Efeu - Die Kulturrundschau

Regie über Himmel und Horizont

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2024. Die FAZ durchstreift mit Alexander Sokurows Animationsfilm "Märchen" ein geisterhaftes Schattenreich, in dem Hitler, Stalin und Mussolini auf ihre Erlösung durch Christus warten. Die NZZ beklagt Annie Ernauxs Neigung, jeden offenen Briefen zu unterschreiben, der bei Drei nicht auf den Bäumen ist. Die Welt sieht auf Jeff Walls Fotos in der Fondation Beyerler Unsichtbares sichtbar werden. Die taz ist beeindruckt von der "trotzigen Gefasstheit" der Kunstszene Taiwans. Und die FAS erfährt bei Kim Armstrongs lebendig-farbigem Klavierspiel was menschliches Musizieren ausmacht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2024 finden Sie hier

Literatur

Annie Ernaux betreibt nach Roman Buchelis Ansicht ein bisschen arg viel Unterschriften-Inflation: Kaum ein offener Brief, den die Schriftstellerin nach loser Ansicht nicht unterschreibt, sofern das Anliegen zumindest grob ins eigene Raster passt, schreibt Bucheli in der NZZ. Delegiert werde dabei die eigene Stimme, das eigene öffentliche Auftreten ans Kollektiv, das naturgemäß nicht in Nuancen sprechen kann - Schaden nimmt dabei mitunter die eigene Glaubwürdigkeit, wie gerade im Falle der Kampagne "Strike Germany": Dass Ernaux und andere "sich einem Boykott anschließen, dessen Urheber die deutsche Politik als rassistisch und neofaschistisch denunzieren, zeugt nicht gerade für ihre Kraft der Unterscheidung zwischen politischer Analyse und höherem Nonsens. ... Künstler sind Experten der Nuancen und der Mehrdeutigkeit. Manche allerdings scheinen in ihrem Weltverbesserungsfuror zu vergessen, dass es auch in der Wirklichkeit kein simples Entweder-oder gibt. ... Auch Annie Ernaux' Unterschriftenaktivismus wird Folgen haben, selbst wenn sie damit nichts aufs Spiel zu setzen scheint. Doch ihre Glaubwürdigkeit und ihre intellektuelle Redlichkeit werden Schaden nehmen. Wenn jemand wie sie, deren künstlerische Existenz unabdingbar mit der Authentizität ihrer individuellen Sprache verknüpft ist, andere für sich sprechen lässt, geht etwas zu Bruch. Ein Argwohn wird fortan ihre Bücher und alles, was sie öffentlich sagt, verschatten."

Im "Literarischen Leben" der FAZ erinnert Marc Degens an den 2021 im Alter von 47 Jahren verstorbenen, ziemlich rustikalen Verleger Giancarlo DiTrapano, dessen Literaturzeitschrift Tyrant samt gleichnamigem Verlag mit nur einer Handvoll Veröffentlichungen die Gegenwartsliteratur verändert haben und bis heute prägen. Er "war ein bad boy der Literaturwelt. Er war berühmt für seine Großzügigkeit, seine magischen Fähigkeiten als Lektor, seine Stilsicherheit und seinen literarischen Spürsinn - insbesondere für die Stimmen von Außenseitern, denen er eine verlegerische Heimat bot. Gleichzeitig war er berüchtigt für seine harschen, drastischen Urteile, seine willkürlichen Dogmen, sein Lavieren am Abgrund, seine Verschwendungssucht, seinen finanziellen Unverstand und seinen nicht verheimlichten, sondern verherrlichten Drogenkonsum. Giancarlo DiTrapano polarisierte - und das ganz bewusst. Mit seinem Wesen, aber auch mit den Texten und Stimmen, die er förderte, lektorierte und veröffentlichte."

Weiteres: Michael Wurmitzer meldet im Standard den Tod der österreichischen Schriftstellerin Ilse Helbich. Der Dlf widmete ihr zu ihrem 100. Geburtstag im letzten Herbst noch ein großes Literaturfeature. Jasper Nicolaisen plaudert für Kaput mit einem Betreiber des auf Science Fiction und Fantasy spezialisierten Buchladens Otherland in Berlin-Kreuzberg. Die Schriftstellerin Gabriele Stötzer schreibt in "Bilder und Zeiten" der FAZ einen Nachruf auf die eben verstorbene Lyrikerin Elke Erb (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem Jean Amérys Essayband "Der neue Antisemitismus" (Standard, taz), Rijula Das' "Die Frauen von Shonagachi" (Presse), eine Neuausgabe von Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland" (taz), Rijula Das' Krimi "Die Frauen von Shonagachi" (taz), Anna Metcalfes Debütroman "Chrysalis" (SZ) und die deutsche Erstveröffentlichung von John Sanfords "Die Menschen vom Himmel" aus dem Jahr 1943 (FAZ).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Kristina Maidt-Zinke über Karoline von Günderrodes "Vorzeit, und neue Zeit":

