9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas so Labiles wie weibliche "Capricen"

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2020. Warum schweigen muslimische Staaten, die einst Salman Rushdie jagten und gegen dänische Karikaturisten hetzten, über die grausame Behandlung der Uiguren in China, fragt Nick Cohen im Observer. China meint es ernst mit "Ein Land, zwei Systeme", meint Mark Siemons in der FAS mit Blick auf Hongkong, sehr ernst. Die liberale Mitte braucht intellektuelle Bastionen, schreibt Yascha Mounk in seiner neu gegründeten Community Persuasion.  Und in der FR meditiert Arno Widmann über Evolution und Schönheit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2020 finden Sie hier

Ideen

Die Linke und die Rechte haben in den USA mächtige Bastionen in Thinktanks und Universitäten, nicht so eine linksliberale Mitte, konstatiert der Politologe Yascha Mounk im Gründungsmanifest seiner neuen Community Persuasion. Positionen der Mitte können an Unis kaum mehr verfochten werden, schreibt er - und zieht daraus die Konsequenz: "Statt unseren Kontrollverlust über das Establishment zu beklagen, sollten wir dem Beispiel anderer Bewegungen folgen, die erfolgreich ihre eigenen Institutionen gegen das Establishment aufgebaut haben. Das ist das Ziel, das ich im Sinn hatte, als ich mit Persuasion begann." In einem zweiten Artikel erklärt Mounk, wie Persuasion funktionieren soll, als Medium und als Community - für zahlende Mitglieder.
Archiv: Ideen

Politik

Warum eigentlich schweigen die muslimischen Staaten, die einen Salman Rushdie jagten, die gegen dänische Karikaturisten und Charlie Hebdo hetzten, gegen die grausame Behandlung der Uiguren in China, fragt Nick Cohen im Observer: "Im Juli 2019 halfen Pakistan, Saudi-Arabien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien und andere mehrheitlich muslimische Staaten, die sich als Verteidiger des Glaubens ausgeben, eine westliche Bewegung bei den Vereinten Nationen zu blockieren, in der China aufgefordert wurde, 'unabhängige internationale Beobachter' in die Region Xinjiang zuzulassen. Die Heuchelei ist fast schon komisch, wenn man seinen Humor schwarz nimmt. Iran, Ägypten, Syrien und Dutzende anderer Länder, die einen magisch-realistischen Roman nicht tolerieren konnten, können mit der Massensterilisierung muslimischer Frauen leben. Sie werden den Konzentrationslagern mit einem hinterhältigen Augenzwinkern zustimmen, aber bei Karikaturen in einer dänischen Zeitung die Grenze ziehen. ... Die chinesische Weltordnung passt gut zur Freimaurerei öffentlichkeitsscheuer Sadisten. Sie sagen nichts dazu, was wir unseren Untertanen antun, und wir werden nichts dazu sagen, was sie ihren Untertanen antun."

Die Chinesen meinen das mit "Ein Land, zwei Systeme" in Bezug auf Hongkong durchaus noch so, nur betrachten sie Hongkong nicht mehr als ein Einfallstor westlicher Einflüsse in China, sondern umgekehrt als Vehikel für die eigene Ausstrahlung auf den Westen, schreibt Mark Siemons in der FAS. Er bezieht sich auf den stark von Carl Schmitt beeinflussten Verfassungsrechtler Jiang Shigong, der die neue Doktrin formulierte: "Kaum verhüllt wird da die Erwartung eines globalen chinesischen Imperiums ausgedrückt, das von Hongkong seinen Ausgang nehmen werde. Jiang hält die Stadt daher für ein 'Zentralthema bei der Wiedergeburt der chinesischen Kultur', dem Leitmotiv der Ära Xi Jinping. Dass dies zugleich auch die Ablösung und Neutralisierung des bisherigen Weltimperiums bedeutet, deutet Jiang in einem Aufsatz vom August vergangenen Jahres an: 'Wenn man mit Hongkong richtig umgeht, wenn man mit dem Handel, mit der Bürgergesellschaft und der Kultur richtig umgeht, dann ist Hongkong der Dreh- und Angelpunkt, von dem her man die ganze westliche Welt bewegen kann.' Es ließe sich auch übersetzen mit: aushebeln kann." Auch der ehemalige China-Korrespondent der taz, Felix Lee, sieht das neue Sicherheitsgesetz als "Schlag ins Gesicht der Weltgemeinschaft" und kritisiert besonders die deutsche Passivität gegenüber China.

