9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn man all das edel beschweigt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2023. Die Zeit hat mit Flüchtlingen gesprochen, die von der tunesischen Regierung in der Wüste ausgesetzt wurden: Wie viele es waren und wieviele gestorben sind, wird man wohl nie erfahren. Die NZZ beleuchtet die Rolle der arabischen Juden in Israel. "Ich bin nur die Rettungsschwimmerin", meldet sich, äh, Pam Ella Anderson auf den Meinungsseiten der taz - und wendet sich gegen die linke Verharmlosung der Krawalle in Berliner Schwimmbädern. Die taz beleuchtet außerdem die verzweifelte Lage der Belarussen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.08.2023 finden Sie hier

Politik

Tunesien machte in den letzten Wochen durch die Aussetzung von Flüchtlingen mitten in der Wüste an der Grenze zu Libyen von sich reden. Yassin Musharbash hat für die Zeit mit einigen der Überlebenden gesprochen. Gerettet wurden sie erst, nachdem internationaler Druck auf Tunesien ausgeübt worden war, so Musharbash, wieviele ums Leben kamen, wird nie zu ermitteln sein: "Blessing aus Nigeria ist eine der Frauen, die am Mittwoch vergangener Woche gekommen sind. Ihre Geschichte demonstriert die Willkür der Behörden. Sie sei in Sfax beim Einkaufen mit ihrer zwei Monate alten Tochter aufgegriffen und in einen Bus gesetzt worden, sagt sie. Ihr Ehemann war anderswo in der Stadt unterwegs, ihre anderen beiden Kinder, drei und anderthalb Jahre alt, waren bei Nachbarn, als sie deportiert wurde. 'Die Männer zerstörten unsere Mobiltelefone', sagt sie. 'Dann fuhren wir fünf oder sechs Stunden, und sie warfen uns raus.' Sie sei mit anderen in Richtung Libyen losgelaufen, berichtet sie, nach einer Stunde seien sie auf Grenzschützer gestoßen, 'aber die schickten uns zurück'. In der Gegenrichtung sei ihr mit den Tunesiern dasselbe widerfahren. 14 Tage und Nächte habe sie in der Wüste verbracht. 'Ich war dabei, als eine Frau versuchte, ihr Kind zu gebären', berichtet Blessing. 'Das Baby überlebte, die Frau nicht.'"

Der Afrika-Forscher Mamadou Diawara beleuchtet in einem sehr instruktiven Zeit-Gespräch mit Fritz Habekuß und Carlotta Wald das Fortwirken des französischen Kolonialismus in Niger und anderen Staaten der Sahel-Zone. Die Dekolonisierung war oft eine Fassadenveranstaltung sagt er, Frankreich ging es vor allem um seinen Einfluss. Aber auf die Frage, ob Frankreich die lokalen Eliten instrumentalisiert habe, antwortet er: "In manchen Fällen sicher, und zu Recht wird das jetzt von den Demonstranten im Niger kritisiert. Aber es ist über sechzig Jahre her, dass wir eigenständig wurden. Diese Verantwortung für den Zustand unserer Länder dürfen wir nicht vergessen. Wir sind am Steuer und müssen uns deshalb auch fragen, warum die Franzosen in unseren Ländern heute noch so präsent sind und welche Mitschuld wir daran tragen."

Der politische Konflikt in Israel wird auf konservativer Seite stark von den Misrachim befeuert, deren Vorfahren orientalische beziehungsweise nordafrikanische Juden waren. Sie waren zunächst von den europäischen Juden, den Aschkenasen, die dann den israelischen Staat aufbauten, eher an die Stadtränder gedrängt worden, erzählt Richard C. Schneider in der NZZ. Im Jahr 1984 gründete sich die Schas-Partei, die vorgab,  die Interessen der Misrachim zu vertreten, seitdem an vielen Regierungen beteiligt war und heute eine radikale Partei ist, die besonders die Macht des Obersten Gerichts beschneiden will: Sie "geriert sich als Hüter eines religiösen Nationalismus, dem das Judentum wichtiger ist als die Demokratie. Diese Interpretation des Judentums wird als der Demokratie überlegen propagiert, eigentlich sogar als Antipode. Darum müsse sich der Staat grundlegend verändern, darum müsse das Oberste Gericht seiner Macht beraubt werden, da es als letzte Bastion der 'Eliten' Israels wahre Bestimmung durch eine westlich-liberale Rechtsprechung verhindere. Dieser national-theologische Ansatz findet sich längst auch bei rechten aschkenasischen Parteien wie dem Likud von Netanyahu, dessen loyalste Anhänger Misrachim sind. Was sie gerne beiseiteschieben: Die Misrachim sind mittlerweile in allen Bereichen des israelischen Lebens etabliert und integriert. Eine Realität, die mit ihrem Weltbild nicht zusammenpasst."

