Efeu - Die Kulturrundschau

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01.03.2024. Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse sorgen beim Tagesspiegel für Überraschung, Welt und FAZ freuen sich, letztere besonders über die Graphic Novel "Genossin Kuckuck." Die FAZ ist froh über klare Worte gegen einen Ausschluss Israels von der Biennale, auch wenn sie von einem rechten Minister kommen. Gegen ständige Verfügbarkeit und Planungsunsicherheiten im Theaterbetrieb wehrt sich die Bewegegung #StoppNVFlatrate, SZ und VAN berichten. Das Stück "Ulrike Maria Stuart" ist nach der Verhaftung Daniela Klettes  umso aktueller, findet Nachtkritik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2024 finden Sie hier

Literatur

Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse stehen fest: Hoffnungen im Bereich Belletristik können sich Anke Feuchtenberger (für ihren Comic "Genossin Kuckuck"), Wolf Haas (für "Eigentum"), Inga Machel (für "Auf den Gleisen"), Barbi Marković (für "Minihorror") und Dana Vowinckel (für "Gewässer im Ziplock") machen. Die Nominierten im Bereich Sachbuch und Übersetzungen finden sich hier auf der Website der Veranstaltung. Marc Reichwein lobt in der Welt die geglückte Vielfalt, "und zwar gerade nicht im Sinne identitätspolitisch modischer Diversität". Gerrit Bartels vom Tagesspiegel ist "ein wenig ratlos und überrascht": Lediglich Wolf Haas sticht als seit langer Zeit etablierter Autor heraus, ansonsten setzt sich die Shortlist aus literarischem Nachwuchs und eher unbekannten Autoren zusammen: "Verzwergung eines Preises? Verfeinerung? Oder die alljährliche Entdeckung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur-Vielfalt? Die Jury-Vorsitzende Insa Wilke nennt es lieber anders. Für sie bildet sich bei den diesjährigen Nominierungen 'eine verstärkte Auseinandersetzung mit Fragen des politischen und historischen Bewusstseins ab'."

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Damit hat es sich die "Jury einerseits leicht gemacht, indem sie so ziemlich alle naheliegenden Titel aussonderte, und andererseits schwer aus demselben Grund", kommentiert Andreas Platthaus online bei der FAZ: "Denn nun werden sich Stimmen erheben, die für Daniel Kehlmann und die ganze sonstige unberücksichtigte Prominenz und Bestsellerherrlichkeit streiten." Dass erstmals ein Comic in der Kategorie Belletristik nominiert ist, freut Platthaus sehr: "Genossin Kuckuck" ist "die in Buchform geronnene Summe eines der beeindruckendsten Lebenswerke, die nicht nur der deutsche, sondern auch der internationale Comic kennt. Autobiografisch, surreal, ausschweifend, hochkünstlerisch - der Band wäre der natürliche Gewinner, gäbe es nicht das Monitum, dass noch jede Literaturpreisjury (darunter einige, denen der Verfasser dieses Textes als erklärter Comicliebhaber angehört hat) vor der letzten Entscheidung zugunsten des gezeichneten Wortes zurückgeschreckt ist." Im Freitag führt Björn Hayer Feuchtenbergers Comic und Barbi Markovićs "Minihorror" miteinander eng: "Bezieht man die beiden Werke auf unsere prekäre Gegenwart, so versinnbildlicht deren gemeinsames Bestiarium sämtliche mal abstrakteren, mal konkreteren Bedrohungen unseres heutigen Zusammenlebens. Seine Repräsentationen sind die furchterregenden Nachrichten, die Aufnahmen von Verletzten und Getöteten wie gleichsam alle Zeugnisse von sintflutartigen Überschwemmungen und Verwüstungen durch den Klimawandel."

