9punkt - Die Debattenrundschau

Wo eine Dame fluchte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2021. Die taz ruft "Laschet uns beten" und leuchtet die erzkatholischen Hintergründe des CDU-Kanzlerkandidaten aus. In starke-meinungen.de erklärt Alan Posener, warum er A. Dirk Moses für einen Israelhasser hält.  In der NZZ analysiert der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse den Niedergang der großen Volksparteien. In der FAZ staunt Livia Gerster, welcher Zauber bloßen Wörtern in den neuesten Ideologien innewohnt. Das Verfassungsblog fragt, was man ab jetzt zitieren darf und zu welchem Preis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2021 finden Sie hier

Religion

Dass mit dem Abgang Angela Merkels eine fulminante Rekatholisierung der CDU eintritt, wird in den Medien kaum reflektiert. Bernd Müllender widmet sich in einem ausführlichen taz-Porträt ("Laschet uns beten") auch dem Aachener Milieu, dem Armin Laschet entstammt und das von Berlin aus  so exotisch wirkt. Er heiratete opportun, nämlich Susanne, die Tochter des Chorleiters Kurt Malangré. Malangré war später Oberbürgermeister der Stadt Aachen und die deutsche Nummer 1 im Opus Dei: "Heute stammt Armin Laschets junger Büroleiter und Einflüsterer Nathanael Liminski, 35, aus einer hochengagierten Opus-Dei-Familie; der kürzlich verstorbene Vater Jürgen schrieb für die rechtsradikale Junge Freiheit. Radikalkatholik Liminski würde im Fall der Fälle einer Kanzlerschaft wahrscheinlich Laschets Kanzleramtsminister. Für das elitäre Opus, dessen erklärtes Ziel es ist, die Zivilgesellschaft militant-katholisch zu unterwandern, wäre das ein Coup. Zu Jugendzeiten spielte Armin Laschet mit dem Gedanken, Priester zu werden. Einen sakralen Habitus hat er behalten. 'Die Existenz Gottes kann ich nicht beweisen', sagte er 2008 im log-in-Interview und maßt sich das Wissen an: 'Aber sie ist natürlich wahr.'"
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Europa

Annalena Baerbock hat vor einigen Tagen in einem Gespräch über Rassismus das Wort "Neger" ausgesprochen und sich daraufhin in einem langen Twitter-Thread dafür entschuldigt, weil schon das bloße Aussprechen des Worts den Rassismus "reproduziere". Ähnlich hatte sich schon die Berliner Grünen-Politikerin Bettina Jarasch für das Wort "Indianerhäuptling" entschuldigt. Wo liegt das Verbrechen der beiden, fragt Livia Gerster in der FAS: "Die Antwort auf diese Frage verbirgt sich hinter dem Schlüsselwort 'reproduziert'. Das soll heißen: Auch wer im Sinne des Antirassismus spricht, verbreitet Rassismus weiter, wenn er Rassismus zitiert. Absicht und Kontext sind also nachrangig, das Wort an sich ist böse. Es führt, so die Logik, ein Eigenleben, auf das der Mensch, der es ausspricht, keinen Einfluss hat. Ähnlich furchteinflößend dürften sich Konservative in Amerika die Macht von Schimpfwörtern vorgestellt haben. Wo eine Dame fluchte, schien das Verderben nicht weit."

In der SZ begrüßt Viktoria Grossmann das Urteil des Kölner Amtsgerichts gegen den polnischen Priester und Theologieprofessor Dariusz Oko, der in der Monatszeitschrift Theologisches homosexuelle Priester als "Parasiten" und "Krebsgeschwüre" bezeichnet hatte und gegen den nun ein Strafbefehl wegen Volksverhetzung verhängt wurde: "Die Kölner Entscheidung ist deshalb ein wichtiges Signal auch für viele Polen. Die müssen sich von Kirchenvertretern und hochrangigen Politikern, in regierungstreuen Medien oder von der Kanzel, Hass und Hetze anhören - gegen Angehörige der queeren Regenbogengemeinschaft, gegen Frauen, die sich für ein liberales Abtreibungsgesetz engagieren, schlicht gegen alle Menschen, die sich ein diskriminierungsfreies Miteinander wünschen. Solche Reden führen in Polen zu genau dem, wovor das Kölner Amtsgericht die Gesellschaft bewahren will: Sie stacheln zu Hass an. In der Folge werden Homosexuelle auf der Straße verprügelt."

