Efeu - Die Kulturrundschau

Versuchungen der Selbstverdummung

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17.11.2023. Alles auf null bei der Documenta: Die Findungskommission ist zurückgetreten, melden die Zeitungen. Zu spät, das Kind ist in den Brunnen gefallen und das Renommee dahin, befindet die SZ, der FAZ reicht es jetzt: Sie fordert klare kulturpolitische Positionierung. Die FR lässt sich von der Dresden Frankfurt Dance Company in "À la carte" umschwärmen. Spotify wird endgültig zum "verkehrten Robin Hood", stellt der Tagesspiegel wütend fest: Auf Kosten kleiner Künstler sollen die großen jetzt noch reicher gemacht werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2023 finden Sie hier

Kunst

Und jetzt noch mal von vorne: Die noch übriggebliebenen Mitglieder der Findungskommission für die Documenta 16 sind nach dem erneuten Antisemitismus-Skandal um Ranjid Hoskoté (unser Resümee) geschlossen zurückgetreten, nun muss eine neue gefunden werden, meldet unter anderem die Zeit. Der Rücktritt ist bei weitem nicht das einzige Problem, hält Jörg Häntzschel (SZ) fest: "Auch in allen anderen Bereichen ringt die Documenta um Stabilität. Ihr Geschäftsführer, Andreas Hoffmann, ist erst seit Mai im Amt. Der Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller, der gemeinsam mit der hessischen Kultusministerin dem Aufsichtsrat vorsitzt, erst seit Ende Juli. Die künftige Zusammensetzung des Aufsichtsrats, in der der Bund zuletzt kaum noch Einfluss hatte, was Claudia Roth immer wieder beklagte, wird heftig diskutiert. Weder gibt es im Moment ein Konzept für die kommende Documenta, noch eine organisatorische Struktur. Die Reputation der bis vor kurzem einflussreichsten Kunstausstellung der Welt ist sowieso dahin."

Claudia Roth muss sich endlich positionieren, fordert Jürgen Kaube in einem FAZ-Artikel, der offenbar vor der Bekanntgabe des Rücktritts entstanden ist, denn der wird mit keinem Wort erwähnt: "Die Documenta ist zwar keine Veranstaltung des Bundes, aber ihr Ministerium trägt nicht nur zur Finanzierung der Kunstschau bei, sondern ist auch symbolisch daran beteiligt. Wenn der Bundespräsident und der Kanzler eingeladen sind, darf gefragt werden, wie antisemitisch die Veranstaltung ist." Hoskotés Unterschrift ist für ihn symptomatisch für den ganzen Betrieb und seine Geisteshaltung: "Der Reiz, durch schnelle Unterschriften Solidarität zu behaupten, ist offenbar selbst dort groß, wo in den Selbstbeschreibungen sonst differenziertes Denken, sorgfältiges Schreiben und Empirie eine große Rolle spielen. Die Versuchungen der Selbstverdummung scheinen unwiderstehlich. Es ist nachvollziehbar, wenn die Kulturpolitik dieser ständigen Relativierung, der Camouflage, des Spiels mit Begriffen (Apartheid, Genozid) und des intellektuellen Taktierens müde wird. Sobald sie klare Worte verlangt, bekommt sie beleidigtes Selbstmitleid und Wortklaubereien. Im Schach heißt es, die Drohung sei stärker als die Ausführung."

Wahnsinnig passend findet Stefan Trinks in der FAZ den Titel "Zerreißprobe" für die neue Ausstellung der Neuen Nationalgalerie Berlin: Sie zeigt die unterschiedlichsten Werke aus den Beständen zwischen 1945 und 2000. Umfangreich in der Menge und der Vielfalt der Stile: "Boris Nemenskijs metergroßes Panorama 'Auf der namenlosen Höhe' von 1961 ist trotz seines realistischen Stils eine Art abstraktes Antikriegsbild, das heute noch und wieder besonders erschüttert - zwei Jungen liegen auf einem Hügel tot nebeneinander, am Hang liegt ein ebenfalls toter Wehrmachtssoldat. Da die Jungen keine Uniform tragen und im Tod namenlos sind, ist dieses Historienbild ewiger Wiederholung so abstrakt wie die zeitgleichen gegenstandslosen Versuche westlicher Maler, das unsagbare Grauen des Krieges künstlerisch durch unkonkrete, abstrakte Formen zu bewältigen. Es ist keine plumpe Sowjet-Propaganda, sondern universelles Mitleiden am sinnlosen Tod in Kriegen. Das Fehlen einfacher Wahrheiten, tiefe Zerrissenheit und Ambiguität, all das ist schon in der völligen Uneinheitlichkeit der Stile ab 1945 ablesbar: es gibt keinen dominierenden Stil mehr, parallel läuft eine Vielzahl von Bewegungen in der Kunst ab, mit osmotischen Austauschprozessen über die politischen Bruchlinien hinweg."

