9punkt - Die Debattenrundschau

Bin ich ein Akteur, der einfach draufloslebt?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2023.  Wenn Archäologen in der Türkei forschen, sollten sie besser türkische Tabus über den Völkermord an den Armeniern respektieren, berichtet die FAZ - ein amerikanischer Archäologe prangert das Schweigekartell an, ein deutscher verteidigt es. Ahmad Mansour erklärt in der Zeit, warum er Antisemitismus in der Deutschen Welle als Antisemitismus bezeichnet: "Was hätten wir machen sollen? Antisemitismus leugnen?" Holger Friedrich hat sich selbst bei Julian Reichelt eingeschmeichelt, bervor er dessen Informationen an Springer weiterreichte, berichtet die Zeit. Der neue Shooting Star der French Theory ist Däne, heißt Nikolaj Schultz und schreibt über seine Großmutter. Die Zeit porträtiert ihn.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2023 finden Sie hier

Wissenschaft

Der Genozid an den Armeniern von 1915 und 1916, dem Hundertausende zum Opfer fielen, ist in der Türkei weiterhin ein Tabu und wird geleugnet. Und internationale Archäologen, die bei ihren Grabungen auf Überreste der armenischen Zivilisation oder des Völkermords stoßen, respektieren dieses Tabu geflissentlich, um ihre Grabungserlaubnis nicht zu verlieren, berichtet Wolfgang Krischke in der FAZ unter Bezug auf einen Artikel des Archäologen Adam T. Smith in der Zeitschrift Current Anthropology (hier ein Abstract von Smiths Artikel,  hier der ganze Artikel als pdf-Dokument). Krischke hat auch mit einigen deutschen Forschern gesprochen. Und die wissen natürlich am Allerbesten, wie man mit dem Thema umgeht:  "Dass Forscher, die in der Türkei den Völkermord an den Armeniern thematisieren, mit dem Verlust ihrer Grabungserlaubnis rechnen müssen, bestätigt auch Reinhard Bernbeck, Professor am Institut für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin. Smith' Forderung nach einem offensiven Ansprechen der Armenierverfolgung begegnet er mit Skepsis. (...) Zu groß sei in der türkischen Gesellschaft über die politischen Grenzen hinweg die Übereinstimmung in der Leugnung des Genozids. (...) Statt die Türen zur Türkei zuzuschlagen, sollte man die Hoffnung auf den Diskurs mit gesprächsbereiten türkischen Akademikern setzen. Öffentliche Kritik an der türkischen Geschichtspolitik sollte, so Bernbeck, vor allem von Archäologen kommen, die außerhalb der Türkei arbeiten und so kein berufliches Risiko eingehen müssen."
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Europa

Vielfach wurde in letzter Zeit über die grausamen Haftbedingungen in Belarus berichtet (unsere Resümees). Nun ist der belarussische Aktionskünstler Ales Puschkin nach fünfjähriger Haftstrafe in einem Straflager gestorben, schreibt Barbara Oertel in der taz. "Bereits seit Ende der 1980er Jahre war Puschkin immer wieder durch spektakuläre öffentliche Aktionen aufgefallen. So war er am 25. März 1989 anlässlich des belarussischen Unabhängigkeitstages, behängt mit zwei Plakaten, auf die Straße gegangen. Darauf war unter anderem zu lesen: "Genug vom 'Sozialistischen', lasst uns die Volksrepublik wiederbeleben!" Puschkin wurde damals zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt." Im Mai 2022 wurde er erneut verurteilt, letzte Nacht ist er "unter 'ungeklärten Umständen' gestorben".

Auf Bundes- und Landesebene überzeugt die AfD vor allem durch Taten- und Erfolglosigkeit, notiert Peter Huth in der Welt. Weshalb hat sie dann trotzdem so gute Umfragwerte? "Die AfD ist im eigentlichen Kern eher Projektionsfläche als Partei. Sie bietet allen ein Zuhause, die die drei Affen, von denen einer nichts hört, der andere nichts sieht, der dritte nichts sagt, in der Flagge tragen. Die AfD ist die Verheißung auf eine segensreiche Rückkehr in eine gefühlt bessere Vergangenheit (ohne Gendern, Migranten, Klimakrise, One-Love-Binden, mit billigem Blutgas aus Russland), zumindest aber auf einen Stopp, eine Ruhepause in einer Zeit, in der sich viele schlicht überfordert fühlen. (…) Sind wir also wieder soweit? Ist die AfD also tatsächlich eine Zeitgeist-Partei?"