Asiatische Staaten versuchen gerade alles, um die Geburtenrate in ihren Ländern zu erhöhen, schreibt Felix Lill in der Zeit. Wirklich alles. "In Südkorea werden von Staats wegen schon seit Jahren sogenannte Verkupplungspartys organisiert: Blind-Date-Veranstaltungen zum Beispiel mit Liebesliedern, Weinausschank und der Möglichkeit zum gemeinsamen Videospielen. In Japan wird Ähnliches veranstaltet." In anderen Ländern versuche man es mit Geldgeschenken, doch das ändere auch nicht viel. Die Regierungen schieben es auf eine verweichlichte Männerschaft. Dabei könnte es mit ganz anderen Faktoren zusammenhängen. "Besonders in Südkorea und in Japan klagen selbst hoch qualifizierte weibliche Arbeitskräfte darüber, dass sie seltener auf Fortbildungen geschickt werden als ihre männlichen Kollegen. Weiblichen Angestellten wird vom Chef auch oft klargemacht, dass sie im Fall einer Schwangerschaft nicht erwarten könnten, im Betrieb weiter Karriere zu machen. Männer wiederum geben bei Befragungen häufig an, bei Vorgesetzten auf wenig Verständnis zu stoßen, wenn sie Vaterschaftsurlaub nehmen wollen."

Archiv: Politik

Ideen

Der Universalismus ist universeller, als es sich der Westen gern ausmalt, sagt der indische Politologe Pratap B. Mehta in einem langen Gespräch mit Jan Ross in der Zeit: "Der Westen liegt sehr falsch, wenn er die Vereinten Nationen oder die UN-Menschenrechtserklärung, die prägnanteste Artikulation universalistischer Werte in der modernen Welt, nur als ein Produkt des Westens betrachtet. Sie war das Produkt eines Aushandlungsprozesses, und in diesem Prozess haben Länder wie Indien die Position vertreten, dass Souveränität außer Kraft gesetzt werden sollte, wenn sie Institutionen wie die Apartheid ermöglicht. Ich denke, wir sollten es so sehen, dass jedes Land der Welt Teil eines dialogischen Universalismus ist. Der Westen würde sehr davon profitieren, wenn er einfach davon ausgehen würde, dass Universalismus tatsächlich universell ist."

Susan Neiman hat ein Buch geschrieben, in dem sie versucht, sich als Linke von der Kultur der Wokeness abzusetzen. Die Ideale der Aufklärung sind es, an denen wir festhalten müssen, sagt sie im Zeit-Gespräch mit Elisabeth von Thadden: "Die Ideale der Aufklärung sind nie vollkommen realisiert worden. Die Denker des 18. Jahrhunderts waren Männer ihrer Zeit. Sie waren also sexistisch, und man findet in ihren Werken auch rassistische Bemerkungen. Doch das ändert nichts daran, dass sie bahnbrechend darin waren, den Eurozentrismus zu verwerfen und Europa aus der Perspektive der restlichen Welt zu sehen."
Archiv: Ideen

Medien

RTL setzt seinen "Kahlschlag" beim Verlag Gruner und Jahr derweil fort und sucht Käufer für das Kunst-Magazin Art, schreibt Anna Ernst in der SZ. Das Fleisch-Magazin für Besserverdienende Beef! stelle man direkt ein: Der Verkauf scheiterte und es entspricht wohl auch nicht mehr dem Zeitgeist: "Schon in früheren Jahren soll es redaktionsintern Debatten gegeben haben, ob man das Heft an neue Essgewohnheiten anpassen und modernisieren könne. Artgerechte Tierhaltung etwa war immer ein Thema, doch generell galt bei Beef!, dass Fleisch das Gemüse der Leserschaft ist und bleibt. Trotz vereinzelter Themen zu neuen Ernährungsgewohnheiten hat sich bei der Ansprache und Aufmachung wenig verändert. Auch Frauen wurden nicht zur Zielgruppe. Ob das der Auflage schadete?" Wie wäre es mit einer Umbenennung in Hafermilch?
Archiv: Medien
Stichwörter: Gruner und Jahr

