9punkt - Die Debattenrundschau

Der Mut Einzelner

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2017. Die SZ analysiert die vor Pathos nicht zurückscheuende Instrumentalisierung der Geschichte durch Emmanuel Macron. Der Guardian begrüßt, dass Macron die Kolonialverbrechen als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet. In Polen demonstrieren laut politico.eu wieder die Frauen: diesmal gegen die Abschaffung der "Pille danach". Die SZ kann's immer noch nicht fassen, wie sich ARD und ZDF um Abermillionen Euro betrügen lassen konnten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2017 finden Sie hier

Europa

Joseph Hanimann meditiert in der SZ über die von außen zum Teil recht befremdliche Mobilisierung der Geschichte durch Emmanuel Macron, der trotz aller Modernisierungsdiskurse keine Scheu hat, an die pathetischsten Inszenierungen eines André Malraux oder François Mitterrand anzuknüpfen: "Ein frühes Zeichen dafür setzte er vor genau einem Jahr als - damals noch potenzieller - Kandidat am 8. Mai zur Feier des Kriegsendes 1945 in Orléans. Johanna, die von dieser Stadt aus einst gegen die englischen Besatzer auszog, sei die geballte Kraft eines gemeinsamen Schicksals, die das festgefahrene Machtsystem gespalten habe, sagte er dort. Er glaube jedoch nicht an historische Schicksalsfiguren, sondern nur an die 'Energie des Volks' und den Mut Einzelner, die in schweren Momenten zusammenfänden wie bei de Gaulle nach der französischen Niederlage 1940."

Doron Rabinovici wendet sich im Logbuch bei Suhrkamp gegen all jene, die sich in Frankreich gegen die Wahl des "kleineren Übels" aussprachen oder gar von der Wahl zwischen "Pest und Cholera" sprachen: "Wer so redet, tut so, als wäre die Demokratie nicht prinzipiell immer schon das kleinere Übel gewesen. Jede Stichwahl kann nicht mehr sein als die Auswahl eines der beiden vorgegebenen Kandidaten. Wer höhere Auserwähltheit sucht, will noch an Gottesgnadentum, an Vorsehung oder Personenkult glauben."

Markus Becker kommentiert bei Spiegel online die unglaublich öden Reaktionen deutscher Politiker auf Emmanuel Macron und seinen europapolitischen Elan: "Sicher, vor der Wahl im September wird die Bundesregierung keine EU-Großreform mehr anstoßen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht wenigstens positive Signale aussenden könnte. Denn Macron hat Le Pen zwar klar besiegt, seine innenpolitische Position aber ist wackelig: Er hat keinen Parteiapparat im Rücken, während die anderen Parteien überlegen, ob sie Macron unterstützen oder bekämpfen sollen. Viel wird davon abhängen, ob Macron schnell außenpolitische Erfolge vorweisen kann - und vor allem davon, ob es ihm gelingt, Berlin zu Kompromissen zu bewegen."

Aus linker Sicht lässt sich einiges gegen Macron sagen, aber seine Verurteilung der französischen Kolonialverbrechen ist vorbildlich, meint der Politologe David Wearing im Guardian. Britische Politiker könnten sich daran ein Beispiel nehmen: "The chauvinistic nature of French patriotism, and the pervasiveness of Islamophobia in particular, cannot be fully explained without reference to the resentment caused by defeat in the Algerian war of independence, and by the mythology of French colonialism more broadly. When Macron accurately described French rule in Algeria as 'barbaric' and 'a crime against humanity', he was directly challenging a nationalistic narrative that has long poisoned French politics and nourished the Front National. It is an admission of which British politicians should take heed."

In Polen demonstrieren wieder Frauen, diesmal weil die "Pille danach" verboten werden soll, schreibt Wojciech Kość in politico.eu, der mit der Aktivistin Krystyna Kacpura gesprochen hat. Auch beim Thema Abtreibung ist das letzte Wort noch nciht gesprochen: "Laut Kacpura könen die Regeln für Abtreibung sich selbst ohne gesetzliche Änderungen verschärfen, wenn Ärzte von Krankenhäusern aufgefordert werden, die 'Gewissensklausel' in Anspruch zu nehmen - das Recht, Behandlung auf Grund von moralischen oder religiösen Bedenken zu verweigern. 'Es ist ein Weg, Abtreibung zu verbieten, ohne die aktuellen Gesetze zu verändern', sagt Kacpura.
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Gesellschaft

Hat er es womöglich sarkastisch gemeint? Julian Assange twitterte nach der französischen Wahl: "First Hillary, now Marine. It's 2017 and the patriarchy's grip is as strong as ever." Die Gegenfrage von Libération lautet jedenfalls: "Julian Assange est-il un troll ou un gros con?"
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Stichwörter: Assange, Julian, Trolle

Politik

Die religiöse Fanatisierung Indonesiens, das bisher als eine islamische Demokratie galt, schreitet voran. Nun ist in einem weltweit beachteten Fall der ehemalige Gouverneur von Jakarta, Tjahaja Purnama, zu zwei Jahren Haft verurteilt und gleich nach der Verhandlung ins Gefängnis gesteckt worden. Die Richter haben das vom Staatsanwalt verlangte Strafmaß noch verdoppelt. Im Interview mit Vanessa Steinmetz von Spiegel online sagt Felix Heiduk von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: "Man findet eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass religiöse Minderheiten zunehmend unter Druck geraten. Am stärksten sind davon vermeintliche islamische 'Häretiker' wie Ahmadiyah und Schiiten betroffen. Ihre Moscheen werden angegriffen, Ahmadiyah wurden ermordet. Gleichzeitig haben Anschläge auf buddhistische Tempel und auf christliche Kirchen zugenommen."

