9punkt - Die Debattenrundschau

Das Trauma in großer Einsamkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2021. Durch "Nord Steam 2" hat die Ukraine für den Westen an Wert verloren, fürchtet Andrej Kurkow in der FAZ - Krieg wird dadurch wahrscheinlicher. Die Publizistin Cinzia Sciuto wehrt sich ebenfalls in der FAZ gegen die Formulierung, dass Kindern bei der Geburt ein Geschlecht "zugewiesen" wird. Der in den USA lehrende Politologe Minxin Pei hält es in der NZZ für unwahrscheinlich, dass China die USA technologisch überholt - zu rigide ist die ideologische Kontrolle. Jürgen Zimmerer sieht das Humboldt Forum in der Berliner Zeitung als Denkmal eines "Diskurses eurozentrischer Beharrung". Alan Rusbridger verteidigt in der Daily Mail die Pressefreiheit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.07.2021 finden Sie hier

Europa

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow fürchtet in der FAZ einen verschärften Krieg Russlands gegen die Ukraine, vor dem der Westen nun die Augen verschließen kann, weil die Ukraine keine strategische Bedeutung mehr für den Westen hat. Die hat es durch Joe Bidens Ja für Nord Stream 2 und den Verlust der eigenen Pipeline als Druckmittel verloren, so Kurkow. Militärexperten meinten, "allein das Vorhandensein der Transitgaspipeline von Russland nach Europa über ukrainisches Territorium habe den Kreml von aktiveren militärischen Handlungen abgehalten, einfacher gesagt, von einem militärischen Angriff auf Kiew. Die Transitröhre spielte die Rolle der Sicherung an einer Granate. Nun ist diese Sicherung entfernt worden, und die Granate kann jeden Moment explodieren."

Die EU steht durch den Streit mit Polen und Ungarn vor einem entscheidenden "Kulturkrieg", findet Nikolas Busse im Leitartikel der FAZ. Leider hätten sie die Länder Ost- und Westeuropa in den letzten Jahren eher auseinanderentwickelt: "Klimaschutz, Einwanderung, Frauenrechte, Diversität - all diese Fragen, die im Westen die politische Agenda immer stärker bestimmen, spielen in Osteuropa nur für Minderheiten eine Rolle. Es ist ja nicht so, dass die PiS oder der Fidesz sich in Warschau oder Budapest an die Macht geputscht hätten. Sie wurden sogar dafür gewählt, dass sie versprachen, diese Veränderungen von ihren Ländern fernzuhalten."

Die Parteistiftungen bekommen bekanntlich Hunderte von Millionen Euro pro Legislaturperiode (zuletzt mehr als eine Halbe Milliarde Euro). Gesetzlich geregelt ist das nicht, schreibt Markus Wehner in der FAZ, der sich mit dem Projekt befasst, die geplante Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD von diesem Geldregen auszuschließen (unsere Resümees). Erst soll ein Gesetz her, mit dem sich SPD, CDU, FDP und Grüne ihre Einnahmen für ihre eigenen "parteifernen" Stiftungen absichern, dort sollen dann Kriterien formuliert werden, die die AfD ausschlössen. Der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck hat hier ein Papier mit Vorschlägen vorgelegt. "Die Förderung der Stiftungen sollte nach Becks 58 Seiten umfassendem Papier wie folgt aussehen: Das Bundesverwaltungsamt führt ein Register der politischen Stiftungen. Tritt eine Partei, die eine politische Stiftung anerkannt hat, nicht aktiv für die demokratisch-freiheitliche Grundordnung ein oder lehnt sie sogar ab, muss das Bundesverwaltungsamt den Eintrag der Stiftung in das Register verweigern. Um zu einer Einschätzung über den Charakter der Partei zu kommen, soll es sowohl Berichte des Verfassungsschutzes als auch politikwissenschaftliche Gutachten einbeziehen können."
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Gesellschaft

In der Welt stellt Hannes Stein die amerikanische Autorin Abigail Shrier vor, die mit ihrem Buch "Irreversible Damage" davor warnt, Mädchen, die sich in der Pubertät eine Geschlechtsumwandlung wünschen, automatisch als Transsexuelle einzustufen. Wie zu erwarten, hat sie damit einen enormen Shitstorm ausgelöst, so Stein. "In Großbritannien stieg die Zahl der weiblichen Teenager mit Geschlechtsdysphorie innerhalb eines Jahrzehnts um 4.400 Prozent, in den Vereinigten Staaten immerhin um 1.000 Prozent. Was ist da los? Abigail Shrier hat eine Vermutung: Für Mädchen, so schreibt sie, sei die Pubertät häufig ein traumatisches Erlebnis. Früher hatten sie immerhin Cliquen, in denen sie das Trauma (keine Brüste, zu große Brüste; nicht schön genug; Angst vor Sex, Lust auf Sex, Zahnspangen, Pickel) gemeinsam durchstehen konnten. Heutige Teenager erleiden das Trauma in großer Einsamkeit. Und da kommt ihnen per Smartphone das Internet zu Hilfe".
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Ideen