Gesellschaft

"Ich bin nur die Rettungsschwimmerin", meldet sich, äh, Pam Ella Anderson auf den Meinungsseiten der taz. Und wehrt sich gegen das linke Kleinreden der Krawalle in Berliner Bädern, das immerhin dazu führte, dass die Berliner BademeisterInnen geschlossen krank machten und einen Protestbrief schrieben. "Zunehmende Respektlosigkeit ist nicht nur ein Problem, das an vollen, überhitzen Beckenrändern lauert. Wenn man es weiter vorzieht, Probleme zu zerreden, Gewalt herunterzuspielen, Mackertum zu ignorieren, wird nicht nur das Baywatch-Personal wegbleiben. Nein, leider bleiben längst die höflicheren, leiseren, wehrloseren Badegäste (mit diversen und durchaus auch prekären Hintergründen) an heißeren Tagen aus Angst weg. Wenn man also weiterhin all das edel beschweigt, was das eigene Weltbild erschüttern könnte, dann haben wir vielleicht bald schon ein ganz anderes Problem."

Cannabis wird legalisiert, ok, ok, aber Claudius Seidl kann es in der FAZ kaum noch hören, weil die Debatten darum "davon ablenken, dass das tausendmal gefährlichere Drogenproblem einen anderen Namen hat: Es geht ums Kokain, es geht darum, dass jede Party in Mannheim oder Göttingen, die mithilfe von ein paar Linien so richtig in Schwung kommt, mit dazu beiträgt, dass die Ökonomie der Drogen und die Gewalt der Drogenhändler ganze Gesellschaften in Süd- und Mittelamerika zerrütten."

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kommen in ihrer Multikulti-Kolumne in der FAZ auf den Fall Fabian Wolff zurück. Er ist beileibe nicht der erste derartige Fall von Identitätsschwindel. Es handelt sich in heutigen identitätspolitischen Zeiten sogar um eine Art Geschäftsmodell (das ja auch bei Wolff funktionierte): "In Kanada ist zum Beispiel eine Native-American-Identität sehr beliebt, wie der Fall der kanadischen Regisseurin Michelle Latimer zeigte. Letztlich kam heraus, dass sie mit einer nur imaginierten Identität als Native American über Jahrzehnte hinweg Regieaufträge und Stipendien einheimste, die eigentlich Nachfahren kanadischer Ureinwohner zustanden. In den Vereinigten Staaten sind schwarze Vorfahren begehrt, um das Unrecht Rassismus anzuklagen."
Archiv: Gesellschaft

Europa

Janka Belarus schildert in der taz die verzweifelte Lage in Belarus. Ein Kilo Käse kostet 20 Euro - bei einem Monatseinkommen von 300 Euro. Auch nicht politische Menschen Denken ans Emigrieren, ein Schengen-Visum zu bekommen ist schwierig. In Litauen werden populistische Maßnahmen gegen geflüchtete Belarussen ergriffen. Hinzukommt die Repression: "Niemand weiß, was jetzt mit Wiktar Babaryka, der 2020 aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentenwahl war, oder der Bürgerrechtlerin Maria Kolesnikowa passiert, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Das sind in Europa immerhin bekannte Namen. Aber was ist mit den Unzähligen, die niemand kennt? In der Freiheit gibt es noch Dinge des täglichen Bedarfs. Im Gefängnis sind eine Garnrolle, eine Seife oder ein einfacher Lippenbalsam von unglaublichem Wert. Pyjamas aus natürlichen Stoffen sind praktisch wie ein Luxusauto. Angesichts der Tatsache, dass das Gehalt eines Häftlings in der Strafkolonie umgerechnet etwa 3 Euro pro Monat beträgt, sind all diese luxuriösen Dinge nur mithilfe von Verwandten zu bekommen. Aber deren Pakete kommen nicht immer an." Und Lukaschenko sitzt fester im Sattel denn je, berichtet Barbara Oertel in einem zweiten Artikel.