Kürzlich berichtete der RBB in einem "Kontraste"-Beitrag über Rechtsextremismus in Brandenburg (unser Resümee). Zuvor hatten zwei Lehrer, Laura Nickel und Max Teske, einen "Brandbrief" veröffentlicht, in dem sie vor dem Rechtsextremismus an ihrer Schule in Burg warnten. Es wurde diskutiert, aber passiert sei nichts, erklären die beiden, die jetzt ihre Kündigung eingereicht haben, berichtet Anna Kristina Bückmann im Tagesspiegel (eine kurze Meldung findet sich auf Spon). Es habe Anfeindungen aus der rechten Szene gegeben, erzählt ihr Nickel. "Die Situation sei für sie beide zu belastend. Nickel berichtet unter anderem von Stickern, die in der Region angeklebt worden sind. Darauf zu sehen: die beiden Lehrer und der Spruch: ''pisst Euch nach Berl*in'. In einem Schreiben, das mit 'einige Elternvertreter' unterzeichnet ist und an Schüler- und Eltern-Chats ging, wurde die Entlassung der beiden Lehrkräfte gefordert. In dem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, heißt es, es stünden nur Behauptungen im Raum, 'es ist nichts passiert'. Wie könne es sein, dass Lehrer 'einfach eine Schule bzw. ein ganzes Dorf in den Schmutz ziehen?'. Auf Instagram ist überdies ein neu erstelltes Profil zu finden, das unter der Bezeichnung 'zeckenjagen' zur Jagd auf die beiden namentlich erwähnten Lehrer aus Burg aufruft. Der einzige Beitrag auf dem Account zeigt ein Foto von Nickel und Teske bei einer Demonstration in Cottbus. In der Bildbeschreibung finden sich mehrere Emojis einer Faust und roter Bluttropfen."

Im Tagesspiegel sorgt sich Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations (ECFR) über die Privatisierung des Krieges. Das geht weit über das private Spenden für Drohnen hinaus, schreibt sie: "Hacker stellen ihre Fähigkeiten zur Verfügung, Amateuranalysten nutzen KI-unterstützte Bilderkennung, um über soziale Medien geteilte Videos zu analysieren und so Kriegsverbrecher zu identifizieren. Diese Beteiligung von Privatpersonen wird nicht nur durch Technik ermöglicht, neue Technologien motivieren sie auch. Es ist kein Zufall, dass ein Großteil der Spenden an Drohnenhersteller ging und nicht für profanere Dinge wie Munition und Essen ausgegeben wurde. Neue Technologien, gerade solche, die auch in Science-Fiction-Filmen auftauchen könnten, ziehen besonderes Interesse auf sich."

"Gut, dann hören wir hier auf zu schreiben.", meint Harriet Wolff in der taz, nachdem sich Macron bei einem friedlichen Frühstück inszeniert, die Unruhen in Frankreich für beendet erklärt. Außerdem dankt Macron  "beim Frühstück in Pau der Polizei. Es gebe ein Problem fehlender Autorität in der Banlieue, aber dieser Mangel sei in der Familie begründet. Punkt. Die Exekutive steht stramm an der Seite der Polizei. Die kämpft mit Personalmangel, kriegt aber nur immer noch schärferes, teures Geschütz. Begleitet wird das von teils radikalisierten Polizeigewerkschaften. Eine nannte die Aufrührer "Schädlinge und wilde Horden", schuld sei unter anderem die unkontrollierte Immigration. Dabei kommen laut Statistik rund 90 Prozent der Unruhestifter aus Frankreich."

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Ideen

Eine Forschergruppe, die die Durchsetzung des Begriffs Anthropozän betreibt, hat nun einen Ort erkoren, an sich die Behauptung eines entsprechenden, vom fatalen Einwirken des Menschen geprägten Erdzeitalters belegen lässt, den Crawford-See in Kanada. Hier hat man einen "Golden Spike" angebracht, wie man es an Erdorten tut, an denen sich ein Erdzeitalter manifestiert. Einer der Hauptlobbyisten des Begriffs in Deutschland ist Bernd Scherer, ehemals Chef des Hauses der Kulturen der Welt. Im Gespräch mit Fritz Habekuß und Maximilian Probst von der Zeit stellt er die zum nunmehr offiziellen Beweis die entsprechenden moralischen Fragen: "Wie gehe ich mit dem Wissen um, dass ich nie alles über einen Gegenstand weiß? Es beginnt schon damit, wie man sich als Mensch auf dieser Erde sieht. Bin ich ein Akteur, der einfach draufloslebt? Oder betrachte ich mich als Gast und bemühe mich, umsichtig zu handeln? Das ist in unseren Konsumgesellschaften nur schwer möglich."