Die Publizistin Cinzia Sciuto wehrt sich in der FAZ (Gegenwartsseite) gegen die Formulierung, dass Kindern bei der Geburt ein Geschlecht "zugewiesen" wird. Diese Formulierung findet sich etwa in Texten des Bundesfamilienministeriums im Kontext mit dem Thema Transsexualität. "Wenn man sagt, 'das Frau-Sein kann nicht darauf reduziert werden, dass Frauen eine Gebärmutter haben', ist das so wahr wie die Aussage, dass das Menschsein nicht darauf reduziert werden kann, dass Menschen zwei Beine haben. Dies sind Aussagen auf einer völlig anderen semantischen Ebene. Deshalb sind sie alle wahr. Die Behauptung dagegen, dass das biologische Geschlecht selbst eine soziale Konstruktion ist und nichts Objektives an sich hat, wie es der Ausdruck 'zugewiesen' suggeriert, hat keine wissenschaftliche Grundlage." Daraus zieht Sciuto auch Konsequenzen in der Frage der Bezeichnung und Selbstdefinition von Geschlechteridentitäten: "Natürlich hat jeder und jede die Freiheit, sich so zu definieren, wie er oder sie es für richtig hält. Für mich lehne ich die Definition von 'cisgender'-Frau ab, und ich bitte alle, mich nicht so zu bezeichnen. Ich bin eine Frau, weil ich ein weibliches Exemplar der Gattung Homo sapiens bin."

Die taz setzt einen kleinen Schwerpunkt zu "Diversity", die sie als Kampf um eine "offene Gesellschaft" begreift, wie Andreas Rüttenauer im Editorial schreibt, "im Zeichen des Regenbogens - versteht sich". Unter anderem verteidigt Patricia Hecht das Gendern, das mehr sei als eine Sprachmarotte: "Gendern greift Identität an. In einer Sprache des generischen Maskulinums scheinen sich die Geschlechter übersichtlich und in traditionellen Rollen wohlgeordnet zu befinden. Dass dies schon lange nicht mehr der Fall ist, dass das binäre Geschlechtersystem und sogenannte traditionelle Rollen aufgebrochen sind, dazu trägt Sprache bei. Dass es dabei 'nur' um Sprache geht und wir insofern doch Besseres zu tun hätten, was gern als Argument gegen das Gendern vorgebracht wird, stimmt nicht: Sprache ist ein Handlungsinstrument. Sprache prägt Gesellschaft."

In der Welt sehen Andreas Rödder und Kristina Schröder das ähnlich und werfen genau deshalb "einer selbstgerechten Elite akademischer Mittelschichten" einen "rücksichtslosen und ziemlich verlogenen Kulturkampf" vor: "Wer so mit Fakten zum Klima umginge, wie es die Genderstern-Aktivisten mit der Sprache tun, würde sofort als Wissenschaftsleugner diffamiert. Dasselbe gilt für den Umgang mit der Biologie. Der Genderstern will nicht einfach Frauen und andere sichtbar machen, wie es oftmals heißt. Dahinter steht vielmehr das Konzept der fluiden Geschlechtlichkeit, das die naturwissenschaftlich unstrittige Unterscheidung von Männern und Frauen überwinden will."

Laut Claudius Seidl in der FAS stellt Per Leo in seinem Buch "Tränen ohne Trauer", das sich nun auch noch mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung befasst, die Frage "Was ist deutsch?" Seidl antwortet mit Leo: "Zum Volk der Täter gehörig: Das wäre eine der schärfsten Definitionen - wenn nicht fast jeder fünfte Deutsche eine Person mit Migrationshintergrund wäre, ein Mensch also, dem man von der Schuld der deutschen Urgroßväter nichts zu erzählen braucht, weil er womöglich mit ganz anderen Geschichten fertig werden muss. Per Leo erwähnt das, aber dass es ein nahezu unlösbares Problem fürs deutsche Selbstverständnis sein könnte, mag er nicht glauben."

Die Theologen Gabriele Scherle und Peter Scherle antworten in der FAZ auf einen Artikel Dan Diners, der wiederum auf A. Dirk Moses' Spott über den "Katechismus der Deutschen" geantwortet hatte (unser Resümee). Sie stimmen Diner, der im Bezug auf den Holocaust von "negativer Erwählung" sprach, zu: Auch im Holocaust bleibe "die theologische Kontur sichtbar, dass es um das Gottesvolk Israel und damit um jene souveräne Macht Gottes geht, die alle menschliche Macht begrenzt - am deutlichsten durch eine in nichts Innerweltlichem begründete Erwählung. Deshalb ist der Antisemitismus nicht einfach eine weitere Gestalt des Rassismus oder einer anderen Form der Entmenschlichung. Der Wille zur Vernichtung der Juden (im tausendjährigen Reich) ist in geschichtlichen Kategorien nicht völlig verrechenbar."

