9punkt - Die Debattenrundschau

Vom akuten Treppentod bedroht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2023. Die taz erinnert an das Pogrom im anatolischen Sivas gegen Aleviten vor dreißig Jahren, bei dem 37 Menschen starben: Das Verfahren wurde jetzt eingestellt. Während Frauen im Iran ihr Leben riskieren, um das Kopftuch ablegen zu dürfen, errichtet Birmingham die Skulptur "The Strength of the Hijab", staunt die NZZ. China ist ähnlich bedrohlich wie die Klimakrise, meint im Tagesspiegel die Sinologin Janka Oertel. In der FAZ freut sich die Schriftstellerin Eva Lapido über die zunehmende Toleranz der deutschen Gesellschaft. Nur die German Angst, die vergeht nie, seufzt die SZ angesichts von 3500 Baunormen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.09.2023 finden Sie hier

Europa

In der taz erinnert Wolf Wittenfeld an das Pogrom gegen alevitische Künstler und Besucher in der türkisch-anatolischen Provinzhauptstadt Sivas vor dreißig Jahren. Damals hatte ein Mob ein Hotel angezündet, in dem die alevitischen Gäste eines Kulturfestivals untergebracht waren, 37 Menschen starben, mehr als fünfzig wurden schwer verletzt. "In den Tagen vor dem Pogrom hatte die islamische und nationalistische Presse bereits gegen das Festival und insbesondere die Teilnahme von Aziz Nesin [den türkischen Übersetzer Salman Rushdies, die Red.] gehetzt. Doch der Angriff auf die Festivalteilnehmer galt nicht nur Aziz Nesin. Für sunnitische Islamisten sind die Mitglieder der alevitischen Religionsgemeinschaft schlimme Häretiker und viele Nationalisten hassen die Aleviten, die sie als linke Verräter an der Türkei denunzieren. Zwar konnte der mittlerweile verstorbene Aziz Nesin damals leicht verletzt aus dem Inferno im Madimak Hotel entkommen, dennoch war der Schock wegen der vielen Opfer groß. Vor wenigen Tagen hat nun die türkische Justiz nach dreißig Jahren einen Schlussstrich unter die juristische Aufarbeitung des Pogroms gezogen. Gegen die letzten Angeklagten, die seit Jahren unbehelligt in Deutschland leben, wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Im Gerichtssaal und draußen vor dem Gericht konnten die BesucherInnen des Prozesses im Schwurgericht in Ankara es zunächst kaum glauben."

In der FAZ wundert sich Niklas Bender nicht, dass Frankreich in Afrika so verhasst ist: An einer "Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln hat Frankreich - trotz zahlreicher Erklärungen und gut gemeinter Initiativen - nicht recht herausgefunden. Dennoch haben sich seit den Neunzigerjahren die Gewichte und auch die politisch-ökonomischen Akzente massiv verschoben. Hilfszahlungen wurden an demokratische Fortschritte gekoppelt und flossen nicht mehr nur an ehemalige Kolonien. Die wirtschaftlichen Interessen weiteten sich, der Globalisierung entsprechend, hin zu anderen afrikanischen Ländern, etwa Südafrika. ... Es versucht zusehends, seine Politik stärker an ethischen Prinzipien auszurichten - ein Ansatz, der harten Realitätstests unterworfen wird, derzeit eben den skrupelarmen Initiativen Russlands und Chinas." Bender plädiert für eine "Initiative anderer Mittelmächte", die den "interkontinentalen Austausch als auch die europäische Interessensicherung auf eine neue, weniger belastete Grundlage stellt".
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Kulturpolitik

Auf Wunsch einer lokalen Organisation in Birmingham, die sich für "Diversity" einsetzt, hat der Künstler Luke Perry die Skulptur "The Strength of the Hijab" entworfen, eine fünf Meter hohe Frauenstatue mit Kopftuch und Sichel in der Hand. Gegen das Aufstellen der Skulptur regen sich nun Proteste, berichtet Lucien Scherrer in der NZZ: "'Die Enthüllung dieser Statue ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen, die gegen Hijab-Gebote aufbegehren', schreibt Megan Manson, Kampagnenleiterin bei der britischen National Secular Society. Dies umso mehr, als das Monument der Öffentlichkeit wenige Tage nach dem ersten Jahrestag der Anti-Hijab-Proteste in Iran präsentiert worden sei. Die Statue werde wohl auch britische Musliminnen einschüchtern und den Druck der Fundamentalisten verstärken."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Perry, Luke, Hijab, Kopftuch