Besprochen werden: Die Ausstellungen "From My Heart" in der Pinakothek der Moderne und "Empathy" im Diözesanmuseum Freising, beide von Kiki Smith (taz), "Imagine Picasso" in der Lichthalle Maag, "Clemens Tremmel-The Sublime" in den Reinbeckhallen (tsp) und "Holbein at the Tudor Court" im Royal Collection Trust London (Standard).
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Film

"Ich Bin! Margot Friedländer" im ZDF

Hannah und Raymond Leys fürs ZDF entstandenes Dokudrama "Ich bin! Margot Friedländer" ist ein TV-Ereignis, schreibt Dietrich Leder im Filmdienst. Endlich einmal löst sich das Fernsehen von den kümmerlichen Formatvorlagen des Genres. Nicht nur der Cast ist brillant, auch "die Erzählweise des Films ist angemessen vertrackt, wechselt oft die Zeitebenen und sogar die Darstellungsformen. Das dokumentarische Material ist sehr gut ausgewählt und so bearbeitet, dass es sich in die fiktionale Darstellung einfügt, ohne seinen eigenen Charakter zu verlieren. ... Gelegentlich unterbrechen Szenen, die deutlich als Bühnenabstraktionen mit wenigen Kulissen wie einer Tür gekennzeichnet sind, die realistische Darstellung. In diesen antinaturalistischen Szenen werden die Wünsche und Projektionen der Protagonistin erfasst; ihr Leben geht in den Daten ihrer Verfolgung eben nicht auf. Man kann darüber streiten, ob es wirklich notwendig war, einige der dokumentarischen Bilder über das Gesicht der zurückhaltend spielenden Hauptdarstellerin Julia Anna Grob zu legen."

Weitere Artikel: Valerie Dirk spricht für den Standard mit Jessica Hausner über deren neuen Film "Club Zero". Kristina Jaspers wirft für den Filmdienst einen Blick aufs Produktionsdesign des neuen (im Standard besprochenen) "Tribute von Panem"-Blockbusters. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Lauren Hutton zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Eli Roths "Thanksgiving" (FD, unsere Kritik), Colm Bairéads "The Quiet Girl" (ZeitOnline), die ersten Folgen der letzten Staffel von "The Crown" (Presse, Welt), Martin Schilts Dokumentarfilm "Krähen - Die Natur beobachtet uns" (FR) und die Serie "Deutsches Haus" (taz, mehr dazu bereits hier).
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Bühne

Györgi Ligetis "Le Grand Macabre" erlebt gerade eine ziemliche Konjuktur, jetzt wird die Oper auch an der Wiener Staatsoper aufgeführt, inszeniert von Jan Lauwers, freut sich Alexander Keuk in der Neuen Musikzeitung: "Überzeichnung gerät bei Lauwers lustvoll und fast schon auf eine natürliche Art und Weise, während der Beginn, als tatsächlich zum von Ligeti erfundenen 'Breughelland' auf der Bühne die Breughels Gemälde als Raumelemente erscheinen, kurze Angst vor klassischen Missverständnissen bekommt. Doch da Lauwers stark visuell mit Körpern und Bewegung arbeitet und sich Ligetis schillernde Partitur samt einem exzellenten Sängerensemble dazugesellt, entsteht dieser spezielle Wiener Weltuntergang als performatives Gesamtkunstwerk - und zwar nicht mit der humorpolternden Brechstange, sondern subtil, mit erschreckender Präzision." Eleonore Büning vergleicht die Wiener Inszenierung von Ligetis "Le Grand Macabre" mit der an der Frankfurter Oper (VAN).

