Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 2. Tag

Von Ekkehard Knörer
07.02.2002. Spiegel der Gesichter: Ein Kurzfilm über den 11. September. Böse Komödie mit Happy End: "Bridget" von Amos Kollek. Unbedarft: "Bloody Sunday" von Paul Greengrass.
Donnerstag, 15.40 Uhr

Spiegel der Gesichter: Ein Kurzfilm über den 11. September und der neue Film von Amos Kollek.

Site
(Kurzfilm Wettbewerb)

"Site", der einzige Beitrag des Festivals, der sich unmittelbar auf den 11. September bezieht, tut acht Minuten lang nur eines: er zeigt Bilder von Menschen, die die Ruinen der Twin Towers betrachten. Sie weinen, sie telefonieren, sie sprechen miteinander. Nicht einmal sieht der Zuschauer, was die Augen der gezeigten Personen sehen. Diese Verweigerung des Bildes, der Bilder, die wir zur Genüge kennen, ist ein kluger Zug des Films. Er reflektiert auf das, was sich der angemessenen Darstellung entzieht. Seine Geste des Blicks in den Spiegel der Gesichter könnte eine offen ausgestellte Geste der Sprach- und der Hilflosigkeit sein.

Erstaunlicherweise aber will Regisseur Jason Kliot genau auf das Gegenteil dieser Reflexion hinaus. Er sakralisiert die Trauer - und zwar durch die den Bildern unterlegte Musik. Wer gestern Tom Tykwers "Heaven" gesehen hat, musste denken, er hört nicht recht, denn wiederum ertönen die intensiven Streicher- und Klavierklänge von Arvo Pärt und wiederum sollen sie den Bildern eine Weihe verleihen, die sie (und hier muss man unbedingt sagen: zum Glück) nicht besitzen. Im Fall von "Site" ist das jedoch fatal: alle Reflexion wird mit der Sakralisierung der Trauer, der Sprachlosigkeit stillgestellt, auf einem Klangteppich ausgebreitet, der auf nichts weiter als Pathos abzielt.

"Site", von Jason Kliot, 8 Minuten.
Termine.
pdf-Dokumentation.


Bridget (Wettbewerb)

Was in Site verschwiegen und ausgeklammert wird, das New Yorker Leben, das weiter geht, bekommt man in "Bridget" umso reichlicher, vielleicht überreichlich geboten. Natürlich ist Bridget, die x-te Zusammenarbeit von Regisseur Amos Kollek mit seinem Star Anna Thomson, vor dem 11. September entstanden (einmal sieht man auch noch die Twin Towers im Hintergrund), natürlich kann und sollte man den Film nicht als Kommentar zum Terror lesen, aber gerade die Lust am Alltag, die Respektlosigkeit des Films, lässt angesichts des vorangestellten Weiheappells erst einmal Erleichterung aufkommen.

Nicht dass die Geschichte, die Amos Kollek erzählt, nicht wüst wäre. Schon nach fünf Minuten ist Bridget von einem Auto überfahren, ihr Sohn in Fürsorge genommen und eine Freundin in einem bizarren Liegestützenwettbewerb abgeknallt worden. Nicht zu vergessen: man hat gerade ihren Mann erschossen. Damit ist der Grundstein für weitere, hier gewiss nicht im einzelnen aufzuzählende Entwicklungen gelegt, einen wahren Hindernisparcours, den Anna Thomson diesmal mit Bravour und Entschlossenheit meistert. Von grotesker Komik und dann doch schon fast ein schwarzhumoriger Kommentar zur Situation im Nahen Osten ist ein kurzer Ausflug Bridgets als Drogenkurier nach Beirut. Das ist natürlich nicht so recht Ernst zu nehmen - und auch gar nicht allzu Ernst gemeint. "Bridget" ist nicht mehr als eine mitunter böse Komödie mit Happy End, auf jeden Fall aber ein sympathischer Film.

"Bridget", von Amos Kollek, mit Anna Thomson, Lance Reddick. 90 Minuten.
Termine.
pdf-Dokumentation.

Ekkehard Knörer




Donnerstag, 12.50 Uhr

Gewalt ist böse: Und "Bloody Sunday" ist unbedarft.

