9punkt - Die Debattenrundschau

Allzu sehr im eigenen Soziotop

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2021.
Aktualisiert: Die Welt attackiert Monika Grütters und das Auswärtige Amt, die dem Israelkritiker Bonaventure Ndikung das Haus der Kulturen der Welt übergaben. Angela Merkel hinterlässt den folgenden Bundesregierungen auch ein paar Probleme: Ihr Regierungsstil qua Küchenkabinett ist eines davon, schreibt Terri Langston in der Welt, die Abhängigkeit von China ist ein anderes, meint Timothy Garton Ash im Guardian. In der FAZ beteuert die scheidende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher, dass sie nicht für das in ihrer Amtszeit Gebaute verantwortlich ist. In der taz spricht Sergej Lebedew über die russische Technik der Giftmorde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.07.2021 finden Sie hier

Politik

Merkel hat die Digitalisierung in Deutschland nicht vorangetrieben, Obama das Rassismusproblem in den USA nicht gelöst - nicht die einzigen Stellen, in denen beide während ihrer Amtszeit versagten, konstatiert Terri Langston, Senior Editor des Globalist, in der Welt. Beide scheiterten an ihrer Zögerlichkeit - und "intellektuellen Arroganz", so Langston: Führung erfordert "Teamarbeit, Vertrauen in andere und Führungsstärke. Genau diese Qualitäten fehlten bei Merkel. Stattdessen war ein Küchenkabinett - die Verkörperung der Unnahbarkeit - von wenigen vertrauten Helfern die Essenz ihrer Strategie. Während ein Küchenkabinett von Loyalisten in der Politik nicht ungewöhnlich ist, kann es letztlich selbstzerstörerisch wirken. Die Fähigkeit, andere Stimmen wirklich zu hören, ist selten, führt aber letztlich zu besseren politischen Ergebnissen. Merkel hat sich weitgehend auf einen ultra-loyalen Kader von Frauen verlassen. Obama umgab sich mit einem kleinen Kader liberaler Demokraten, viele von ihnen aus Harvard, die zu seiner professoralen Coolness passten. Keine Frage: Ein Spitzenamt macht oft einsam, aber man muss sich davor hüten, allzu sehr im eigenen Soziotop zu verharren."

Timothy Garton Ash kam schon am Mittwoch in einem Artikel für den Guardian auf  eine Äußerung des VW-Chefs Herbert Diess aus dem Jahr 2019 zurück, der gegenüber einem BBC-Reporter leugnete, je von den chinesischen Repressionen gegen die Uiguren gehört zu haben (was VW dann später korrigierte):



Diese Äußerung zeige, wie stark ein Unternehmen wie VW bereits von China abhängig ist. Der Konzern könnte sein relativ kleines Werk in Xinjiang nicht mehr schließen, ohne den Giganten zu erzürnen, so TGA und benennt ein weiteres Problem, das Angela Merkel künftigen Bundesregierungen hinterlässt: "Hinter diesem führenden westlichen Unternehmen, das zu stark von China abhängig ist, steht ein führendes westliches Land, das Gefahr läuft, zu stark von China abhängig zu werden. Unter Angela Merkel ist China zum größten Handelspartner Deutschlands aufgestiegen. Ihr wahrscheinlicher Nachfolger, Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Christlich-Demokratischen Union, steht zur Zeit an der Spitze eines Bundeslandes, Nordrhein-Westfalen, das große Interessen an den Wirtschaftsbeziehungen mit der ostasiatischen Diktatur hat. Jede Woche rollen viele riesige Containerzüge in die Stadt Duisburg, die oft als westlicher Endpunkt von Pekings Seidenstraßenprojekt bezeichnet wird."

Auf Zeit Online erzählt die im Jemen geborene Studentin Altaf Merzah, vom Druck der Frauen in ihrem Heimatland "mädchenhaft" und "hellhäutig" auszusehen, um verheiratet zu werden. Etwa von Iman, die früh von der Schule ging, um verheiratet zu werden: "Je jünger eine ist, desto mehr Anträge bekommt sie. Aber leider half auch das nicht gegen die Vorurteile der Gesellschaft. Ihre dunkle Haut machte sie auf dem Heiratsmarkt schwer vermittelbar. Iman wartete lange, doch keiner klopfte an ihre Tür, um sie in ihr Traumhaus zu bringen - keiner außer geschiedenen Männern, bereits verheirateten Männern und Männern mit Behinderungen. Es ist nichts falsch daran, einen Geschiedenen oder einen Menschen mit Behinderungen zu heiraten, aber der Punkt war, dass sie wegen ihrer Hautfarbe als nicht wert befunden wurde, einen gut aussehenden Mann für sich alleine zu haben. Und es wurde erwartet, dass sie ihren niedrigen Marktwert akzeptieren würde."
Archiv: Politik