In der NZZ analysiert der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse den Niedergang der großen Volksparteien: Die Gründe "sind struktur- wie situationsbedingt, exogener und situativer Art. Die Erosion des gewerkschaftlichen wie des konfessionellen Milieus trifft gleich in doppelter Hinsicht zu. Zum einen gilt dies für die quantitative Ebene (die Zahl der Gewerkschaftsangehörigen sinkt ebenso wie die der Kirchenmitglieder), zum anderen für die qualitative Ebene: Die Bindung der Verbliebenen an ihr Milieu ist weniger intensiv als früher. Die geschwächte Identifikation mit einer Partei resultiert wesentlich aus der Zunahme gesellschaftlicher Individualisierung, die die alte Lebenswelt verdrängt. So lauten die strukturellen Ursachen. Zu den situativen: Durch ideologische Positionen sind vielfältige Repräsentationslücken entstanden. Angela Merkels Union hat ebenso die eigene Stammwählerschaft vernachlässigt wie die SPD, nicht erst unter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans."
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Ideen

A. Dirk Moses' Motiv ist Israelhass, schreibt Alan Posener in seinem Blog starke-meinungen.de und verweist auf einen Artikel Moses' von 2017: "Empire, Resistance, and Security: International Law and the Transformative Occupation of Palestine". Dort wolle Moses nicht nur "keinen Wesensunterschied zwischen der kolonialen Politik etwa der Briten, der Nazis und Israels gelten lassen", er mache sich auch das Weltbild der Hamas zu eigen, die Israel ganz von der Landkarte tilgen will. Die Taktik der Hamas des wahllosen Raketenbeschusses der israelischen Zivilbevölkerung heißt Moses laut Posener in diesem Artikel nicht nur gut, sondern fordert eine entsprechende Veränderung des Kriegsrechts. Unter anderem bemerkt Posener außerdem, "dass Moses als Ziel der israelischen Besatzung 'Palästinas' die 'Eliminierung der Eingeborenen' ausgibt. Nicht zufällig wählt der Israelfeind den Begriff 'elimination', der auf den von Daniel Goldhagen geprägten Begriff des 'eliminatorischen Antisemitismus' anspielt. Goldhagen unterschied einen sozusagen gewöhnlichen Antisemitismus, wie er in ganz Europa gang und gäbe war, vom besonderen 'eliminatorischen' Antisemitismus, den er vor allem in Deutschland, und nicht nur bei den Nazis, ausmachte. Führte der gewöhnliche Antisemitismus zu Diskriminierung und Ausgrenzung, so war die letzte Konsequenz des eliminatorischen Antisemitismus die Auslöschung der Juden im Holocaust. Nach Moses hat Israel in Bezug auf die Araber in Palästina ein ähnliches Ziel verfolgt und verfolgt es noch."

Außerdem: Bei den Kolumnisten weist Leonid Luks im Zusammenhang mit dem "Historikerstreit 2.0" auf einen der Urheber des "eliminatorischen" Antisemitismus hin, Houston Stewart Chamberlain, dessen "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" auch Hitler inspirierten.
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Urheberrecht

Die Reform des Urheberrechts tritt in Kraft. Im Verfassungsblog erläutern die ExpertInnen Jannis Lennartz und Viktoria Kraetzig, was sich nun alles verändert (für Laien, die nun womöglich vor Gericht landen, ein kaum verständliches Gestrüpp), und was es mit dem ebenfalls komplizierten Begriff der "Schranken" auf sich hat. Wann besteht für ein Zitat oder eine Parodie eine Vergütungspflicht, ist eine der Fragen: "Jenseits von verfassungsrechtlichen, bestehen rechtspolitische Bedenken an der Vergütungspflicht. Das Urheberrecht bewegt sich durch die digital bedingte Proliferation von Nutzungen aus einer Nische für interessierte Kreise (Musik-Verlage, Verwertungsgesellschaften und so weiter) heraus. Plötzlich ist es auch für Endnutzer wichtig. Diese Entwicklung steigert die Bedeutung des Faches, muss es aber auch verändern: Im Umweltrecht macht es auch einen Unterschied, ob man Industrieanlagen oder Privatpersonen reguliert."
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Kulturpolitik