DFDC: À la carte. Foto: Dominik Mentzos.
"Wer könnte einem solchen Werben widerstehen?", fragt Sylvia Staude in der FR angesichts der "Charmeoffensive" der Dresden Frankfurt Dance Company, die mit "À la carte" im Bockenheimer Depot zum ersten Mal unter der Leitung des Choreografen Ioannis Mandafounis auftritt: "Nicht länger als eine gute Stunde dauert 'À la Carte', selbst bei Schlagzeug- und vollem Körper-Einsatz ist es leicht wie ein Soufflé. Und eine herzliche Einladung, sich auf den neuen Tanzchef und sein famoses Ensemble einzulassen - eigentlich ist kaum zu befürchten, dass diejenigen, die seit Forsythes Ballett dem Tanz verfallen sind, sich dieser Einladung verschließen werden."

Einer "niemanden irritierenden, aber auch keinen herausfordernden Wagner-Zurichtung" wohnt Manuel Brug beim "Lohengrin" in der Inszenierung von Christof Loy an der National Opera in Amsterdam bei. Es "wird ziemlich brav am Libretto lang inszeniert. Die Musik, die das Nederlands Philharmonisch Orkest unter Lorenzo Viotti volltönend und strukturklar produziert, kapellmeisterlich glatt, sehr gut reproduziert, aber mit wenig interpretatorischem Eigensinn aufgeladen. Viotti, bei dem man immer noch nicht genau sagen kann, ob er Dirigent ist oder nur Instagram-verliebter Dirigentendarsteller, dirigiert seinen ersten Wagner professionell, nicht viel mehr. Er hält auf seiner beherzten Entdeckung der 'Lohengrin'-Langsamkeit gekonnt zusammen, viele Blicke für die Sänger hat er nicht übrig. So ähnlich inszeniert diesmal Loy, mit großer Allfresco-Geste in den Tableaux, die durch zehn meist nur ungläubig erstaunt herumeilende Tänzer Bewegung vortäuschend aufgelockert werden, gekonnt feinzeichnende, intimere Momente, die aber weder über Elsa und Lohengrin noch über Ortud und Telramund wirklich Neues erzählen."

Besprochen werden: Die Kinderoper "Nils Holgersson" an der Komischen Oper Berlin und "Tannhäuser" und "Der fliegende Holländer" an der Deutschen Oper Berlin in einer Doppelbesprechung (VAN).
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Literatur

Die SZ dokumentiert die Rede, mit der der Philosoph Omri Boehm das Münchner Literaturfest eröffnet hat und in der es um die Geschichte jüdischer Identität in Deutschland, das Erbe des Humanismus und jüdische Identität nach dem 7. Oktober geht. Der (auf Literaturadaptionen spezialisierte) Comiczeichner Nicolas Mahler leitet künftig die Wiener Dichterschule, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem eine Arte-Doku über Anthony Burgess' Klassiker "Uhrwerk Orange" (FR), Walter Moers' "Die Insel der Tausend Leuchttürme" (Intellectures), Hayao Miyazakis Comic "Shunas Reise" (SZ) und Manfred Görtemakers Rudolf-Heß-Biografie (FAZ).
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Musik

Jens Uthoff spricht für die taz mit dem israelischen DJ Ori Raz, der am Sonntag im Berliner AboutBlank - dem einzigen Berliner Club, der das Hamas-Massaker glaubhaft verurteilt hat - ein Soli-Set für die Opfer des Supernova-Festivals spielt. Raz will damit auch "das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es wichtig ist, für jüdische Menschen und Israelis einzustehen. Das bedeutet nicht, dass man sich weniger um andere Menschengruppen kümmert und sorgt, auch um Palästinenser:innen. In der Clubszene existiert derzeit ein 'wir und sie'. Es gibt eine Kultur der Ablehnung gegenüber Menschen, die sich mit Israel oder dem jüdischen Volk solidarisch zeigen. Es war schon vor dem 7. Oktober latent und ist seither eskaliert. Unterschiedliche Meinungen zu haben, ist in Ordnung. Aber es ist wichtig, den anderen zu akzeptieren und in Dialog zu treten."

