9punkt - Die Debattenrundschau

Was über Jahrzehnte als Wind gesät wurde

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2023. Die Infamie, mit der die Verharmlosung von Antisemitismus verschärft wird, hat schon eine neue Qualität, kommentieren die Salonkolumnisten Masha Gessens Artikel im New Yorker. In der NZZ glaubt der Politologe Martin Wagener nicht, dass Deutschland Ernst macht, wenn Israel die Gretchenfrage nach der Schutzzusage stellt. Der Tagesspiegel warnt davor, sich davon blenden zu lassen, dass sich Rechte als Beschützer Israels aufspielen. Die taz begrüßt den Vorstoß der CDU, darüber zu diskutieren, dass nur "Muslime, die unsere Werte teilen" zu Deutschland gehören. Und netzpolitik fürchtet, dass wir dank KI bald nicht mehr unbeobachtet im Park sitzen können.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2023 finden Sie hier

Ideen

"Die Infamie, mit der die Verharmlosung von Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust fortgesetzt und verschärft wird - das hat schon eine neue Qualität. Und es ist kein Einzelfall", meint bei den Salonkolumnisten Bernd Rheinberg mit Blick auf Masha Gessens Artikel im New Yorker (unser Resümee) und einen anonymen Beitrag im Verfassungsblog. "Interessant ist auch hier die schwammige, aber listige Unterstellung, man könne in Deutschland gewisse Dinge nicht sagen, weil die Staatsräson, die bedingungslose deutsche Unterstützung Israels, dagegen stünde. Tatsächlich war die Kritik an der israelischen Regierung wegen ihres Versuchs, den Rechtsstaat auszuhebeln, und auch wegen ihrer Siedlungspolitik vor dem 7. Oktober enorm. Sie war gewaltig in Israel, sie war unmissverständlich in Deutschland, in Europa und den USA. Was es aber nicht gibt in Deutschland, das ist auch nur ein Fünkchen politischen Zweifels am Existenzrecht Israels. Man wagt sich nicht weit vor, wenn man feststellt: Genau dieses Existenzrecht ist den postkolonialen Kritikern Israels ein Dorn im Auge."

Die Geschichte des linken Antisemitismus ist lang, wenn auch in der Öffentlichkeit immer noch nicht so wahrgenommen wie die des rechten Antisemitismus. Dass der neue Antisemitismus an Kulturinstitutionen und Universitäten Fuß gefasst hat, macht ihn um so gefährlicher, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog. Für ihn manifestiert er sich auch in einer Antwort vieler Intellektueller auf Jürgen Habermas, der Israel gegen den Voruwrf genozidaler Absichten in Schutz genommen hatte (unser Resümee): "Die Antwort ließ nicht lange auf sie warten. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter die Philosophin Nancy Fraser und der Historiker Adam Tooze, widersprachen Habermas heftig (unser Resümee). Sie warfen ihm im Guardian einseitige Parteinahme für Israel vor. Und hielten es für völlig berechtigt zu fragen, ob durch das israelische Vorgehen 'die rechtlichen Standards für Völkermord erfüllt seien'. Die staatlich finanzierte Kulturlinke hat sich radikalisiert. Und macht nicht einmal mehr vor den eigenen Säulenheiligen Halt. Die Kulturrevolution frisst ihre Väter."

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Im Tagesspiegel warnt Christoph David Piorkowski davor, sich davon täuschen zu lassen, dass sich Rechte als Beschützer Israels aufspielen. Zum einen diene dies nur als Strategie, antimuslimischen Rassismus zu "befeuern". Und: "Dass die Rechte versucht, Juden gegen Muslime auszuspielen, heißt nicht, dass sie dem Judentum wohlgesinnt wäre. Denn dieses wird im alt- wie im neurechten Denken mit dem als dekadent und zersetzend gezeichneten Liberalismus assoziiert, den das völkische Milieu mehr hasst als alles andere. Der Historiker Volker Weiß hat in seinem Standardwerk 'Die Autoritäre Revolte' minutiös nachgewiesen, dass neurechte Ideologieproduzenten, von Alain de Benoist bis Karl-Heinz Weißmann, eben nicht 'den Islam' als Hauptfeind erachten, sondern den westlichen 'Universalismus'. Dieser wird hier mindestens implizit als jüdische Machenschaft imaginiert, mit der die natürliche Identität des 'Volkes' dauerhaft zersetzt werden soll." (Schade nur, dass inzwischen auch große Teile der Linken den Universalismus als Feind betrachten.)

