9punkt - Die Debattenrundschau

Die schöne Harmonie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2024. Wir sind verdammt dazu, mit der Hamas zu verhandeln, sagt David Grossman in der FAS. Derweil warnt der Internationale Gerichtshof vor einem Völkermord in Gaza - der Hamas gefällt das, weiß die Welt. Ebenfalls in der FAS fragt Michel Friedman, ob die "oft beschworene Erinnerungskultur" in Deutschland überhaupt stattfindet. Der Kampf gegen Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb werde immer "woker", klagt Deniz Yücel in der Welt. In der FR skizziert der Historiker Jens-Christian Wagner, wie die AfD das Tabu bricht, als Nazi zu gelten. Die Hürden für ein AfD-Verbot sind niedriger als angenommen, meint der der Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2024 finden Sie hier

Politik

Buch in der Debatte

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"Frieden ist die einzige Option" lautet der Titel des neuen Buches des israelischen Schriftstellers David Grossman, in dem er weiter auf eine Zweistaatenlösung setzt. Und dafür gelte es, mit der Hamas zu verhandeln, sagt er im FAS-Interview: "Tatsächlich vertraue ich den Aussagen der Hamas. Sie meinen, was sie sagen. Sie erklären offen, dass Israel ausgelöscht werden sollte. Sie haben am 7. Oktober damit begonnen. Deshalb müssen wir sie ernst nehmen. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, ist es unvermeidlich, Vereinbarungen mit ihnen zu treffen. Aber natürlich wird jede Vereinbarung zwischen uns und ihnen auf Unsicherheiten beruhen. Es wird viel Misstrauen geben. Es ist nicht leicht, zu akzeptieren, dass wir dazu verdammt sind, mit der Hamas Geschäfte zu machen. (...) Wir hoffen, dass es für sie nie wieder eine Gelegenheit wie die des 7. Oktober geben wird, was bedeutet, dass wir die ganze Zeit auf der Hut sein werden. Es ist ein gefährlicher Geisteszustand. Unsere vollständige Existenz oder der größte Teil davon wird eingeschränkt, weil wir ständig auf der Hut sein und nach Signalen oder Anzeichen für Hinweise auf etwas suchen müssen, das für uns gefährlich sein könnte. Wir sind verloren."

Gestern ließ der Internationale Gerichtshof verlauten, es bestehe die Sorge, dass Israel einen Genozid in Gaza begehen könnte. Ein "Schlag ins Gesicht" für Israel, kommentiert die Welt-Nahost-Korrespondentin Christine Kensche: "Kläger Südafrika fühlt sich bestätigt. Und offenbar auch die Terroristen: Ein hochrangiger Hamas-Funktionär, Sami Abu Zuhri, sagte, die Entscheidung des IGH sei eine wichtige Entwicklung, die dazu beitrage, die Besatzung zu isolieren und ihre Verbrechen im Gazastreifen aufzudecken. Er forderte, 'die Besatzung zu zwingen, die Entscheidung des Gerichts umzusetzen'. Diese Reaktion zeigt die Perversität des aktuellen Gazakrieges. Man kann Israel vorwerfen, dass es zu viele zivile Opfer im Gazastreifen gibt. Man kann zu größerer Zurückhaltung in der Kriegsführung aufrufen und Druck ausüben, wie es die internationale Gemeinschaft bereits tut, offenbar auch wirksam, denn die Zahl der täglichen Todesfälle im Gazastreifen geht zurück. Aber Völkermord?"

"Dass die Dauerverbrechen der Hamas so aus dem Fokus gerieten, kann man nur als Leerstelle empfinden", schreibt Ronen Steinke in der SZ: "Es ist alles richtig, was der Gerichtshof gesagt hat: Israels rechte Politiker müssen mit einer Hetze aufhören, die verbrecherisch ist. Israels Armee darf weiter kämpfen - aber sie darf eben nur gegen die Hamas kämpfen, nicht gegen die Zivilbevölkerung, und danach sah es zuletzt nicht mehr aus, weshalb die Kriegstaktiken nun dringend geändert werden müssen. Das ist ein notwendiger Zwischenruf aus Den Haag. Er ist nur unvollständig, einseitig. Man hätte gern noch mehr gehört."