Emma Green zitiert im Atlantic eine neue Studie, wonach Trumps Wählerschaft nicht von ökonomischen, sondern von kulturellen Bedenken getrieben war. Wer um seinen ökonomischen Status fürchtete, habe demnach für Hillary Clinton gestimmt. Die Studie "legt nahe, dass Trumps mächtigste Botschaft, zumindest bei einigen Amerikanern, in der Verteidigung der angeblichen Kultur des Landes lag. Da diese Botschaft die Wähler so sehr im Innersten ansprach, werden Trumps Politik, Reden und seine mögliche Wiederwahl davon abhängen, wie stark er diese Versprechen in ihrer Wahrnehmung einhält."
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Internet

Google will seinen Chrome-Browser demnächst mit einem eigenen Werbeblocker ausstatten. Gute Sache das, findet  Torsten Kleinz in der SZ. Vielleicht sorgt das endlich für Internet-Werbung, die von den Nutzern akzeptiert wird. Meistens ist sie extrem nervtötend: "Adblock Plus mag die Werbeindustrie herausgefordert haben, was lange überfällig war. Doch statt den Werbemarkt zu begradigen, verschärfte die massenhafte Verbreitung der Werbefilter die Fehlentwicklungen noch. Zu dem ohnehin wild wuchernden Adtech-Markt gesellten sich Dutzende neuer Anbieter, die sich insbesondere dem Kampf gegen Adblocker verschrieben haben. ... Folge des Wildwuchses: Niemand weiß mehr, wo und wann welche Werbung warum erscheint. So beklagte sich der Guardian, dass auf seiner Website neben einer Recherche zu Todesopfern durch Waffengewalt immer wieder Werbung für die Waffenbesitzerlobby NRA erschien."
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Stichwörter: Werbung, Adblocker, Google, Nra

Ideen

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, fragt Uwe Justus Wenzel halb amüsiert in der NZZ. Postindustriell? Risikogesellschaft? Multioptionsgesellschaft? Kommunikationsgesellschaft? Wissensgesellschaft? "Der Beifahrer des unvermeidlich in die Zukunftsgesellschaft rasenden und selbstredend selbstfahrenden Automobils der zeitgemäss sein wollenden Zeitdiagnose wird da leicht von Schwindel befallen; es ist eine Art Etikettenschwindel. Im Rückspiegel sieht er - mit weit aufgerissenen Augen - hin und wieder zurückgebliebene Soundso-Gesellschaften auftauchen; manche winken."
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Geschichte

Helden hat Österreich nicht so recht, aber es hat immerhin Maria Theresia, schreibt der Autor Dorion Rabinovici in einer kleinen Hommage in der NZZ. "Viele der Gesetze und Institutionen, die heute noch oft das Beste in manchen Nachfolgerepubliken der Donaumonarchie darstellen, gehen auf Maria Theresia zurück. Sie schuf den - wie Claudio Magris meinte - theresianischen Menschen, der geprägt ist vom Vertrauen in Bürokratie und Verwaltung. Sie beförderte eine Mentalität, die den Staat vor Willkür und Korruption beschützte. Doch zugleich bildete sich dadurch die Grundlage für den kakanischen Untertanengeist voller Melancholie und Ironie, der Skepsis gegenüber Ideologien hegt, aber auch nicht frei ist von Bigotterie und Ressentiments gegenüber Außenseitern. Dieses Denken prägte seit je Österreich, wo die Reform zuweilen von oben kam, doch kaum je von unten."
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Medien

Es ist erstaunlich, wie wenig Resonanz dieses Thema in der Öffentlichkeit bisher hat: ARD und ZDF betreiben ein Technikinstitut, das um Abermillionen von Euro betrogen worden sein soll. Klaus Ott fragt in der SZ unverzagt weiter: "Die Öffentlich-Rechtlichen betreiben ein Technikinstitut, das enorme Summen aus Patentrechten der Musiktechnologie MP3 abwerfen müsste. Stattdessen brauchte das IRT über Jahre viel Gebührengeld. Niemand schöpfte Verdacht. Wie kann das sein?"

Der Streit ums deutsche Leistungsschutzrecht für Presseverleger landet jetzt nach einer Entscheidung des Berliner Landgerichts vor dem Europäischen Gerichtshof, berichtet unter anderem Karoline Meta Beisel bei sueddeutsche.de: "Das Berliner Landgericht möchte klären lassen, ob das Leistungsschutzrecht überhaupt anwendbar ist: Denn einer EU-Richtlinie zufolge müssen die Mitgliedstaaten bestimmte Gesetze, die auf 'Dienstleistungen der Informationsgesellschaft' zielen, vor dem Inkrafttreten in Brüssel vorlegen. Das hatte die schwarz-gelbe Koalition, die das Gesetz 2013 auf den Weg gebracht hatte, nicht getan."

Jens Twiehaus meldet zugleich in turi2, dass Google die Unabhängigkeit der deutschen Presse, außer von Google, weiterhin in Form eines lauwarmen Geldregens fördert: "Zwei bis vier weitere Bewerbungsrunden folgen in der Digital News Initiative, sagt Manager Gerrit Rabenstein. 50 Millionen aus dem 150-Millionen-Euro-Fonds sind vergeben. Beim Bewerbungen sortieren hilft künftig auch Wirtschaftswoche-Herausgeberin Miriam Meckel als Mitglied des Beirates."
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