"Ein schmaler rauher Pfad schien sonst die Erde.
Und auf den Bergen glänzt der Himmel über ihr ..."
Archiv: Literatur

Film

Im Geisterreich des Zwanzigsten Jahrhunderts: "Märchen" von Alexander Sokurow

"Märchen" ist wohl Alexander Sokurows letzte Filmarbeit. Der vergangenes Jahr in Locarno präsentierte Animationsfilm führt "in ein Schattenreich, wo Europas Protagonisten des Zweiten Weltkriegs, Hitler, Stalin, Mussolini, aber auch Churchill auf Gottes Urteilsspruch warten", schreibt Kerstin Holm in der FAZ. In Russland wurde dem Film die Verleihlizenz verwehrt, wohl auch weil Stalin in dem Film so gar nicht gut wegkommt - auf Youtube ist der Film allerdings, wenn auch ohne vernünftige Untertitel, zu finden. "Es ist eine schwarze Komödie über die Unbesiegbarkeit des Bösen. Die Helden verdoppeln, verdrei- und vervierfachen sich wie durch Knospung, sie reden aneinander vorbei in banalen Repliken, die Sokurow aus Originalzitaten kompiliert hat, jeder in seiner Sprache: Hitler, der Redseligste, verspottet Christus auf Deutsch und schwatzt, die Deutschen müssten die Welt beherrschen, weil sie die besten Soldaten, Baumeister, Musiker, Denker seien - es störten nur die Juden. Stalin fragt ironisch auf Georgisch, wie es wohl seinem geliebten russischen Volk gehe, und brummelt, er habe viel gemetzelt, aber das sei stets verdient gewesen, ein Rasen müsse kurz geschnitten werden bis auf die Graswurzeln. Mussolini schwadroniert auf Italienisch über schöne Uniformen und erscheint mal mit nacktem Oberkörper, mal zu Pferd."

Das Team von critic.de (darunter auch einige für den Perlentaucher tätige Autoren) sendet Notizen mit ihren Entdeckungen auf dem Hofbauerkongress, der sich wie jedes Jahr Anfang Januar in Nürnberg zugetragen hat. Es ist wohl das einzige Festival, bei dem "Animationsfilm neben Schmachtfetzen, Schwulenporno neben Bollywood, Dokumentarfilm neben argentinischem Noir stehen kann, als sei es das Selbstverständlichste der Welt", schwärmt etwa Florian Widegger. "Das Kino wird hier zum derzeit vielbeschworenen Safe-Space - aber unter anderen Vorzeichen: Die Filme selbst sind es, die hier unter 'Schutz' stehen und mit ihnen die Offenheit, Neugierde und die Intelligenz des Publikums." Beeindruckend war etwa Dieter Geisslers "Wunderland der Liebe" (1970): Dieser Film "hätte ein peinlicher Pseudo-Report werden können", doch "legt der Film ein gebührliches Maß an Ernsthaftigkeit an den Tag, bei dem sich die Macher tatsächlich für die Menschen und ihre jeweiligen Einstellungen zu interessieren scheinen. Ob Happenings im Pfarrhaus, Performances diverser Bürgerschrecks (u. a. Otto Mühl), der Lebens- und Liebesalltag in einer Kommune - wo ähnlich gelagerte Filme sonst den moralischen Zeigefinger heben und alles, was nicht der Norm entspricht, verurteilen, legen Geissler & Co eine ungewöhnliche Offenheit an den Tag."

Weitere Artikel: Florian Weigl berichtet für critic.de das Berliner Festival "Unknown Pleasures", das aktuelles US-Indiekino zeigt. Irene Genhart resümiert im Filmdienst die Solothurner Filmtage. Der Tagesspiegel fragt sich und seine Experten, ob die zweieinhalb deutschen Oscarnominierungen (Wim Wenders geht bekanntlich für Japan ins Rennen) wirklich einein Ego-Booster für den deutschen Film darstellen. Welt-Kritikerin Marie-Luise Goldmann hält Greta Gerwigs nicht als "bester Film" nominierte Komödie "Barbie" (unsere Kritik) für klüger als alle in dieser Kategorie nominierten Filme zusammen. Susan Vahabzadeh porträtiert für die SZ die Schauspielerin Karoline Herfurth. Die vor 80 Jahren uraufgeführte Pennälerklamotte "Die Feuerzangenbowle" mit Heinz Rühmann sei nur vordergründig ein harmloser Spaß, aber in Wirklichkeit -  "die autoritären Fantasien, der heitere Opportunismus, die Flucht in eine Vergangenheit, die es so nie gab" - ein getarntes Vehikel für NS-Propaganda, schreibt Sonja Zekri in der SZ - dass mittlerweile eine AfD-Politikerin die Rechte daran hält und also mit jeder Auf- und Vorführung daran verdient, komme noch erschwerend hinzu.