In der taz beklagt Daniel Bax, dass in Den Haag nicht auch ein Waffenstillstand gefordert wurde, obwohl "das der beste Weg wäre, die Katastrophe in Gaza zu beenden und die Geiseln der Hamas durch Verhandlungen zu befreien. (…) Es ist schön, dass Hunderttausende hierzulande auf die Straße gehen, um gegen eine in Teilen rechtsradikale Partei zu protestieren, in der einige offen zu ihren Vertreibungsfantasien stehen. Seltsam nur, dass die Bundesregierung derweil auf internationaler Ebene eine in Teilen rechtsradikale Regierung unterstützt, in der manche aus ihren Vertreibungsplänen keinen Hehl machen."

"Um Israel und seine wortmächtigsten Verteidiger im Gaza-Krieg wird es zunehmend einsam", schreibt Martin Klingst, der auf ZeitOnline einen "Riss" nicht nur zwischen Süden und Norden, sondern auch innerhalb der westlichen Gesellschaften erkennt: Er "scheidet vielerorts Regierung und große Teile der Bevölkerung. Im Weißen Haus haben bereits vor einigen Monaten vor allem jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrem Präsidenten Joe Biden mitgeteilt, sie würden seine fast uneingeschränkte Unterstützung der israelischen Regierung nicht teilen. Und kürzlich äußerten auch Angestellte einiger US-Ministerien öffentlich ihren Widerstand. Nun fürchten Bidens Wahlkampfmanager, gerade jüngere Wählerinnen und Wähler könnten aus Protest gegen Amerikas Nahostpolitik der Präsidentschaftswahl im November fernbleiben und Biden den Sieg kosten. Und während westliche Regierungen, darunter auch Deutschland, einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza ablehnen, stößt diese Forderung in weiten Teilen der Bevölkerungen auf Sympathie. So sind zum Beispiel 70 Prozent der Briten dafür."

In Israel habe man das Gefühl, dass das "Nie wieder" eine "leere Worthülse" geworden sei, sagt Israels Ex-Präsident Reuven Rivlin im Tagesspiegel-Interview: "Uns wird vorgeworfen, dass wir ein Terrorstaat sind. Dabei haben diese Monster unsere Kinder regelrecht abgeschlachtet. Wir wurden und werden angegriffen - im Süden von der Hamas, im Norden von der Hisbollah, obwohl ihr die UN-Resolution 1701 verbietet, so weit in den Süden vorzurücken, wie sie das gerade tut. Wir müssen jetzt viele Länder erinnern, dass sie in den Vereinten Nationen 'Nie wieder' geschworen haben. Wir bitten nicht um Hilfe, sondern nur darum, uns tun zu lassen, was wir tun müssen. Und das ist: die Hamas loswerden, die Juden nur deshalb töten will, weil sie Juden sind. Mit der Hamas ist keine friedliche Koexistenz möglich."

"Übersehen Sie ... bitte nicht, dass diese Katastrophe acht Jahrzehnte nach dem Holocaust auch Sie betrifft", ruft Israels Botschafter Ron Prosor anlässlich des heutigen Holocaust-Gedenktages den Deutschen in der Welt entgegen, nicht nur entsetzt darüber, dass laut Forsa-Umfrage 59 Prozent der Deutschen angaben, Israel sei ihnen fremd. Auch das Internationale Rote Kreuz kritisiert Prosor: "Weder besucht es die Geiseln, noch bringt es ihnen lebenswichtige Medikamente. Seit Beginn des Krieges haben 1268 Lastwagen 15.580 Tonnen an medizinischen Artikeln nach Gaza gebracht. Das Internationale Rote Kreuz kann uns indes nicht sagen, ob etwas davon auch bei den Geiseln angekommen ist, und es verschweigt, wer für die Geiselnahme verantwortlich ist. Das ist bitter, weil es zeigt, dass diese Organisationen eben nicht für alle Menschen in Not da sind. Mir scheint, als hätte das Blut der Geiseln nicht den richtigen Rot-Ton, damit sich das Internationale Rote Kreuz zuständig fühlt."