Ideen

Marko Martin erinnert in der Welt an den Philosophen und Publizisten Ludwig (Ludwig!) Marcuse, der vor fünfzig Jahren gestorben ist und in der frühen Bundesrepublik mit seiner Autobiografie "Mein zwanzigstes Jahrhundert" einen Bestseller hatte. Er hatte sich anders als sein Namensvetter von der Frankfurter Schule ferngehalten und pflegte einen menschenfreundlichen Skeptizismus, zu dem ihn auch der amerikanische Philosoph John Dewey inspiriert hatte. Martin gibt uns dieses schöne Zitat von Marcuse mit: "Du sollst lieber einem kleinen Mädchen die Tränen trocknen als für die Menschheit unterschreiben... Der angebliche Kummer um die Menschheit ist ein Symptom absoluter Gleichgültigkeit, ein Symptom der Kargheit des Interieurs." Dlf Kultur würdigt ihn heute in einer dreistündigen Sendung.
Archiv: Ideen

Internet

Nur sehr sehr schleppend kommt die Bundesregierung mit der "eVerkündung" von Gesetzen voran, also der maßgeblichen digitalen Veröffentlichung von Gesetzen, die für jeden Bürger offenstehen und durchsuchbar sind. golem.de meldet mit dpa, dass die Digitalisierung des Gesetzgebungsverfahrens nun auf die nächste Legislaturperiode verschoben wird. Linken-Abgeordneten Anke Domscheit-Berg kritisiert das: Die  Bundesregierung könne Verwaltungsdigitalisierung einfach nicht: "Erst auf ihre Nachfrage habe die Regierung bekanntgegeben, dass sich die Umsetzung weiter verspäte. Den Bürgern und Bürgerinnen einen kostenfreien und funktionalen digitalen Zugang zu neuen Gesetzen und Verordnungen bereitzustellen, 'hat offenbar keinerlei Priorität, denn schon in der letzten Wahlperiode wurde das Projekt auf die aktuelle Wahlperiode verschoben'. Nun werde erneut die Verantwortung einer neuen Regierung überlassen."

Mit dem Argument der "Hassrede" lässt sich noch jede Zensurmaßnahme gegenüber sozialen Medien rechtfertigen. Google und Facebook klagen jetzt gegen Erweiterungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG), berichtet Jana Ballweber bei Netzpolitik. Im Kampf gegen Hate Speech sollen die Plattformen jede Menge Daten von Nutzern an das Bundeskriminalamt (BKA) weiterleiten: "Beim BKA entsteht so eine große, zentrale Datensammlung. Zwar soll das BKA die Daten gar nicht selbst bearbeiten, sondern als Zentralstelle nur feststellen, welche Strafverfolgungsbehörden in welchem Bundesland zuständig sind und die Daten dorthin weiterleiten. Ist man beim BKA allerdings der Ansicht, dass es einen Grund für eine Weiterverarbeitung auch zu anderen Zwecken, beispielsweise zur 'Gefahrenabwehr' gibt, müssen die Daten nicht sofort nach Weiterleitung in die Bundesländer gelöscht werden."
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Die BDS-Resolution des Bundestags gilt vielen Kritikern als Dokument der Zensur. Dabei hat diese bloße Willensbekundung nicht mal auf die Bundesregierung in Gestalt von Monika Grütters und Auwärtigem Amt Einfluss, wie die Besetzung der Intendanz des Hauses der Kulturen der Welt mit einem prominenten Israelkritiker, dem Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, zeigt, schreibt Boris Pofalla in der Welt: "Das Haus gehört zu den 'künstlerischen Schaufenstern des Bundes' (Eigenbezeichnung) mit viel Ausstrahlung und guten Etats. So verfügt das HKW über mehr Programmmittel als alle Staatlichen Museen zu Berlin mit ihren 15 Sammlungen. Auch deshalb zählt seine Intendanz zu den begehrtesten Posten im deutschen Kulturbetrieb. 'Als international gefragter Kurator und Kulturmanager' sei Bonaventure Ndikung 'ein echter Glücksgriff für das Haus der Kulturen der Welt', kommentierte die CDU-Politikerin die Berufung, über die sie als Aufsichtsratsvorsitzende mitentschied." Ndikung ist auch Kurator des Kulturfestivals von Sonsbeek, das die Niederlande selbst aktiv zum Israelboykott aufruft, so Pofalla. Auf die Frage, ob im Haus der Kulturen der Welt vergleichbaren Boykottaufrufen zu rechnen sei, habe Ndikunk keine eindeutige Antwort gegeben.

So schön ist es am Berliner Hauptbahnhof. Das Hotel Meininger. Foto unter CC-Lizenz: Gerd Fahrenhorst.