Jakob Biazza unterhält sich für die SZ indes mit dem Rapper Disarstar, der sich aktuell gegen die Bild wehrt, die ihn als "Judenhasser" hinstellt - und zwar auf Grundlage eines Songs, den der heute 29-Jährige mit 15 Jahren gerappt, aber nie veröffentlicht hat und von dem er sich seit vielen Jahren glaubhaft distanziert. Für den Rapper gibt es heute "keinerlei Diskussion darüber, dass diese Zeilen antisemitisch und menschenverachtend sind". Inspiriert hätten ihn damals Verschwörungsvideos auf Youtube und "Leute wie Ken Jebsen. ... Teile der Rap-Szene haben natürlich ein immenses Antisemitismus-Problem", doch "ich glaube nicht, dass der Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet ist als unter bio-deutschen Jugendlichen. ... Es ist der reine Wahnsinn, wie viele Menschen, die Thomas heißen oder Julian, mir nach dem Text in der Bild geschrieben haben, um mir zu sagen, dass sie nicht verstehen, was an meinen Zeilen problematisch sein soll."

Silvia Silko ärgert sich im Tagesspiegel über das neue Bezahlmodell, mit dem Spotify ab 2024 seine Auszahlungen abrechnen will: Songs, die pro Jahr keine 1000mal abgespielt werden, bekommen dann kein Geld mehr. Die damit eingesparten "Millionenbeträge" fallen erfolgreicheren Künstlern zu. "Damit führt Spotify seinen Grundsatz des verkehrten Robin Hoods in neue Extreme: Diejenigen, die schon reich sind, werden noch reicher und das auf Kosten der kleinen Fische. ...  Spotify schmückt sich gerne mit einem vielfältigen Angebot, will diese Vielfalt aber nicht bezahlen. Produkte zu nutzen, die nicht entlohnt werden, ist ganz streng genommen eine sehr perfide Art von Diebstahl."

Außerdem: Hugh Morris spricht für VAN mit dem Dirigenten Vasily Petrenko unter anderem über seinen Rücktritt im Jahr 2022 als Leiter eines großen russischen Orchesters und seine Hoffnungen, irgendwann doch wieder nach Russland zurückkehren zu können. Yann Cherix plaudert für den Tages-Anzeiger mit dem Popstar Marc Rebillet, der mit skurrilen Youtube-Videos bekannt geworden ist. Für die Welt porträtiert Elmar Krekeler die Organistin Anna Lapwood, die via Social Media ziemlich steil geht und daher von manchen schon als "Taylor Swift der Klassik" bezeichnet wird. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Klassikintendanten Franz-Xaver Ohnesorg. Für VAN würdigt Albrecht Selge die schwer erkrankte Gitarristin Heike Matthiesen mit einer Zusammenstellung ihrer besten Aufnahmen.

Besprochen werden der Tourauftakt von Madonna (Welt, FAZ, SZ), die Wiederveröffentlichung von João Donatos Album "A Bad Donato" von 1970 (es verbindet "die melancholische Sweetness brasilianischer Musik mit knüppelhartem Funk, Noise-Experimenten und bewahrt sich dabei trotzdem eine souveräne, mitunter fast verspielte Lässigkeit", frohlockt Detlef Diederichsen in der taz), das Album "I Killed Your Dog" von L'Rain (taz), das Jubiläumskonzert des Ensemble Modern zu 30 Jahren Happy New Ears (FR), der zweite Teil des Jubiläumsalbums "The Journey" zum 60-jährigen Bestehen der Kinks (FR) und Dolly Partons neues Album mit hauptsächlich Coverversionen von Rocksongs, womit sie sich laut Standard-Kritiker Christian Schachinger "keinen Gefallen getan hat": Einige der Songs hier zählen "zu den absoluten musikalischen Grausamkeiten in einem an musikalischen Grauslichkeiten nicht gerade armen Jahr". Wir sind also gewarnt und hören in aller Vorsicht rein:

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