Putins aggressive Geschichtslügen sind "Bestandteil seiner hybriden Kriegsführung gegen die westlichen liberalen Demokratien", schreibt Richard Herzinger bei cicero.de. "Um sie zu unterminieren, glorifiziert das Putin-Regime Russland als wahren Retter der Menschheit vor der NS-Barbarei und instrumentalisiert die Erinnerung an den opferreichen Kampf der Völker der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zur Legitimierung seiner aktuellen neoimperialen Gewaltpolitik."
Archiv: Politik

Europa

Alle freuen sich über die Erfolge der Ecologistes, die bei den französischen Kommunalwahlen eine Menge Städte erobern konnten. Alle, außer die Kulturwelt, schreibt Jürg Altwegg in der FAZ, denn der Kulturbegriff der französischen Grünen ist dürftig, wie Altwegg mit Blick auf den Bürgermeister von Grenoble, Eric Piolle, zeigt, der dort schon seit 2014 regiert: "Nach seinem Amtsantritt hatte Piolle den Aushang von Plakaten verboten und Grenoble zur ersten werbefreien Stadt Europas gemacht. Den von Marc Minkowski geleiteten 'Musiciens du Louvre' strich er die städtischen Subventionen, den Beitrag für die renommierte 'Maison de la Culture' kürzte er. Ein Konzertsaal und zwei Bibliotheken wurden geschlossen. Dafür begründete Piolle ein Street-Art-Festival und eine Kirmes."

Schweden ist bekanntlich mit der Coronakrise anders umgegangen als die anderen europäischen Staaten: Beschränkungen - die Restaurants und Geschäfte, Kindergärten und Schulen (mit Ausnahme der Oberstufe) blieben geöffnet -, sondern Verhaltensempfehlungen. Man verließ sich auf die Vernunft der Bürger. Doch jetzt gibt es weit mehr als 5000 Tote, vor allem in den Altersheimen. In der SZ wittert Thomas Steinfeld "nationalen Eigensinn". Und so richtig hat das mit den Empfehlungen auch nicht geklappt, meint Richard Swartz in der NZZ: "Denn nicht einmal die ausgewachsene Krise einer globale Pandemie ließ die Schweden den Ernst der Lage erkennen - weil sie nicht wissen, was eine Krise ist. Wie sollte eine Gesellschaft den richtigen Umgang mit etwas finden, wofür ihr die historische Erfahrung fehlt? ... Die Wahrheit ist, dass sich in unserer gesellschaftlichen DNA fast keine der Eigenschaften finden, die in einer Krise notwendig sind. Wir müssen damit vielmehr tastend und im Do-it-yourself-Verfahren fertigwerden; Schweden ist schließlich die Heimat von Ikea. Üblicherweise (sofern nicht eine Schraube fehlt) funktioniert das. Wir wissen aber auch, dass es unendlich viel Zeit kosten kann."

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat eine bereits in Aussicht gestellte Studie zu Rassismus in der Polizei wieder abgesagt und sorgt damit für Streit, berichtet Christian Teevs in Spiegel online: Empfohlen worden war die Studie von der "Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI). Das SPD-geführte Justizministerium teilte Mitte Juni mit, eine solche Untersuchung sei 'ein wichtiger Schritt, um fundierte Erkenntnisse über das Phänomen zu erlangen und darauf aufbauend über mögliche Gegenmaßnahmen zu diskutieren'. Man habe sich dafür eingesetzt, eine solche Studie zu initiieren und werde sich in Planung und Durchführung einbringen."
Archiv: Europa

Wissenschaft

Das Schöne, ja Dysfunktionale, spielt eine entscheidende Rolle in der Evolution - in der Tierwelt und auch bei den Menschen, schließt Arno Widmann in der FR aus der Lektüre von Richard Owen Prums Buch "The Evolution of Beauty - How Darwin's Forgotten Theory of Mate Choice Shapes the Animal World - and Us": "Das war übrigens einer der Einwände gegen Darwins Theorie von der 'geschlechtlichen Zuchtwahl'. Unmöglich könne sich die Evolution auf etwas so Labiles wie weibliche 'Capricen' stützen. Prum hält dagegen: dass Frauen die freie Wahl haben, hat erst den ganzen Reichtum, die Vielfalt der lebendigen Welt hervorgebracht."
Archiv: Wissenschaft

Gesellschaft

Die Berliner Verkehrsbetriebe benennen die U-Bahnstion Mohrenstraße um - auch die Straße selbst dürfte nicht mehr lange so heißen. Ein Akt der Einfalt, meint Welt-Autor Thomas Schmid, denn der heute nicht mehr gebrauchte Begriff des Mohren sollte nie herabsetzen: "Seit der Renaissance tauchten sie auch nördlich der Alpen in der Malerei auf. Einer der Heiligen drei Könige war ein Mohr, was zweifellos nicht abwertend gemeint war. Es gab die Schwarze Madonna und den hl. Mauritius, der als Schwarzer dargestellt wurde. Das waren sicher Ausnahmen, aber hier bezeugte das Christentum seinen universalistischen Strang: Vor Gott sind auch die, die anders sind, uns gleich." (Die taz titelt zum Thema: "Aus M*straße wird Glinkastraße".)