Ulf Meyer unterhält sich in der FAZ mit der scheidenden Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher, die mit 59 freiwillig in den Ruhestand geht. Für die meisten Desaster in ihrer immerhin 14-jährigen Amtszeit kann sie nichts, beteuert sie, etwa für die zugige Gegend um den neuen Hauptbahnhof, die als "Europa-City" firmiert: "Im Jahr 2007, als ich nach Berlin kam, wurde Investoren der rote Teppich ausgerollt, man begrüßte jede Investition. Eine Senatsbaudirektorin, die Qualität einfordert, war nicht gefragt. Sie hat eher gestört. Damals wurde der soziale Wohnungsbau abgeschafft. Es gab keine städtebaulichen Verträge, geschweige denn das heutige Berliner Modell der Kooperativen Baulandentwicklung mit 30 Prozent bezahlbarem Wohnraum. Es herrschte die totale De-Regulierung. Es gab einen Sündenfall am Hauptbahnhof, das Hotel Meininger. Ich habe mich wahnsinnig darüber aufgeregt, und dann kam das große Erwachen."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Jens Uthoff unterhält sich in der taz mit dem russischen Schriftsteller Sergej Lebedew, der in seinem jüngsten Roman "Das perfekte Gift" die Geschichte der russischen Giftmorde zurückverfolgt. Und zwar bis in eine Zeit der deutsch-sowjetischen Kooperation nach dem Ersten Weltkrieg: "Es gab eine gemeinsame Militärschule in Kasan, und es gab zwischen 1928 und 1933 ein gemeinsames Labor für chemische Waffen - in Schichany. Zwei Feinde haben in einer merkwürdigen Freundschaft zusammengearbeitet. Als die Nachrichten zum Fall Skripal in Salisbury kamen, sagten sie, dass das Nowitschok vermutlich in Schichany produziert wurde."

Der Neoliberalismus ist vorbei, glaubt der Soziologe Wolfgang Streeck im großen Welt-Gespräch mit Mladen Gladic: Gesellschaften wurden jahrzehntelang dem "Diktat wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit" unterworfen, "die Leute wehren sich, weil sie die ungebremste kapitalistische Entwicklungsdynamik als Ursache immer größerer Lebensrisiken wahrnehmen" - und greifen auf die Nationalstaaten zurück, diagnostiziert Streeck: "Soziale Bewegungen sind auf eine mehr oder weniger integrierte Gesellschaft, einen Demos angewiesen, und es gibt keinen europäischen Demos. Dafür gibt es aber durchaus gegenseitige moralische Ansteckungsprozesse, die besser funktionieren als zentrale Vorschriften. (…) Autonome kleine Einheiten können besser experimentieren und andere können dann von ihnen lernen, nicht nur technisch, sondern auch moralisch. Darauf muss man setzen, statt auf die Chimäre von global governance. Solange wir zulassen, dass unsere Regierungen uns erklären, man könne die Probleme nur international lösen, müsse sie also ihnen und ihrer Diplomatie überlassen, geht alles so weiter wie bisher. Nur Demokratie kann uns retten, wenn überhaupt, nicht Technokratie, nicht Merkatokratie, und die einzige politische Einheit, die demokratisierbar ist, ist ein souveräner, besser nicht zu großer Nationalstaat."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Die taz bringt ein kleines Spezial zum Christopher Street Day (der doch aber eigentlich letzte Woche gefeiert wurde?) Jan Feddersen ist nicht zufrieden mit dem Zustand der Bewegung: "Trans Aktivismus, und das ist der Unterschied zu den CSDs mit Aids-Aufklärung und bürgerrechtlichen Forderungen nach der Ehe für alle, hat kein Angebot zu machen, außer Opfer zu sein und zu klagen, dass die Verhältnisse alle noch sehr schlimm sind. Der trans Aktivismus rund um die CSDs weiß nicht, Menschen positiv für sich einzunehmen, den Mainstream zu 'verführen', mit 'Liebe' zu locken, nicht mit Shitstorms bei Verletzung von szeneastischen Sprachcodes."
Archiv: Gesellschaft

Religion

Klaus Ungerer zitiert in einer Kolumne für hpd.de einen Tweet des evangelikalen Predigers Owen Strachan: "Es gibt keine einzige Änderung, mit der sich die Heilige Schrift verbessern ließe. Auch nur ein biblisches Komma zu ändern, würde sie drastisch entwerten. Man kann das Wort Gottes nicht verbessern. Man würde nur das Perfekte ruinieren." Und dann auch ein paar Antworten, zum Beispiel diese: "Man könnte die Stelle verbessern, in der es heißt, Insekten haben vier Füße." (@Chinchillazllla)

Dennoch: Gott existiert:
Archiv: Religion
Stichwörter: Fundamentalismus