Kerstin Holm berichtet vom Internationalen Literaturfestival Odessa, das im Exil in Rumänien stattfand. Naturgemäß stand der anhaltenden Krieg in der Ukraine im Mittelpunkt der vorgestellten literarischen Werke und der Debatten darum. "Der ukrainische Autor Vasyl Makhno, der seit 2000 in New York lebt, liest sein geschichtsphilosophisches Gedicht 'Krieg', das Russlands jetzigen Großangriff mit dem Ansturm der Bolschewiken nach der kurzen ukrainischen Unabhängigkeit 1918 vergleicht. Wieder werde die Ukraine von russischer Literatur eingekesselt und von dunklen Völkerschaften aus der Tiefe des Landes angegriffen. Makhno sieht den russischen Staat in Zyklen expandieren. Anlässlich des russischen Großangriffs auf sein Herkunftsland schrieb er einen Aufsatz über die Eroberung der Kiewer Rus durch die Mongolen 1240. Das Mongolenreich war strikt zentralistisch-militärisch organisiert, es wuchs durch Angriffskriege, heißt es darin. Ihre Grausamkeit und Hartnäckigkeit waren legendär, Soldaten, die sich ohne Befehl vom Schlachtfeld entfernten, wurden mit dem Tod bestraft. Russland sei Erbe und Adept des Mongolenreiches, weiß Makhno."

Besprochen werden unter anderem Michael Lentz' "Heimwärts" (FR), eine Kafka-Ausstellung in Berliner Staatsbibliothek (BLZ), Julia Josts "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" (NZZ) und Teju Coles "Tremor" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

"Feste feiern!" Foto: Henning Rogge.
Wer die Ritual- und Feierkultur des antiken Griechenlands und ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit kennenlernen will, sollte sich ins Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und die Ausstellung "Feste Feiern!" begeben, empfiehlt Tilman Spreckelsen in der FAZ. Anhand der Panathenäen, Feierlichkeiten zu Ehren der Göttin Athene, lernt Spreckelsen, wie diese aufgebaut sind: "Ein fester Bestandteil war die Übergabe eines neugewebten Gewandes an die Göttin, und um die Vermutung zu illustrieren, dass auf der Bordüre die Gigantomachie dargestellt war, der mythische Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten, steht in einer Vitrine ein aus seinen Scherben teilrekonstruierter Volutenkrater aus dem vierten Jahrhundert vor Christus, auf dem dieser Kampf gegen die Kinder der Gaia zu sehen ist." Die Schau wird fast komplett aus dem Depot des Hauses bespielt, wenige Leihgaben aus Neapel sind besondere Highlights: "Teile gladiatorischer Prunkrüstungen - Beinschienen und ein Helm -, die ebenfalls aus Neapel entliehen wurden, erfüllen ihren Zweck vollständig. Sie wurden wahrscheinlich niemals im Kampf eingesetzt, verbinden aber das Martialische mit dem Eindruck gediegener Schönheit, wovon nicht zuletzt die Musen zeugen, die den Helm schmücken."

Bezüglich der Petition, die einen Ausschluss Israels von der Venedig Biennale fordert (unsere Resümees), ist Stefan Trinks in der FAZ froh über klare Worte des italienischen Kulturministers Gennaro Sangiuliano, auch wenn sie aus der politisch rechten Ecke kommen: "Er werde verteidigen, dass die Biennale 'ein Raum der Freiheit und des Dialogs' bleibe, nicht aber 'von Zensur und Intoleranz'. Solche ohne Zögern und ohne Zweideutigkeiten formulierten Worte hätte man sich von Sangiulianos deutschem Pendant Claudia Roth zur Documenta oder Berlinale gewünscht. Noch nach Bekanntwerden des ersten Antisemitismusskandals auf der Kasseler Weltkunstschau war da die Rede von 'spezifisch deutschen Fragen'; es gelte, auch 'entlegene Sichtweisen des globalen Südens' nachzuvollziehen. Nein, das muss man nicht - Antisemitismus ist, siehe oben, ein internationales Problem."

Weiteres: Die Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt ist im Alter von 92 Jahren gestorben, melden Berliner Zeitung und FAZ.