Im taz-Gespräch will Mustafa Barghouti, Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Initiative, nichts vom 7. Oktober wissen, dafür fordert er aber palästinensische Neuwahlen - unter Einbeziehung der Hamas: "Die Hamas existiert. Sie kann nicht einfach ausgelöscht werden. Denn es geht nicht nur um Jahja Sinwar (Hamas-Führer im Gazastreifen, Anm. d. Red.), die Kämpfer oder Gaza. Die Hamas ist eine komplexe Bewegung. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Sollte sie auch nur 5 Prozent der Stimmen haben, hätte sie das Recht, eine Stimme zu haben. Wie alle. Es geht nicht um Zahlen: Es geht um Demokratie."
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Gesellschaft

Im FAS-Gespräch sucht der Soziologe Armin Nassehi nach Gründen für den weltweiten Rechtspopulismus: "In der klassischen Industriegesellschaft konnte man die unterschiedlichen Schichten und Interessen einer Gesellschaft relativ einfach in politischen Konflikten abbilden. Inzwischen folgen Konflikte nicht mehr diesem Schema. Dieser Verlust an Übersichtlichkeit verbindet Arkansas, Südfrankreich und Nordhessen. Politik ist ja nicht dazu da, transparent wie in einem Hauptseminar Problemlösungen zu diskutieren, sondern die Anmutung zu haben, dass die Probleme lösbar sind. Und Populisten leugnen genau das. Sie sagen, dass nur sie die wahren Bedürfnisse der Menschen kennen, und sprechen den Eliten schon deshalb ab, irgendetwas zu einer Lösung beitragen zu können." Dabei haben wir keine "völlig depressive Gesellschaft", meint er: "Es ist eine depressive Form politischer Semantik und eine Überforderung durch Veränderungsdruck: Klimaschutz, Digitalisierung, Krieg, Migrationsfolgen. Für all das gibt es keine eingeführten, strukturierenden Konfliktlogiken wie das Verteilungsproblem in der klassischen Industriegesellschaft."
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Europa

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Sehr enttäuscht zeigt sich Michel Friedman, aktuelles Buch "Judenhass", im FAS-Gespräch davon, dass sich auf deutschen Straßen nach den Angriffen der Hamas so wenig Solidarität mit Israel zeigte: "Der Antisemitismus, der Judenhass ist keine Erfindung der Deutschen. Aber Auschwitz ist eine Erfindung der Deutschen. Und nach Auschwitz hätte es so sein müssen, dass der Antisemitismus in Deutschland in der Form, wie wir ihn heute erleben, gar nicht mehr so virulent sein dürfte - oder falls er doch vorkommt, eine ganz andere Gegenreaktion erfährt. Ich bin sehr skeptisch, ob die oft beschworene Erinnerungskultur in Deutschland wirklich stattgefunden hat und stattfindet." Dennoch sei die größte Gefahr "nicht nur für jüdische Menschen … der Rechtsextreme, der in die politischen Machtsysteme eingedrungen ist. Dort herrscht nicht nur Judenhass, also Menschenhass, sondern auch Demokratiehass. Dass der radikale islamische Judenhass dazugekommen ist und mir große Sorgen macht, ist nicht zu leugnen. Aber nicht alle Muslime, nicht alle Migranten, nicht die Mehrheit aller Geflüchteten ist damit gemeint, sondern nur die, die in ihrer Radikalisierung auf deutschen Straßen mitskandiert haben: 'Tod den Juden!' und zu einer Gefahr für jüdisches Leben geworden sind."

"Es ist das alte Gift in neuen Schläuchen", sagt der Historiker und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Jens-Christian Wagner, der im FR-Gespräch Parallelen zwischen AfD und NSDAP zieht. Für viele sei es heute kein Tabu mehr, als Nazi zu gelten, meint er: "Das hat etwas mit dem systematischen Nebelkerzen-Werfen aus der AfD, aber auch aus dem rechtsoffenen Milieu der Pandemieleugner zu tun, in dem heute alles und jeder als Faschist und Nazi bezeichnet wird, auch dezidierte Antifaschisten. Höcke behauptet, diejenigen, die sich jetzt auf den Massendemonstrationen gegen die AfD äußern, erinnerten an die NS-Fackelmärsche von 1933. ... Die Nebelkerzen haben das Ziel, die Demokratie zu delegitimieren, den Nationalsozialismus zu relativieren und zugleich die eigene Nähe zur NS-Ideologie zu vertuschen. Am Ende ist es dann nicht mehr schlimm, als Nazi oder Faschist bezeichnet zu werden, weil man den Begriff vollkommen von seiner Bedeutung entkoppelt hat."