Internet

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In Zeiten von Klimakrise, Pandemie und vor allem dem Fortschreiten künstlicher Intelligenz vermisst die österreichische Philosophin Lisz Hirn in ihrem neuen Essay "Der überschätzte Mensch" das Menschsein neu. Im Welt-Gespräch mit Anna Schneider will sie den allgemeinen Alarmismus angesichts der Entwicklungen von KI nicht teilen: "Was uns fehlt, sind positive Szenarien. Szenarien darüber, wie künstliche Intelligenz unser Leben verbessern könnte, wie wir es zur Weiterentwicklung von Sozialem oder überhaupt des Menschen einsetzen können - jenseits von posthumanistischen Phantasien. (…) Man kann ganz eindeutig sagen, dass die Maschine immer einen Zweck erfüllt. Insofern ist sie nicht wie eine andere Person für mich, sie ist kein Selbstzweck. Die Maschine ist kein Du, sondern ein Es. Das Spannende ist die Frage, wie viel Bedeutung oder wie viel Einfluss dieses Es auf unser Leben hat. Ich glaube, das ist es der Punkt, wo das Unbehagen entsteht. Wenn wir sehen, dass wir stärker auf die Maschine angewiesen sind, dass sie uns kontrolliert, uns auswertet. Aber auch das macht die Maschine ja nicht aus einem Eigeninteresse heraus, dahinter stehen Konzerne und hinter denen stehen wiederum Menschen. Daher knüpft diese Angst eigentlich an der falschen Stelle an."
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Politik

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"Das Problem, das mit China auf uns zurollt, ist in seiner Dimension und Dringlichkeit vergleichbar mit der Klimakrise", warnt im Tagesspiegel-Gespräch die Sinologin Janka Oertel, die in ihrem gerade erschienenen Buch "Ende der China-Illusion" mit Fehlannahmen über China aufräumt, etwa mit der Annahme, China wolle sein System nicht exportierten: "Es geht Peking nicht darum, lauter kleine Chinas zu schaffen, aber es ist eine Illusion, zu glauben, wenn die chinesische Führung ihren globalen Einfluss ausbaut, gehe das vor Ort mit keiner systemischen Veränderung einher. Im multilateralen Rahmen übt Chinas Fokus neuen Druck aus, aber auch bei der Technologieentwicklung und Standardsetzung von Überwachungskameras bis hin zu Elektroautos. Dass das, was in China passiert, mit Blick auf den Ausbau von Kontrolle, Überwachung, Sicherheit und Industriepolitik auf China beschränkt bleiben werde, der Umgang mit dem Rest der Welt davon nicht betroffen sei, bleibt ein Märchen. Im Buch spreche ich vom systemischen Kollateralschaden, den wir beobachten können."

Derweil spricht Michael Maier in der Berliner Zeitung mit dem Kalligrafen und Wissenschaftler Chen Hongjie, dessen Ausstellung über die Zusammenführung chinesischer Kalligrafie mit der deutschen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte derzeit am Konfuzius-Institut der Freien Universität Berlin zu sehen ist, über den Einfluss von Goethe, Humboldt, Kant, Nietzsche und Max Weber in China: "Nietzsche ist besonders. Er spricht vor allem die Stimmung von jungen Chinesen an. Die gesamte Haltung zu Tradition und Konventionen - viele wollen etwas Neues probieren und wagen, da kann man mit Nietzsche viel anfangen."
Archiv: Politik

Ideen

"3.500 Baunormen sind beim Bau in Deutschland zu beachten. Das ist Weltrekord", stöhnt Gerhard Matzig, der sich in der SZ nicht wundert, dass es mit dem Wohnungsbau nicht vorangeht: "Ein Architekt aus München erzählte einem vor wenigen Tagen von einer zeitintensiven, also auch für das Büro teuren Diskussion über ein Treppenhaus in einem Gebäude mit Büronutzung ab dem zweiten Obergeschoss und Kindergarten im EG/OG1. Im Jour fixe habe man im Kreis von gut und gern zehn Fachplanern auf kafkaeske Weise geklärt, ob die sich aus diversen Regeln ergebenden Geländerhöhen (für Kinder: 60 bis 80 Zentimeter; für Behinderte: 85-90 Zentimeter; für Arbeitsstätten: 110 Zentimeter) im Ergebnis nicht zu einem Treppenlauf mit drei verschiedenen Handläufen in drei verschiedenen Höhen führen müssten. Theoretisch: ja. Nicht berücksichtigt sind hier die Abstände der Geländer-Stäbe, die unter drei Jahren maximal 8,9 Zentimeter betragen, elf Zentimeter ab drei Jahren - und zwölf Zentimeter für alle anderen offenbar vom akuten Treppentod bedrohten Passanten. Dass Deutschland vergleichsweise sicher erbaut ist gegen Feuer, Erdbeben und vergleichbare Katastrophen, ist schön. Dass Deutschland auch ein Dasein als Schilda einer komplett vollkaskohaften Baumentalität pflegt, erklärt auch die absurden Kosten, die immer dann entstehen, wenn man sich die absurden Könnte-ja-sein-in-einer-Million-Jahren-Sorgen von Versicherungen zu eigen macht."