Auf ZeitOnline ist es Alan Posener egal, von welcher Seite Antisemitismus kommt - Fakt ist: Wir haben ein Problem mit Antisemitismus. Aber der Antisemitismus an den Universitäten wundert ihn nicht: "Das Problem ist, und beileibe nicht nur in Harvard und anderen Elite-Unis der USA, dass viele Lehrkräfte und Administratoren nicht begreifen, was gerade passiert; nämlich dass sie jetzt als Sturm ernten, was über Jahrzehnte als Wind gesät wurde. Dass die akademische Mode des Postkolonialismus und der Critical Race Theory nun ausgebrochen ist aus den Seminarräumen und Hörsälen, und, um Karl Marx zu zitieren, die Massen ergriffen hat und damit zur materiellen Gewalt geworden ist. Zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden."

"Politische Probleme in unserer Gesellschaft werden zunehmend auf der Basis einer sogenannten Identitätspolitik gehandelt", nicht erst seit dem Krieg in Nahost, klagt die deutsch-französische Schriftstellerin Nathalie Weidenfeld, die in der Welt fragt: Können wir nicht mehr universell denken und urteilen? "Die Praxis der aktuellen öffentlichen Bekenntniskultur ist zu einem großen Teil ein Import aus den USA. Dort waren es zu Beginn der Kolonisation die Puritaner, die aus religiösen Gründen Bekenntnisriten praktizierten, und zwar in Form eines Nachvornetretens vor die religiöse Gemeinde, vor der dann die eigene religiöse Bekehrung vorgetragen wurde. Diese kulturelle Praxis ist heute noch in den US-Filmen und Serien sichtbar: Kaum ein Wendepunkt, in der nicht ein Bekenntnis (des eigenen Traumas, eines Fremdgehens oder geheimer Sehnsüchte) vor Anderen eine Heilung oder eine narrative Dynamik in Gang setzt. Es versteht sich von selbst, dass besagter Kampfruf, das Persönliche politisch zu machen, sich damit bestens verbinden lässt." Aber: "Der öffentliche Diskurs darf nicht zu einer Aufzählung von Positionen verkommen. Es muss auch darum gehen, Erkenntnis zu gewinnen und das große Ganze im Blick zu behalten."

Mit akademischer Zurückweisung, abgesagten Preisverleihungen oder der Entfernung aus einem Verlagsprogramm ist wenig gewonnen, meint Harry Nutt, der in der FR daran erinnert, wie der Suhrkamp-Verlag im Sommer 2002 das in der Jubiläumsreihe "40 Jahre Edition Suhrkamp" erschienene Traktat "Nach dem Terror" des kanadischen Philosophen Ted Honderich aus dem Programm nahm. Hondrich hatte in dem Traktat geschrieben: "Ich für meinen Teil habe keinen ernsthaften Zweifel (…), dass die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen Israel ein moralisches Recht ausgeübt haben. Sie hatten ein moralisches Recht, das dem moralischen Recht etwa der afrikanischen Menschen in Südafrika gegenüber ihren weißen Sklavenhaltern und dem Apartheidstaat in nichts nachsteht." Seine Wirkung habe Honderichs Traktat dennoch erzielt, so Nutt: "Dessen Rechtfertigung terroristischer Gewalt hallt nach in den weltweiten Solidaritätsbekundungen für Palästinenser, und auch die Bezeichnung Israels als Apartheidstaat hatte in Honderich einen frühen und entschlossenen Verbreiter. Unmittelbaren Einfluss hat der inzwischen 90-jährige Philosoph auf Jeremy Corbyn, den wegen seiner notorisch antisemitischen Haltungen seit jeher in der Kritik stehenden früheren Chef der britischen Labour Party."
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Gesellschaft