Die Hürden für ein AfD-Verbot sind niedriger als angenommen, schreibt in der taz der Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano. Bund und Länder müssten konzertiert vorgehen. "Zudem kann nicht genug betont werden, dass das Parteiverbot nicht nur auf die Milieus zielt, die die verfassungsfeindliche Partei wählen, sondern auch auf die, die von dieser Wahl besonders betroffen sind. Die Menschen in vulnerablen Konstellationen vor den Konsequenzen der Machtübernahme der Verfassungsfeinde zu schützen, ist ein maßgebliches Ziel. Dazu gehört eben auch, der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, was die Politik der AfD für die Menschen bedeutet, die von der rassistischen, antisemitischen, sexistischen und ableistischen Politik dieser Partei in ihrer Existenz betroffen sind. Schon die Einleitung der beiden Verfahren würde in der aktuellen Situation die Diskurslage in Deutschland verschieben und auch die Brandmauer gegen Kooperationen mit den Verfassungsfeinden verfestigen, selbst wenn sie absehbar nicht 2024 abgeschlossen werden."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Die Lagerbildung in der deutschen Kulturlandschaft nimmt neue Formen an, kritisiert die Künstlerin Hito Steyerl in einem Beitrag zur Veranstaltungsreihe "A Mentsh is a Mentsh" in der Bundeskunsthalle Bonn, organisiert von Meron Mendel und Nicole Deitelhoff, den die FAS heute bringt. Was aber auf der Strecke bleibt, ist die Kunst selbst, so Steyerl: "Künstler oder Künstlerinnen kommen nur vor, falls sie an Skandalen beteiligt sind, ob freiwillig oder unfreiwillig. Konkrete Arbeiten höchstens, sofern sie einschlägig auffällig werden. Sogar Kuratoren - in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Akteure im Feld - sind nur noch Kulisse. Es geht nicht mehr um die Kunst selbst, was sie kann oder auch nicht, sondern darum, was sie können dürfen soll. Mittlerweile sind die meisten Akteure der Debatten um Kunstfreiheit ziemlich kunstfern. Es handelt sich vor allem um Bürokraten, Verwaltungs- und Verfassungsjuristinnen, Konfliktforscher, Antisemitismusexpertinnen und -beauftragte, Anwälte, Historiker, Vertreterinnen verschiedener Interessensverbände und so weiter, die zunehmend unversöhnlich ihre internen Differenzen im Kulturbereich austragen. Vermutlich auch, weil es viele von ihnen dort nichts kostet."

In der Welt erkennt Deniz Yücel nicht nur in der Antidiskriminierungsklausel, sondern auch in der Rede vom linken Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb vor allem eins: Eine "kollektive Übersprungshandlung", Ausdruck eines "moralischen Rigorismus", der nicht mehr zeige, als dass der Kampf gegen Antisemitismus immer "woker" werde. Von "Judenhass" im deutschen Kulturbetrieb könne kaum eine Rede sein: "In Deutschland sind diese Tendenzen weit davon entfernt, tonangebend zu sein. Die deutsche Erinnerungskultur mag allzu ritualisiert sein und die immer gleichen Phrasen wiederholen. Doch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und als Folge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um diese - von der Debatte zum Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65 über die Kritik der 68er-Bewegung bis zu den erinnerungspolitischen Debatten der 1980er-Jahre - hat sich hierzulande, nicht nur, aber insbesondere in der kulturellen Elite und im Bildungsbürgertum, tatsächlich eine Sensibilität in Sachen Antisemitismus entwickelt. Vor 40 Jahren war Jürgen Habermas' Vorschlag aus dem Historikerstreit, nationale Identität nicht aus der Relativierung und Abwehr des Holocaust, sondern aus 'der kritischen Aneignung der eigenen Geschichte' zu beziehen, noch umstritten, heute ist seine Idee Allgemeingut - genau deshalb beklagen Leute wie Björn Höcke das, was sie 'Schuldkult' nennen." Außerdem, ergänzt Yücel: "Keine andere Linke der Welt ist heute grosso modo so proisraelisch wie die deutsche."

Nachdem die Ruhrbarone offengelegt hatten, dass die New Yorker Performance-Künstlerin Laurie Anderson zu den Unterstützern des "Letter against Apartheid" gehörte (Unser Resümee), hat sie nun ihre Gast-Professur an der Folkwang Universität der Künste in Essen zurückgezogen, meldet unter anderem Jörg Häntzschel, der in der SZ von Hochschuldirektor Andreas Jacob erfährt, er sei nach der Veröffentlichung erschrocken gewesen, habe aber im Gespräch mit Anderson "keinen Grund gesehen, sie auzuladen". "Laurie Anderson selbst ist auf SZ-Anfrage nicht zu erreichen. Jacob sagt, sie sei 'verstört' gewesen, dass die Frage ihrer Gesinnung überhaupt Thema wurde, was angesichts einer Unterschrift unter einem offenen Brief im Internet erstaunlich ist. Daraufhin erklärte sie ihren Verzicht auf die Professur. Das wiederum kann Jacob 'total verstehen'. 'Wir waren uns einig, dass Gesinnungsprüfungen nicht gehen.' Abgesehen davon wäre das künstlerische Arbeiten nach dem Anrollen der 'medialen Welle' nicht mehr möglich gewesen."