Besprochen werden die Amazon-Serie "The Expats" mit Nicole Kidman (Tsp) und Dito Tsintsadzes Russenmafia-Film "Roxy" mit Devid Striesow (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Peter Laudenbach freut sich in der SZ nach der Bekanntgabe des Programms endlich mal wieder auf das diesjährige Berliner Theatertreffen. Das wird eine "Feier des Theaters und seiner Mittel", jubelt er: "Mit der Bekanntgabe der Auswahl weicht die schulterzuckende bis genervte Gleichgültigkeit vergangener Jahre der Vorfreude auf ein Theaterfest, mit dem das Treffen wieder das werden könnte, was es über Jahrzehnte war: schlicht das wichtigste, Maßstäbe setzende, in die Gesellschaft ausstrahlende und die Bedeutung der gottlob nicht totzukriegenden Bühnenkunst manifestierende Theaterfestival
des Landes."

Weiteres: Die Kritiker trauern um den Regisseur Frank-Patrick Steckel.

Besprochen werden das Stück "Mauern" vom feministischen Theaterkollektive She She Pop im Mousonturm Frankfurt (FR), das Tanzsolo "Scarbo" von Ioannis Mandafounis im Bockenheimer Depot in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Beim Luzerner Festival "Le Piano Symphonique" ist Klavierkunst auf höchstem Niveau zu bestaunen, schreibt Albrecht Selge in der FAS, so "gletschersicher ist das technische Niveau auch schon sehr junger Musiker", gegenüber denen sogar die eine oder andere Aufnahme der Altvorderen zusehends Blässe entwickelt. Beim chinesischstämmigen US-Amerikaner Kit Armstrong etwa, gerade mal knapp über 30, darf man sogar mal von einem Genie sprechen, findet Selge: "Auch wenn Armstrong findet, das 'Reproduzieren von Partituren' sei keine Kunst: Seine Wiedergabe von Franz Liszts '12 Études d'exécution transcendante', eines einschüchternden Hochgebirgswerks der Klavierliteratur, ist nicht nur von atemberaubender Fingerfertigkeit, sondern auch so lebendig, wie es nur geht. Da gibt es auch im heftigsten Forte noch dynamische Abstufungen, die man eigentlich für unmöglich hält. Und inmitten der grotesken Artistik etwa der 'Mazeppa'-Etüde in d-Moll, bei der Liszt einen als Hörer geradezu physisch attackiert, blüht stets unerhörte Farbigkeit. Welche gewaltigen Empfindungen sich aus dem verhaltenen Beginn der Etüde 'Harmonies du soir' auftürmen, wird ebenso zum Natur- und Seelenereignis wie das Tonflockentreiben der finalen 'Chasse-neige'-Etüde." Hier eine frühere Liszt-Aufnahme von ihm:



Außerdem: Julian Weber spricht für die taz mit dem Dirigenten Ilan Volkov über dessen Eindrücke nach dem 7. Oktober. Thomas Venker spricht für Kaput mit Maximilian Hecker über dessen neues Album (mehr dazu bereits hier). Ebenfalls in Kaput, allerdings schon ein paar Tage älter, findet sich ein von Mario Lasar geführtes Gespräch mit Andreas Dorau, der gerade ein neues Album veröffentlicht hat. Georg Rudiger berichtet in der NZZ vom Auftakt des Mizmorim-Festivals in Basel. Jan Feddersen (taz) und Harry Nutt (FR) schreiben Nachrufe auf die Folkmusikerin Melanie Safka. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit dem Songwriter Tom Odell.

Besprochen werden ein von Kirill Petrenko dirigierter Schönberg-Abend der Berliner Philharmoniker mit dem Rundfunkchor Berlin (Tsp), ein neues Album von Future Islands (TA), das neue Turbobier-Album "Nobel geht die Welt zugrunde" (Standard) und das neue Album der Musikerin Torres (Tsp).