Eine wenig beachtete Krise der amerikanischen Mittelschicht konstatieren laut Benjamin Bidder in Spiegel online die Ökonomen Anne Case und Angus Deaton in ihrem Buch "Deaths of Despair". In Amerika sinkt im Gegensatz zu den anderen westlichen Ländern inzwischen die Lebenserwartung wegen vieler vorzeitiger Tode im Alter von etwa 50 Jahren: "Die höhere Mortalität lässt sich fast vollständig zurückführen auf drei Ursachen: die stark wachsende Zahl der Suizide, Alkoholismus und seine Folgeerkrankungen sowie Drogen-Überdosen. Am stärksten davon betroffen ist eine Bevölkerungsgruppe, Case und Deaton nennen sie white working class: weiße Beschäftigte ohne akademischen Abschluss."

Juden in Deutschland sind von Antisemitismus umstellt, und das auch seit 1945, sagt Ronen Steinke, Autor des Buchs "Terror gegen Juden" in der FR im Gespräch mit Hanning Voigts. Dass es rechtsextremen Judenhass gibt, liegt auf der Hand. Aber "der erste versuchte und zum Glück gescheiterte Bombenanschlag auf eine Synagoge nach 1945 wurde 1969 von der linken Gruppe 'Tupamaros Westberlin' verübt. Und die standen nicht irgendwo am Rande, sondern im Rampenlicht der Spontiszene. Der geistige Drahtzieher des Attentats, Dieter Kunzelmann aus der 'Kommune 1', wurde noch in den Achtzigern von den Grünen hofiert und konnte auf ihrer Liste ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. An dieser Gewalt waren damals nur wenige Menschen beteiligt. Aber wie man das hinterher in der linken Szene bagatellisiert hat, das war die Schuld von sehr vielen."

Angesichts des Aufstands um J.K. Rowlings Auffassung, Geschlecht sei auch biologisch bestimmt (gerade wurde der Kinderbuchautorin Gillian Phillip von ihrem Verlag gekündigt, weil sie Rowling unterstützt hatte), warnt Suzanne Moore im Guardian vor einer immer radikaler werdenen Cancel Culture, die zu einem "weiteren Machtinstrument der Frauenfeindlichkeit geworden ist. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie immer mehr Frauen im Grunde genommen auf den Scheiterhaufen geworfen werden, während zuckende Mobs die Fackeln bereit halten." Nach J.K. Rowling habe jetzt Damian Barr dafür sorgt, dass "Emma Nicholson, die eine Ehrenposition im Booker Prize Committee innehatte, wegen ihrer Ansichten über die gleichgeschlechtliche Ehe und einiger schrecklicher Tweets über Transsexuelle abgesetzt wird. ... Dies wird zu einem weiteren Streit, bei dem jemanden ausgelöscht werden soll, mit dem man nicht einverstanden ist. Dies ist kein Dialog. Es ist ein prahlerischer Monolog der Reinheit, der unendlich fortgeführt wird. Es ist möglich, dass Nicholson eine Homophobe ist, die auch etwas Gutes in der Welt getan hat: Sie rettete rumänische Waisenkinder; 1991 gründete sie als Reaktion auf Saddam Husseins systematische Verfolgung der Marsch-Araber eine Wohltätigkeitsorganisation namens AMAR; sie setzte sich viele Jahre lang für die Jesiden ein, die nach wie vor schrecklich leiden. Kann ein Mensch Gutes tun und Falsches denken? Wie können wir uns weiterentwickeln, wenn dies nicht anerkannt werden kann?"

Außerdem: Die antirassistische Soziologin Vanessa E. Thompson plädiert im Gespräch mit Simon Sales Prado von der taz für die Abschaffung der Polizei und benennt diese Idee allen Ernstes als "Abolitionismus". Ebenfalls in der taz meditiert der Schriftsteller Michael Wildenhain nochmal über die Stuttgarter Krawalle. Im Gespräch mit Verena Lueken von der FAZ erklärt der Philosoph Frank Wilderson, was er unter "Anti-Blackness" und "Afropessimismus" versteht.

Schleswig-Holstein entwickelt eine beeindruckende Diversity, jedenfalls im Filmwesen, meldet der Deutschlandfunk. Als erstes Bundesland entwickle es "eine verpflichtende Checkliste rund um das Thema Diversität. Alle Filmemacher müssen den Fragebogen für die Beantragung von Fördermitteln ausfüllen." So sieht der Fragebogen aus (und hier weitere Checklists):


Archiv: Gesellschaft