Im russischen Investigativmagazin The Insider schreibt Michael Weiss über drei regierungskritische Journalistinnen, die vermutlich vom russischen Geheimdienst vergiftet wurden: Natalia Arno, Irina Babloyan und Elena Kostyuchenko, die, nachdem sie in der Nowaja Gaseta russische Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgedeckt hatte, plötzlich "unter akuten Unterleibsschmerzen, Schlaflosigkeit, Übelkeit und extremen Angstzuständen litt. Ihr Gesicht, ihre Finger und Zehen schwollen an, ihre Handflächen wurden rot und blähten sich auf, bevor sie sich wieder normalisierte. Irgendetwas stimmte ernsthaft nicht mit ihr, aber sie wusste nicht, was. Kostjutschenko war höchstwahrscheinlich vergiftet worden. Zu diesem Schluss kommen zumindest ein halbes Dutzend Ärzte, Wissenschaftler und Chemiewaffenexperten, die The Insider zu ihrem Fall befragt hat, der bisher noch nicht veröffentlicht wurde. Und Kostyuchenko ist nicht das einzige mutmaßliche Giftopfer. Sie gehört zu einem Trio von russischen Journalistinnen und Dissidentinnen - allesamt Frauen, die das Regime von Wladimir Putin offen kritisieren und alle in verschiedenen Ländern außerhalb Russlands leben und arbeiten -, die im vergangenen Jahr von einer Reihe ähnlicher seltsamer und beunruhigender körperlicher Beschwerden heimgesucht wurden, wobei die Indizien auf ein Verbrechen hindeuten."

Russland gehen langsam die neuen Rekruten aus, konstatiert Irina Rastorgujewa in der NZZ. Ein hoher Sold soll die Männer locken - oder eben die Angst vor dem Straflager. Eines ist aber gewiss: "Die schweigende Mehrheit sowie die im Land verbliebene widerständige Minderheit haben nichts mehr zu hoffen, denn Wladimir Putin wird den Krieg nicht beenden. Er ist für den Kreml-Chef der einzig verlässliche Garant der Macht geblieben."

Bülent Mumay bereitet uns in seiner FAZ-Kolumne schon mal darauf vor, wie eine Kulturpolitik unter rechtspopulistischer Hersrchaft aussehen wird: "Letzte Woche ernannte Erdogan beispielsweise den Urheber des Kinderliedprojekts 'Opa Tayyip lebe hoch!' zum Generaldirektor der Abteilung Schöne Künste. Welch 'schöne Kunst', nicht wahr? Und in die Leitung der Staatlichen Theater berief er einen Serienstar aus dem Fernsehen. Vor Jahren war dieser Mann bei der Aufnahmeprüfung für Schauspieler an den Staatlichen Theatern durchgefallen, jetzt wurde er wegen seiner Erdogan-Treue gleich deren Direktor!" Eine Statistik nennt Mumay nebenbei: "Deutschland verzeichnet einen Anstieg von Asylanträgen türkischer Staatsbürger um 203 Prozent im Vergleich zum Vorjahr!"
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Thomas E. Schmidt geht für die Zeit eher resümierend nochmal die Verwicklungen bei der Rückgabe der Benin-Bronzen aus deutschen Museen durch. Kann Dekolonisierung von Staat zu Staat noch funktionieren? Erst schloss die Bundesregierung einen Vertrag mit der Regierung von Nigeria. Und die gab die Bronzen dann gleich weiter an den Oba von Benin. Daraufhin sprach die Bundesregierung davon, dass die Rückgabe "bedingungslos" gewesen sei: "Das Abkommen mit Nigeria ist Makulatur, falls der Oba Eigentümer der Bronzen bleibt - wonach es aussieht. Er ist ja nicht Vertragspartei. Er könnte nun auf der sofortigen Aushändigung sämtlicher Objekte bestehen, auch der als Leihgaben deklarierten. In diesem Fall müsste die deutsche Politik neu entscheiden, ob sie dem Restitutionsbegehren folgt, selbst wenn sie formal auf Einhaltung ihres Vertrages pochte. Nach dem Grundsatz der Bedingungslosigkeit müsste sie liefern."
Archiv: Kulturpolitik