Besprochen werden: Die Ausstellungen "Holbein at the Tudor Court" in der Londoner Queen's Gallery (FAZ), die Roberto-Matta-Retrospektive "Matta" im Kunstforum Wien (Standard) und Simone Haacks "Untangling the Strands" in der Abguss-Sammlung Antiker Plastik in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Bühne

Akıns Traum vom Osmanischen Reich. Foto: Tommy Hetzel.
Ein gelungener Abschied für den Intendanten Stefan Bachmann vom Schauspiel Köln, befindet Christine Dössel in der SZ angesichts des von Akin Emanuel Sipal extra für diesen Anlass verfassten Stückes "Akins Traum vom Osmanischen Reich." Ein ungewöhnliches, herausforderndes, aber lohnenswertes Theaterereignis, das "in einem fantastischen Galopp durch fast 600 Jahre Geschichte spurtet," so Dössel. "Den Durchblick behält man beim Who's who dieses rasanten historischen Abrisses tatsächlich nicht, wer kennt sich schon aus mit osmanischer Geschichte - aber genau darin liegt auch der Reiz dieses erfrischend anderen, erfreulich befremdlichen, wunderbar spielfreudigen, mit Völkern, Ländern und Sitten jonglierenden Abends. Als Abschiedsgeste ist dieses Stück (mit türkischen Übertiteln) eine Umarmung. Eine Umarmung nicht nur des migrantischen 'Veedels', in dem das Kölner Schauspiel seine Heimat gefunden hat - gleich um die Ecke ist die Keupstraße mit ihren türkischen Konditoreien, Gold- und Brautmodengeschäften -, sondern auch der ganzen Situation dieses Theaters in den vergangenen elf Jahren. Ausdruck auch seiner gelungenen Integration."

Die Bewegung #StoppNVFlatrate setzt sich für faire Arbeitsbedingungen am Theater ein, erklärt Peter Laudenbach in der SZ: "NV steht für Normalvertrag Bühne, das ist der Standardvertrag der künstlerisch Beschäftigten an den Theatern. Flatrate steht für das, was die drei Bühnengewerkschaften, die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), der Bundesverband Schauspiel (BFFS) und die Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles (VdO), nicht mehr akzeptieren wollen: einen Tarifvertrag, in dem die Arbeitszeit allein durch die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen limitiert ist - diese erlauben Wochenarbeitszeiten von 48 bis zu phasenweise 60 Stunden." Anna Schors ergänzt im VAN Magazin, was das für die Beschäftigten bedeutet: "'Theoretisch könnten die Darsteller dem Theater 24 Stunden zur Verfügung stehen', erklärt Hans-Werner Meyer vom Bundesverband Schauspiel gegenüber VAN. Die Proben, die in der Regel zwischen 10 und 14 sowie 18 und 22 Uhr stattfinden, richten sich nach einem Tagesplan, der oft erst am Vortag veröffentlicht wird, nach geltendem Recht ist es außerdem möglich, dass Beschäftigte elf aufeinanderfolgende Tage ohne freien Tag arbeiten."

Radikal auf etwas über eine Stunde heruntergebrochen findet Nachtkritiker Georg Kasch Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart" in der Inszenierung von Pinar Karabulut am Deutschen Theater Berlin vor. Die Geschichte verwebt die Biografien von Ulrike Meinhof und Gudrun Ennslin mit denen von Maria Stuart und Elisabeth I., die einen ringen um die Krone Englands, die anderen um die Vormachtstellung in der RAF. Mit der Verhaftung von Daniela Klette bekommt das RAF-Stück eine merkwürdige Aktualität, beteuert er: "In Zeiten, in denen die Linke einmal mehr zu zersplittern droht, kommt diese Botschaft mit Pınar Karabuluts Inszenierung gerade recht: Nehmt euch selbst nicht so wichtig und auch nicht eure Orthodoxie (die ja immer schnell im Dogmatismus endet), sondern steht ein für die Sache! Ob's hilft? Zumindest kann man sich an schönen Bildern freuen. Etwa wenn sich Maria Ulrike und Gudrun Elisabeth in Zeitlupe aufeinander zubewegen: die eine zerknirscht, sterbenspathosschwanger, aber dann doch vor allem am Nachruhm interessiert. Die andere bissig, ironisch, triumphierend - und in ihrer Konsumlust dem Kapitalismus längst auf den Leim gegangen."