Ebenfalls in der SZ hat sich Angelika Slavik das "Papierchen" angeschaut, das Olaf Scholz und Klara Geywitz zur Bekämpfung der Wohnungsmisere in Deutschland aufgesetzt haben: Da ist etwa "von einem 'Pakt' zur Planungsbeschleunigung die Rede und davon, dass 'Aktenberge in den Bauämtern reduziert werden' sollen. Wie das passiert, bleibt des Kanzlers Geheimnis. Ebenso ist von 'Spielräumen' für innovative Planung die Rede, die durch Änderungen in den Landesbauordnungen 'beabsichtigt' werden. Bis zum Jahresende soll es konkreter werden, steht in dem Papier. Die Menschen, die gerade versuchen, in einer deutschen Großstadt an eine bezahlbare Wohnung zu kommen, sind vermutlich nicht ganz so entspannt. Besonders übel ist, dass sich kein Wort zu Mieterschutz in dem Papier findet."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Scholz, Olaf

Gesellschaft

"Ausländer", also schon von ihrem Äußeren her als fremd erkennbare Menschen, gehören heute in Deutschland so selbstverständlich dazu, wie schon seit Jahrhunderten in Britannien, meint in der FAZ die Schriftstellerin Eva Lapido, der der Unterschied - und seine Abnahme - bei ihren Reisen zwischen London und Frankfurt aufgefallen ist: "Abseits aller akuten Debatten hat sich das alltägliche Straßenbild, also das, was normal ist, spürbar gewandelt. In London sind holpriges Englisch, andersartige Kleidung oder religiöse Kopfbedeckung schon lange kein Hindernis, um umstandslos zur Arbeitswelt dazuzugehören. In Frankfurt ist es jetzt auch so weit. In der Bäckerei weist der Chef die neue Aushilfe in gebrochenem, aber bestimmtem Deutsch ein, zunehmend ungeduldig, weil die Schlange vor dem Tresen wächst. Die teure Privatarztpraxis wird von drei jungen, perfekt geschminkten Arzthelferinnen im Hidschab geführt in einem Deutsch, das nur Muttersprache sein kann. Im Schwimmbad staucht die alte, hagere Afrikanerin an der Kasse jeden Badegast zusammen, der auch nur eine Minute länger bleibt als bezahlt. Und im Villenviertel freuen sich die Nachbarn über die Verlobung ihrer Tochter mit einem palästinensischen Maschinenbaustudenten."

Es gibt zwar zum Teil große Unterschiede zwischen Incels und Islamisten, aber auch einige erschreckende Gemeinsamkeiten resümiert Helena Sommer bei hpd einen Vortrag der Frauenrechtlerin Rebecca Schönenbach, Vorsitzende des Vereins "Frauen für Freiheit e. V." für die Friedrich-Naumann-Stiftung: "Wo finden sich noch Überschneidungen zwischen Incels und Islamisten? Etwa beim frauenfeindlichen Influencer Andrew Tate, der unter anderem dafür plädiert, dass Männer Frauen schlagen dürften. Er erreiche mittlerweile ein großes Publikum junger Männer in westlichen Gesellschaften, auch muslimische Teenager. In Großbritannien teilten laut Befragungen 16- bis 17-jährige Jungen zu 46 Prozent seine Ansichten. Frustrierte Teenager würden online in eine solche Denkweise hineingezogen, was dann in die reale Gesellschaft hineinwirke. Gemeinsam sei Incels und Islamisten die Überzeugung, dass Frauen keine vollwertigen Menschen seien, die über ihr Leben entscheiden dürfen. Für muslimische Incels entstand so der Begriff 'Mincels'."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Wozu es führt, wenn ein Sender wie der SWR mit einem Dirigenten wie Teodor Currentzis zusammenarbeitet, der gleichzeitig zu Putins Lieblingsmusikern gehört und seine Privatorchester von dessen Oligarchen finanzieren lässt, sah man bei der Einführung in ein SWR-Konzert durch die Orchesterleiterin Sabrina Haane. Axel Brüggemann, aus dessen Buch "Die Zwei-Klassik-Gesellschaft" wir hier vorblätterten, erzählt in seinem Crescendo-Newsletter: "Alle Beteiligten des Abends seien für 'Humanismus', 'Völkerverständigung' und 'gegen Krieg'", sagte Haane - klar, das sind so ziemlich alle Menschen auf der Welt, das würde auch Alice Schwarzer unterschreiben. Aber warum benennt sie - gerade bei Schostakowitsch - nicht klar den Angriffskrieg Russlands? Wahrscheinlich aus Rücksicht auf ihren russischen Chefdirigenten. Currentzis diktiert die Tonalität beim SWR - nicht der SWR! Auf dem Programm stand Schostakowitschs Babi Jar-Sinfonie. Kein Wort von Haane zu den fünf Opfern, die hier an der Gedenkstätte in Kiew 2022 durch russisches Bombardement ermordet wurden!" Mehr zu Brüggemann auch in Thierry Chervels Perlentaucher-Intervention zu seinem Buch "Die Zwei-Klassik-Gesellschaft".
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