Noch immer ist der Streit um das "Bundesfotoinstitut", das als eine Art "Marbach der Fotografie" fotografische Vor- und Nachlässe sichern soll, nicht ausgestanden. Nun drängt es aber vor der Wahl. Der Streit handelt unter anderem von den Standorten Essen, wo es um Fotografie gehen soll, und Düsseldorf, wo es um Andreas Gursky gehen soll, berichtet Maren Lübbke-Tidow in der FAZ. Für Monika Grütters ist das "keine angenehme Situation. Anstatt mit einer klaren Konzeption eine Entscheidung der neuen Koalition vorzubereiten, muss sie in einer vertrackten Lage die Akteure zusammenbringen und darf dabei nicht riskieren, ihren Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten, der sich als Ministerpräsident für seine Landeshauptstadt bereits ins Zeug legte, in schwieriges Fahrwasser zu bringen. Man darf gespannt sein, zu welchen Lösungen die Protagonisten kommen werden, die Grütters zu einem klärenden Gespräch nun nach Berlin geladen hat."
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Überwachung

Im großen Welt-Interview mit Angela Richter kritisiert Jacob Applebaum, dass Amnesty International die Liste der Pegasus-Opfer (Unsere Resümees) nicht veröffentlicht. Außerdem fordert er von Google und Apple gegen Pegasus und andere Spyware vorzugehen: "Wenn sie das tun, wird es wahrscheinlich damit enden, dass ein NSA-Mitarbeiter oder ein anderer Geheimdienstmitarbeiter ihre Firma infiltriert, um Hintertüren in ihren Code einzubauen. Das ist das Spiel, das im Moment gespielt wird. Das wissen wir aus den Snowden-Akten: CIA, NSA und andere Gruppen schicken Leute in Firmen, um im Auftrag dieser Geheimdienste üble Sachen zu machen. Es geht dabei, wie gesagt, nicht nur um die NSO-Gruppe. Apple könnte einfach ein paar Millionen Dollar an Ingenieurzeit auf dieses Problem ansetzen. Sie würden dabei nicht alle Probleme lösen. Aber sie würden es viel schwieriger und viel teurer machen, die ganze Dynamik der Spionageindustrie wäre betroffen. Aber, wissen Sie, sie werden das nicht tun, weil es nicht wirklich in ihrem Interesse ist. Diese Firmen sind auch auf das Wohlwollen von Regierungen angewiesen, um ihre Produkte zu verkaufen, und verhalten sich entsprechend. iCloud in China zum Beispiel ist komplett einsehbar für die chinesische Regierung."
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Geschichte

In der FAZ kommt die Historikerin Stefanie Coché auf die "Aktion T4", den Mord an psychisch Kranken in der Nazizeit, zurück. Diese Aktion wurde 1941 nach Protesten abgebrochen, aber das heißt nicht, dass das Sterben aufhörte, so Coché. Dennoch ließen Angehörige Verwandte in Kliniken einweisen, obwohl Gerüchte über Tötungen und ominöse frühe Tode weiter kursierten: "Dass die Möglichkeit der Krankenmorde akzeptiert wurde, ohne daraus Konsequenzen für das eigene Verhalten abzuleiten, ist als Zeichen der Radikalisierung innerhalb der nationalsozialistischen Gesellschaft zu lesen. Manche Familien bemühten sich noch, Einweisungen zu vermeiden oder in ihren Augen sichere Anstalten auszuwählen, für andere war die Nutzung der Anstalten jedoch trotz deren Pervertierung ein normales Vorgehen."

Außerdem: In der Welt schreibt Thomas Schmid den Nachruf auf den im Alter von 73 Jahren verstorbenen Germanisten und Historiker Rolf Hosfeld, dank dem der Völkermord der Jungtürken an den Armeniern in den Jahren 1916 und 1917 in der deutschen Öffentlichkeit als einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts wahrgenommen wurde.
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