, 11 Euro
Leseprobe zu "Der Hohepriester".

Charles Willeford: "Miami Blues". Roman. Der erste Hoke-Moseley-Fall. Aus d. Amerikan. v. Rainer Schmidt. Überarb. v. Jochen Stremmel. Alexander Verlag, Berlin 2002, 250 Seiten, kartoniert, 9,50 Euro (erscheint Ende Juni 2002)

Links:
Website zu Willeford von Maura und Dennis McMillan
Ein großes Willeford-Porträt von Marshall Jon Fischer in Atlantic Monthly
Website zur Willeford-Verfilmung "The Woman Chaser" .