Dazu passt ein Porträt über den jüngsten Shooting star der French Theory, der aber Däne ist. Elisabeth von Thadden porträtiert fürs Feuilleton der Zeit den jungen Autor Nikolaj Schultz mit vielen anekdotischen Details, die ordentlich Atmo geben ("er sucht nach seinem Zigarettenpapier. Zwei Kaffee") Der Soziologe, dessen Mentor Bruno Latour war, prägt in seinem neuesten Buch den Begriff der "Land Sickness". Es geht um das von den Boomern ausgelöste Antrhopozän: "Großmutter, ja, jetzt taucht sie im Gespräch auf wie zuvor schon im Buch, sei heute individuell ein Opfer der planetarischen Erwärmung, von Hitze, Dürre und deren Folgen. Und doch klage er, der Enkel, die Großeltern-Generation als soziales Kollektiv politisch dafür an, die Tragödie nicht verhindert zu haben. Ein Wohlstandsleben zu leben heißt im Klimawandel, andere zu zerstören oder künftig an ihrem Leben zu hindern. Und das verändert die hehre moderne Idee der Autonomie: Sie ist von Schuld nicht zu trennen, und sie entspringt der narzisstischen Hybris, von der eigenen Abhängigkeit abzusehen, um sich stark zu fühlen."

Von Schultz liegt auf deutsch das mit Latour verfasste Buch "Zur Entstehung einer ökologischen Klasse" vor. Sein Buch "Land Sickness" liegt bisher nur auf englisch vor und wird gerade übersetzt.
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Medien

Holger Friedrich, Besitzer der Berliner Zeitung, hat sich bei Julian Reichelt eingeschmeichelt, bevor er ihn verriet, berichtet Cathrin Gilbert in der Zeit. Der ehemalige Bild-Chef hatte sich bekanntlich an ihn gewandt, um mit gespeicherten Whats-App-Messages einige Beschuldigungen wegen sexueller Belästigung zu entkräften. Friedrich hatte Reichelts Informationen stante pede an den Springer Verlag weitergereicht. Vom Presserat wurde er gerügt, aber ein Berliner Gericht fand nichts dabei, so die jüngste Peripetie ("Hammer", kommentierte die FAZ, unser Resümee.) Aber wie gesagt zuvor hatte sich der alte Stasi-IM bei Reichelt eingeschleimt, erzählt Gilbert: "Am 21. Oktober 2021 schrieb Friedrich an 'Julian', er empfinde es als 'wenig fair, wie mit dir umgegangen (...) wird'. Das habe er auch seinen Redaktionen mitgeteilt: 'Wir treten nicht zu.' Und 'falls es Momente gibt, in denen du nicht weißt, wen du anrufen sollst oder ein ruhiges Essen und eine gute Flasche Wein brauchst, kannst du dich gerne melden'. Die Nachricht liegt der Zeit vor."

In einem langen Artikel für die Berliner Zeitung rechtfertigt sich Holger Friedrich: "Wir kamen zu dem Schluss, dass es hier nicht um eine Berichterstattung im öffentlichen Interesse ging, sondern um den Versuch von Herrn Reichelt, die Berliner Zeitung für seinen wirtschaftlichen Vorteil zu instrumentalisieren."

Ahmad Mansour wurde letzte Woche Opfer einer Rufmordkampagne (mehr hier), die ihn als Fälscher seiner Biografie hinstellen wollte. Nun muss er sich in der Zeit von Christoph Farkas und Evelyn Finger nochmals all die unverschämt inquisitorischen Fragen ("Sind Sie ein Islamfeind?") anhören, auf die er nochmals mit Engelsgeduld antwortet. Der Artikel des Journalisten James Jackson, der die Debatte ausgelöst hatte, war vor allem darauf angelegt, Mansours Rolle bei der Aufklärung antisemitischer Vorfälle an der Deutschen Welle anzugreifen. Darüber sagt Mansour: "Ich habe absolut niemanden entlassen, sondern gemeinsam mit der Justizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die für ihre versöhnende Art bekannt ist, judenfeindliche Aussagen bewertet. Dann haben wir mit Mitarbeitern gesprochen und sie um Klarstellung gebeten. Zu behaupten, wir hätten Menschen als antisemitisch gelabelt, ist falsch. Die Deutsche Welle hat unsere Ergebnisse nochmals bewertet und dann selber entschieden, wen sie entlässt. Was hätten wir machen sollen? Antisemitismus leugnen? So schleppend arbeiten wie die Documenta? Für ein Land, das sich 'Nie wieder!' auf die Fahnen schreibt, finde ich diese Duldsamkeit erstaunlich."
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Geschichte

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat eine riesige Biografie über Walter Ulbricht geschrieben, die in diesen Tagen erscheint. Im Gespräch mit Christoph Dieckmann und Anne Hähnig von der Zeit charakterisiert er ihn als kalten (aber nicht im Privaten!) und effizienten Apparatschik: "Ulbricht hat, wenn es darauf ankam, stets die aktuelle Linie der Kommunistischen Internationale verkündigt. Todfeind Hitlerfaschismus? Das war gestern, fortan geht's gegen den französischen und englischen Imperialismus. Er war ein Rädchen im kommunistischen Getriebe, an anderen Stellen aber auch Spiritus Rector. In der Nachkriegszeit wuchs Ulbricht, im Wechselspiel mit dem Kreml, zu einer eigenständigen politischen Größe heran."
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