Besprochen werden: "Der große Wind der Zeit" nach einem Roman von Joshua Sobol in der Inszenierung von Stefan Kimmig am Schauspiel Stuttgart (FAZ) und Mozarts "Idomeneo" in der Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui am Theater Genf (Welt).
Archiv: Bühne

Film

Stil aus der Serie "Alexander der Große: Wie er ein Gott wurde" (Netflix)

Die griechische Rechte zürnt Netflix: Der Streamer hat eine Doku-Serie über Alexander den Großen produziert, die den makedonischen Großherrscher im Liebesspiel mit Männern zeigt. Die Proteste haben auch mit der politischen Debatte über gleichgeschlechte Ehe zu tun, schreibt Thomas Ribi in der NZZ. "Mitte Februar hatte das griechische Parlament ein entsprechendes Gesetz gutgeheissen, gegen den Widerstand der konservativen Parteien." Kulturministerin "Lina Mendoni machte klar, dass es von Staates wegen keine Interventionen geben werde", ist aber auch der Ansicht, dass es "keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass Alexanders Beziehung zu Hephaistion mehr gewesen sei als eine Freundschaft. Wie sie darauf kommt, sagte Mendoni nicht. Die antiken Quellen jedenfalls zeigen ziemlich deutlich, dass die Beziehungen der jungen Männer am makedonischen Hof homoerotischer Natur waren, vor allem die von Alexander zu Hephaistion."

Außerdem: Bert Rebhandl spricht für den Standard mit Christian Friedel, der in Jonathan Glazers "Zone of Interest" (unsere Kritik) den KZ-Kommandanten Rudolf Höß spielt. Valerie Dirk porträtiert die Schauspielerin Zendaya, die im aktuellen "Dune"-Film (unsere Kritik) im Kino zu sehen ist. Lucca Grzywatz erklärt im taz-Gespräch, warum sie ausgerechnet in Lübeck ein neues Filmstudio eröffnet. Felicitas Kleiner gibt im Filmdienst einen Überblick über neue Serien im März. Und die Agenturen melden, dass der italienische Regisseur Paolo Taviani gestorben ist.

Besprochen werden Jonathan Glazers "The Zone of Interest" (Welt, unsere Kritik), Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos "Dune 2" (taz, critic.de, Tsp, Standard, unsere Kritik), die SF-Serie "Constellation" (Freitag)  und die auf Apple gezeigte Comedy-Serie "Die frei erfundenen Abenteuer von Dick Turpin" (Tsp),

Und in einem Video einer ziemlich gut gefaketen Oscarverleihung für eine israelische Satiresendung nimmt der Comedian Michael Rapaport Hollywoodstars aufs Korn, die sich nicht zum 7. Oktober geäußert haben:

Archiv: Film

Musik

Detlef Diederichsen freut sich in der taz auf die erste Deutschland-Tour von Jards Macalé. Zu den Tropicalisten der Sechziger geht der brasilianische Gitarrist eher auf Distanz, wie schon auf dem Debüt von 1972 zu hören ist: "Macalé hatte Piano, Gitarre, Cello, Orchestrierung und Musiktheorie studiert und wurde schließlich ein brillanter Gitarrist, der eine ganz eigene Art kreierte, die Konzertgitarre funky zu machen. Das Format des Albums ist ein Jamsession-Format - auch in der Song-zentrierten brasilianischen Musikwelt eher eine Seltenheit. Zwar ist jeder Titel ein Song mit Text (von Tropicalismo-Dichtern wie Torquato Neto, Capinam und Waly Salomão), aber die Arrangements entwickelte Macalé in Sessions mit dem Schlagzeuger Tutty Moreno ... und dem Gitarristen und Bassisten Lanny Gordin. ... Zu dritt entwickeln sie trickreiche, jazz-angehauchte funky Arrangements, wie sie auch für das zu jener Zeit musikalisch so ausgesprochen fruchtbare Brasilien eine Rarität blieben." Wir hören rein:



Außerdem: Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit Liam Gallagher und John Squire, die gerade ein neues Album veröffentlicht haben (unser Resümee). Bayern will den Musikunterricht eindampfen, berichtet Merle Krafeld in VAN. Für die taz porträtiert Du Pham die Punkband The Sex Organs. In der FAZ gratuliert Edo Reents dem Who-Sänger Roger Daltrey zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden ein Wiener Konzert "in memoriam Alexej Nawalny" des London Philharmonic Orchestra unter Karina Canellakis (Standard) und Siegfried Tesches Buch "Motorlegenden" über die Autos der Beatles (Tsp).
Archiv: Musik