Anders als Christian Wulff, der vor Jahren pauschal meinte, der Islam gehöre zu Deutschland, will die CDU jetzt den Satz "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland" in ihr Grundsatzprogramm schreiben. Das ist doch mal eine Vorlage, über die man diskutieren könnte, findet Volkan Agar in der taz - wenn die anderen Parteien sich denn trauen würden. "Viel zu lange haben sich deutsche Politiker parteiübergreifend notwendigen, aber mühsamen Auseinandersetzungen über 'unsere Werte' nicht gestellt. Oft genug haben sie die Regressivsten als Sprecher vielfältiger und widersprüchlicher migrantischer Communitys anerkannt, obwohl sich viele Menschen von diesen nicht repräsentiert sahen. Und sie haben Extremisten oft genug staatlich bezuschusst. ... Wie werden 'unsere Werte' eigentlich von muslimisch sozialisierten Menschen definiert, die ein Problem mit den Bekannten und Verwandten haben, die in den Juden den Ursprung allen Übels sehen? Was sagen muslimisch sozialisierte Feministinnen dazu? Queere Personen? Was sagen die Mitglieder der Parteien, auf die all das zutrifft?"

Kaum hatte Holger Friedrich, der Besitzer der Berliner Zeitung, begeistert über eine Marxismus-Konferenz an einem Parteiinstitut in China berichtet (also über "eine Zusammenkunft, die international ansonsten nur von China Daily zur Kenntnis genommen wurde", wie die FAZ süffisant bemerkte), hebt die Stimme des Ostens erneut zum historischen Bocksgesang an. Reinhard Bartz beklagt die "Verunglimpfung der ostdeutschen Identität". Ein Gespenst gehe um, und damit meint Bartz tatsächlich Marx' "Gespenst": "Offensichtlich ist die Angst vor dem Gespenst, das schon Marx und Engels zum Schreiben ihres Manifestes motivierte, doch real: Ein Gespenst, das Millionen Ostdeutsche über eine Alternative zum Kapitalismus nachdenken lässt, weil sie von ihr entweder gehört oder sie zumindest im Ansatz schon erlebt haben... Ein Gespenst, das offensichtlich Millionen Ostdeutsche erkennen lässt, dass acht Milliarden Euro Militärhilfe für die Ukraine in Wirklichkeit ein verschleiertes Konjunkturpaket für amerikanische Rüstungskonzerne sind."
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Europa

In ihrer Rede von der Staatsräson Deutschlands hatte Angela Merkel davon gesprochen, die Sicherheit Israels dürfe "in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben", erinnert der Politologe Martin Wagener in der NZZ: "Wenn die Wahl des Begriffes ernst gemeint ist, bedeutet ein solcher Selbstanspruch, die eigene Existenz mit der eines anderen zu verbinden. Es ist ein asymmetrisches Bündnis mit einer einseitigen Schutzzusage. Das heißt, im Ernstfall mit deutschen Streitkräften zugunsten Israels zu intervenieren - wenn es dies wünscht." Bisher hat Israel die "Gretchenfrage", wie weit die Schutzzusage Deutschlands reicht, nie gestellt, fährt er fort: "Vielleicht auch deshalb, um die Bundesregierung nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber mehrere Entwicklungen zeigen, dass ein sehr weitreichendes Versprechen in der Praxis untergraben wird: So stellt Deutschland seit Jahren umfassende Mittel zur Unterstützung der Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland zur Verfügung. 2022 war es mit 202,05 Millionen Dollar nach den USA der zweitgrößte Geber des Hilfswerkes der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Weitere Gelder kommen hinzu, ohne einen Mittelzufluss an islamistische Gruppierungen abgesichert zu unterbinden. Deutsche Hilfsgelder tragen zu einer zivilgesellschaftlichen Entlastung der Hamas bei, die in den Aufbau ihres Raketenarsenals investieren konnte."