Außerdem: In der taz erklärt Malaika Rivuzumwami, was "ganzheitliche Dekolonisierung" ist und schlägt ein "Critical-Wellness"-Programm vor, das klärt, "was Rassismus körperlich und psychisch mit einer Person macht".
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Überwachung

Die Recherchen zur "Pegasus"-Spyware gehen weiter. Ein Konsortium von Medien und Amnesty International haben nachgewiesen, dass mit dieser Software in vielen Ländern Regimegegner, Journalisten und Politiker ausgespäht werden. Bei Zeit online wird heute WhatsApp-Chef Will Cathcart zitiert, der solche Angriffe schon vor zwei Jahren beobachtet hatte: "Eine solche Attacke sei nicht nur ein Angriff auf Journalisten oder Menschenrechtler, sondern auf alle. 'Wenn ein Telefon angreifbar ist, dann sind alle angreifbar.' Cathcart rief die IT-Branche auf, alles dafür zu tun, ihre eigene Software sicherer zu machen und Spähprogrammen ein Ende zu bereiten."
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Politik

Wird China die USA in Sachen Wissenschaft und Technik bald überholt haben? In der NZZ hält Minxin Pei, in den USA lehrender Professor für Governance, das für unwahrscheinlich. Zu groß sei das Kontrollbedürfnis der KP: "Der jüngste Beweis für Chinas Hang zur Selbstbeschädigung ist die plötzliche und willkürliche regulatorische Maßnahme der Cyberspace Administration of China (CAC) gegen Didi Chuxing, ein Unternehmen, das Fahrdienste vermittelt und bei seinem Gang an die New Yorker Börse vor kurzem 4,4 Milliarden US-Dollar eingenommen hat. Am 2. Juli, nur zwei Tage nach Didis erfolgreichem Emissionsangebot, das die Firma mit über 70 Milliarden US-Dollar bewertete, kündigte die CAC, eine Abteilung der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas, die sich als staatliche Agentur tarnt, eine Überprüfung der Datensicherheit des Unternehmens an. Zwei Tage später ordnete die CAC die Entfernung Didis aus allen App-Stores an und vernichtete fast ein Viertel des Marktwerts der Firma."
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Kulturpolitik

Das Humboldt Forum und Monika Grütters behaupten, man habe sich postkoloniale Kritik zu eigen gemacht. Aber der postkoloniale Historiker Jürgen Zimmerer will das in einem Essay für die Berliner Zeitung (die jetzt auch die Debatte um A. Dirk Moses aufgreift) nicht gelten lassen: "In Wahrheit waren es Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen, die über Jahre nicht lockergelassen und auf den kolonialen Kern des Humboldt-Forums hingewiesen haben. Die die Politik zum Jagen tragen mussten und als Dank bei der Eröffnung vor der Tür blieben, wo sie ihren Protest fortsetzten. So gesehen ist die Geschichte des Humboldt-Forums auch eine Geschichte der kolonialen Amnesie und Arroganz sowie eines Diskurses eurozentrischer Beharrung angesichts der Kritik von außen, von unten und insbesondere auch von Menschen, die nicht weiß, mittelalt und männlich sind."

Andres Wysling unterhält sich für die NZZ mit Gaia Delpino, die die Dauerausstellung des neuen Museo Italo Africano "Ilaria Alpi" plant. Das einstige Kolonialmuseum von Rom war in den Siebzigern geschlossen worden, und soll jetzt mit neuer Konzeption wieder auferstehen. "'Uns geht es darum, das einstige Kolonialmuseum zu entkolonialisieren', sagt Gaia Delpino. Zusammen mit ihren Kollegen Rosa Anna Di Lello und Claudio Mancuso will sie die Propaganda der alten Ausstellung dekonstruieren, um die Erzählung des Kolonialismus anders zu rekonstruieren. 'Es sind die gleichen Gegenstände. Aber es kommt darauf an, wie man sie präsentiert. Je nachdem verändert sich die Deutung.' Dabei geht es den Ausstellungsmachern eher darum, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben. Die Leute sollen sich selbst ihre Gedanken machen."
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Medien

Es ist schon auffällig, wenn Alan Rusbridger, der charistmatische Chefredakteur des eins so renommierten Guardian einen großen Meinungsartikel in der Daily Mail schreibt, neben der Sun der schärfste denkbare publizistische Gegenpol. Aber es geht um ein neues Pressegesetz der Regierung Johnson, das  alle Medien gefährden würde. In dem Gesetz soll "serious unauthorised disclosure", also unautorisierte Offenlegung von Informationen, die den Staat angeblich gefährde, unter Strafe gestellt werden. Das wäre das Ende der Snowdens!: "Halten Sie bei den Worten 'unautorisierte Offenlegung' inne. Das klingt nach etwas Schlechtem, aber viele der wertvollsten Informationen, die in der Presse oder den Medien erscheinen, sind unautorisierte Informationen, bei denen eine Quelle ein großes Risiko eingegangen ist - mit ihrem Ruf, ihrem Lebensunterhalt oder sogar ihrem Leben -, um Dinge offenzulegen, die sie offiziell nicht offenlegen sollten. Mutige Quellen sind das Lebenselixier des Journalismus und, so würde ich argumentieren, auch einer zivilisierten Demokratie."
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