"Was es mit 'Gesinnungsprüfung' zu tun haben soll, wenn jemand seine Gesinnung öffentlich bekannt gegeben und große Reichweite erzielt hat mit ihr, erschließt sich allerdings nicht", kommentiert Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen: "Sie ist schon erstaunlich, diese Unfähigkeit des Kunstbetriebs, sich zu sich selber zu verhalten. Die Reaktion von Anderson setzt die Erfahrung mit Ruangrupa fort, den Documenta-15-Kuratoren, die das Gespräch als eine Form der künstlerischen Selbstverständigung proklamiert, es dann aber mit keinem geführt haben, der nicht ihrer eigenen Meinung war."

Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hat den vom Dlf erhobenen Vorwurf, die SPK habe sich selbst Gelder aus "Neustart Kultur" bewilligt (Unser Resümee), zurückgewiesen, meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Diese Unterstellungen weisen wir in aller Deutlichkeit von uns. Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand in der Stiftung hat sich hier etwas vorzuwerfen. Wir haben für viele Bund-Länder-Projekte die Geschäftsführung, aber das bedeutet nicht, dass wir hier nur im Sinne unserer eigenen Häuser agieren." Aber: "Der Deutschlandfunk teilte am Freitagabend mit: 'Nach nochmaliger Prüfung bleiben wir in Anbetracht der Fakten bei unserer Darstellung.'"
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Religion

Im FR-Gespräch skizziert der Historiker Thomas Großbölting die spezifischen Phänomene, die den Missbrauch in der evangelischen Kirche von jenem in der katholischen Kirche unterscheiden: "Für die evangelische Kirche macht die Forum-Studie eine gewisse nonchalante Machtvergessenheit aus samt einer organisierten Verantwortungslosigkeit. Niemand weiß am Ende, wer wofür zuständig und verantwortlich ist. Das begünstigt Machtmissbrauch in hohem Maße. Ein zweites Spezifikum ist die Vorstellung einer evangelischen Geschwisterlichkeit, in der so etwas wie sexualisierte Gewalt denklogisch keinen Platz haben darf. Missbrauchsopfer stören da nur die schöne Harmonie."
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Ideen

Statt von Identitätspolitik spricht der Politologe Yascha Mounk von "Identitätssynthese", die sich aus dem Postmodernismus, dem Postkolonialismus und der Critical Race Theory zusammensetze. Und deren Angriff auf den Universalismus sei nicht zu unterschätzen, sagt er im Welt-Gespräch: "Damit sich Studenten, Künstler und Intellektuelle so verblüffend empathielos auf die Seite der Hamas-Terroristen schlagen können, sind vier Konzepte wichtig, die aus der Identitätssynthese folgen: Erstens, die Welt ist nur zu verstehen als Kampf zwischen Weißen und People of Color. Zweitens, die Welt ist nur zu verstehen als Kampf zwischen Kolonialisten und Kolonisierten - wobei man so tut, als ob sich diese Konzepte vollkommen überschneiden; der Angriff auf die Ukraine wird also nicht als imperialistische Tat akzeptiert, weil die Opfer weiß sind. Drittens, wir erkennen den individuellen Rassismus nicht an als eine der Kategorien der Welt, sondern es ist alles strukturell. Das bedeutet, wenn du Teil einer unterdrückten Minderheit bist, ist es unmöglich, einem Mitglied einer dominierenden Gruppe etwas Rassistisches oder Unfaires anzutun. Und viertens, der Imperativ der Intersektionalität: Wenn du ein guter Umweltschützer sein willst oder auch nur ein Schriftsteller oder Künstler mit gutem Ansehen in deinem Milieu, dann musst du gleichzeitig die richtige Position zu Palästina einnehmen."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt der Soziologe Stefan Müller-Doohm zum hundertjährigen Bestehen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
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