Die liberale polnische Zeitung Gazeta Wyborcza hat einen viel diskutierten Artikel der Soziologin und freien Journalistin Małgorzata Tomczak veröffentlicht, der eine manipulative Berichterstattung über Flüchtlinge kritisiert - Tomczak nimmt sich dabei selbst nicht aus, berichtet Gerhard Gnauck in der FAZ. "Viele Medien hätten die Wirklichkeit gefiltert, auf die Tränendrüse gedrückt und 'die wahren Fragen nicht gestellt'. Dass inzwischen überwiegend junge Männer an die Grenze kämen, nicht bemitleidenswerte Familien, werde ausgeblendet. Sie selbst, Tomczak, sei als Journalistin vielfach 'mehr oder weniger subtil' aufgefordert worden, Details wie die Tatsache, dass einer der Migranten für seine Reise 12.000 Euro bezahlt hatte, aus ihren Berichten zu entfernen. Sie habe nachgegeben - und halte ihre Texte heute für 'unwahrhaftig'. ... Die Juristin Hanna Machińska, die für ihr Engagement gerade mit dem deutsch-französischen Preis für Menschenrechte geehrt wurde, erwiderte dagegen auf Tomczak, man müsse an der 'humanitären Perspektive' auf das Thema festhalten."
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Überwachung

Parlament, Rat und Kommission der EU haben sich auf eine Verordnung zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz geeinigt. Bei der Gesichts- und Emotionserkennung gibt es zwar Einschränkungen, aber die werden nicht von Dauer sein, fürchtet Markus Reuter in netzpolitik: "Es gibt nun eine europaweite Rechtsgrundlage, um diese Technologie überall einzusetzen. Denn das Gesetz erlaubt das ja jetzt für bestimmte Fälle. Polizeien und Geheimdienste werden die gesetzlichen Möglichkeiten wie immer bis an den Rand der Unkenntlichkeit dehnen und per Salamitaktik versuchen, den Einsatz weiter zu normalisieren, während sie bei jeder Gelegenheit nach noch mehr 'intelligenter Technik' schreien. Es droht eine Zukunft, in der niemand mehr im Park sitzen oder sich durch die Stadt bewegen kann - ohne Gefahr zu laufen, dass Gesichtsbiometrie oder andere biometrische Daten permanent gerastert und abgeglichen werden. Das Gefühl, dass wir permanent beobachtet werden, wirkt sich auch auf andere sensible Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit aus. ... Das Ende der Anonymität im öffentlichen Raum ist ein herber Schlag für Europas angeknackste Demokratien".
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Geschichte

Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen von Medizinern im Nationalsozialismus war ein "Trauerspiel", sagt der Medizinhistoriker Volker Roelcke, der zum Thema geforscht hat, im FR-Gespräch. Auch heute werde noch gegen Menschenrechte in der Medizin verstoßen: "Auch nach 1945 gibt es viele Beispiele dafür, dass Forscher ihre Tätigkeit dort durchgeführt haben, wo sich Menschen nicht wehren können, weil sie in Notlagen sind oder keine Stimme haben, weil sie nicht gehört werden, zum Beispiel in Waisenhäusern. Das Gleiche gilt für klinische Studien in Ländern des globalen Südens - die Probanden nehmen dort zum Teil an Studien teil, weil sie sonst keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Um etwa überhaupt an ihre Tuberkulose-Medikamente dranzukommen, sind Menschen in solchen Kontexten oft bereit, Risiken einzugehen, die sie sonst nicht akzeptieren würden. Es ist leider dokumentiert, dass so etwas heute in großem Stile stattfindet. Dabei ist den Verantwortlichen klar, dass manche Staaten im globalen Süden nicht in der Lage sind, die eigentlich international geltenden ethischen Regeln zur Forschung durchzusetzen."

Anders als Frankreich oder Deutschland entschuldigt sich Großbritannien nicht für seine koloniale Vergangenheit, schreibt Thomas Kielinger in der Welt: "In Großbritannien … gehört das Empire zum DNA der heutigen Briten, doch ein rundes 'Mea culpa' wird auf lange Zeit nicht zu hören sein, zu komplex und verwoben ist die Geschichte der Insel mit ihren überseeischen 'Ablegern'. Mit gutem Grund. Seit den Anfängen der Kolonisierung im 16. Jahrhundert hat sich in England im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn (und Konkurrenten) eine stetig steigende Zahl der Gesellschaft bereitgefunden, den jeweils wachsenden Horizonten zu folgen. Während es in Spanien oder Frankreich in der Hauptsache Beamte der Kolonialverwaltung waren, die das Mutterland repräsentierten, waren unter den Briten von Anfang an viele willens, in die neuen Territorien auszuwandern und dort ihr Glück zu suchen."
Archiv: Geschichte