Archiv: Musik

Design

Gerhard Matzig kann in der SZ nur noch mit dem Kopf schütteln, wenn er eine neue, von einer Grazer Firma gestaltete Superyacht mit eingebauter U-Bootfunktion sieht, die es ihren Besitzern für kolportierte zwei Milliarden gestattet, yacht-üblichen Luxus mit der Möglichkeit zu kombinieren, buchstäblich unterzutauchen. "So muss es sein, das Leben: ein unendlicher Spaß. Wie bei Hamlet, auf den David Foster Wallace mit seinem Buch 'Infinite Jest' anspielt, wobei das 'Infinite' an den Infinity-Pool erinnert. Der ist beim kolportierten Kaufpreis als Zubehör enthalten. Im U-Boot, aber doch am Pool: schon ziemlich schräg - aber das ist ja der Witz. Was die rund 1000 Quadratmeter Fläche noch ausfüllt: Hubschrauber, Heißluftballon, Tauchausrüstung, Jetski, Speisesaal, diverse Bars, Kino, Weinkeller und 'Camp-Ausrüstung (tropisch und arktisch)'. Alles inklusive. Sonderwünsche sind möglich. Das U-Boot, das den unendlichen Spaß ins ohnehin nicht sehr spaßarme Yacht-Business überführt, soll eine Reichweite von 15 000 Kilometern haben. Man kann damit vier Wochen lang abgetaucht unter Wasser bleiben. Unter dem Radar in gewisser Weise auch. Und ist man eigentlich steuerpflichtig zwischen Tropen und Nordpolarmeer?"
Archiv: Design
Stichwörter: Yachten, U-Boot, Luxus

Kunst

Jeff Wall, After 'Invisible Man' by Ralph Ellison, the Prologue (Nach 'Der unsichtbare Mann' von Ralph Ellison, der Prolog), 1999-2000. Grossbilddia in Leuchtkasten, 174 x 250,5 cm. Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel © Jeff Wall 

Die "Sichtbarmachung des Unsichtbaren" beobachtet Hans-Joachim Müller für die Welt auf den Fotos von Jeff Wall in der Fondation Beyerler. Geradezu magisch findet der Kritiker, wie Wall den Erzähler aus Ralph Ellisons Roman "Invisible Man" auf einem seiner berühmtesten Bilder zum Leben erweckt, als "schwarzen Mann, der unter seinem mit Glühlampen bewachsenen Zimmerhimmel im Lebensmüll hockt und die blecherne Salatschüssel abtrocknet." Was genau ist das Faszinierende an diesen Bildern, überlegt Müller. Es hat wohl auch damit zu tun, meint er, dass Walls Szenen so alltäglich scheinen - aber doch immer etwas Fremdes enthalten: "Immer herrscht auf dem Set dieser Foto-Inszenierungen millimetergenaue Ordnung. Kein Detail ist dem Zufall überlassen. Es ist Stellungskunst. Und zugleich die Kunst, in der Geometrie der Figuren, im Mosaik der Dinge, in der Regie über Himmel und Horizont die unmessbaren Erregungen, die Verwirrungen der Gefühle zu verstecken. Die Differenz zwischen den ordentlichen Begriffen von Welt und den unordentlichen Bildern von Welt, der unüberbrückbare Abstand zwischen Sehnsucht und Sehnsucht heißt Angst. Ganz wohl, ganz geheuer ist einem im Cinema des Jeff Wall selten."

Tazlerin Julia Hubernagel hat sich in der Kunstszene Taiwans umgesehen. Obwohl die politische Bedrohung durch China überall präsent ist, begegnet ihr bei den Kunstschaffenden in Taipeh, Kaohsiung und Tainan "weniger Pessimismus als eine gewisse trotzige Gefasstheit". Kritik gibt es, aber sie muss sehr subtil sein, erfährt die Kritikerin: "Grillen zirpen. Etwa hundert Stück. In einem dunklen Raum im Kaohsiung Museum of Fine Arts singen einzeln in kleine Gläsern gesperrte Insekten von einer Videowand auf die Besucherin herab. Hochhaussiedlungen kommen einem in den Kopf, Wohnungsknappheit, der Mensch als Legehenne im Kapitalozän. Eine Dystopie? Der Künstler Chen Yen-Chi lächelt. 'Die Grillen sind doch glücklich in ihrem Käfig', sagt er. 'Sie haben genug Nahrung und leben in Frieden. Würde man sie zusammen halten, gingen sie aufeinander los."

Weiteres: FAZ, NZZ, Tagesspiegel, FR und Welt schreiben Nachrufe auf den Bildhauer Carl André.

Besprochen wird die Ausstellung "Africa and Byzantium" im Metropolitan Museum of Art in New York (FAZ).
Archiv: Kunst