Dieter Kosslick hatte verkündet, mit der Berlinale auch politische Zeichen setzen zu wollen. Schon die erste Geste in Gestalt des auf alle Plakate gesetzten frommen Wunsches "accept diversity" konnte einen skeptisch stimmen, was das Politikverständnis der Auswahlkommission angeht. "Bloody Sunday", dem Film des Briten Paul Greengrass, hatte Kosslick bereits in der Eröffnungspressekonferenz die Bürde aufgeladen, die politische Botschaft des Festivals auf den gemeinsamen Nenner zu bringen. Schon da durfte man befürchten, dass diese Botschaft von der Sorte ist, die man besser mit der Post schickt. Leider muss man sagen: so kam es.

Greengrass erzählt von einem der schwärzesten Tage Nordirlands, dem Sonntag im Jahr 1972, an dem ein friedlicher Protestmarsch der Bürgerrechtsbewegung von Londonderry von britischen Fallschirmjägereinheiten blutig niedergeschossen wurde. Er teilt seinen Film in drei Akte. Der erste umfasst die Vorbereitungen auf beiden Seiten, auf der Seite des Militärs und auf der der Protestierenden. Die Protagonisten werden vorgestellt, vor allem auf eine Identifikationsfigur läuft der Film zu: den nordirischen Politiker Ivan Cooper, der im zweiten Akt, der die Kämpfe zeigt, eine Rede hält, die die Botschaft des Films bündig zusammenfasst. Gandhi und Martin Luther King sind die leuchtenden Vorbilder. Im dritten Akt sieht man die Folgen des Massakers, sprachloses Entsetzen auf der einen, mangelndes Schuldbewusstsein auf der anderen Seite.

Nun wird man der politischen Haltung des Films kaum widersprechen wollen, ja, die Aufarbeitung des geschichtlichen Unrechts begrüßen. Dennoch bleibt es wahr, dass die Politik des Kunstwerks in der Ästhetik zu stecken hat und nirgends sonst, dass sich ein Film weder über sein Thema allein noch durch seine aufrechte Haltung als würdiger Wettbewerbsbeitrag erweist. Ästhetisch jedoch ist "Bloody Sunday" ein Musterknabe an Unbedarftheit. Die Absicht des Regisseurs war es wohl, auf alle Zurichtung durch private Geschichten zu verzichten (einen ersten Ansatz dazu lässt er inkonsequenterweise sofort ins Leere laufen), den Betrachter nicht durch Emotionen zu manipulieren. Das immerhin ist ihm gelungen, das einzige Gefühl, das er zu wecken vermag, ist bleierne Langeweile.

Filmsprachlich setzt "Bloody Sunday" ganz auf die Anmutung des Dokumentarischen. Wild fuchtelt die Handkamera durch die Gegend, immer schön abwechselnd im Lager der Demonstranten und der Militärs. Wenn die Kamera mitten drin ist, so vermutlich die Idee, wird sich auch der Betrachter aufs Schlachtfeld versetzt fühlen. Leider geht diese schlichte Rechnung nicht auf. Zu durchschaubar ist die Absicht jeder Einstellung, ohne jeden Mehrwert, ohne jede Brechung ließe sich jede Szene in einen simplen Aussagesatz übertragen. Ivan Cooper ist ein aufrechter Mann. Der Einsatz des Militärs ist töricht und barbarisch. Hier werden Unschuldige getötet. Gewalt ist böse.

Das nächste Mal, wie gesagt, lieber mit der Post.

Ekkehard Knörer (von Jump-Cut)

"Bloody Sunday", von Paul Greengrass, mit James Nesbitt, Tim Pigott-Smith, Nicholas Farrell, Großbritannien 2000, 107 min.
Weitere Links: Termine.
Der Film bei IMDB.


Donnerstag, 10.55 Uhr

Ekkehard Knoerer (von Jump Cut) schrieb gestern im Perlentaucher über Tom Tykwers Berlinale-Eröffungsfilm "Heaven": Im ersten Teil sei Heaven ein "atmosphärisch dichter Psycho-Thriller, der seine stärksten Momente am Anfang hat. Im bewussten Verzicht auf den Knalleffekt lässt Tykwer die Bombe außerhalb des Kamerabereichs explodieren, man sieht nur, das vielleicht eindrücklichste Bild, einen Riss, der sich durch die Leinwand zieht." Der Rest sei "visuelle und metaphysische Symbolik".

Heute nun die Presse:

So richtig begeistert waren die Kritiker von Tagesspiegel, FAZ und SZ zwar nicht, aber verreißen wollten sie den Film auch nicht. So schreibt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel, "Heaven" sei "kein Film aus einem Guss, sondern einer aus Aufgüssen." Aber den Schluss findet er "wunderschön" und auch die Hauptdarsteller Cate Blanchett und Giovanni Ribisi "legen sich immer wieder wunderbar ernsthaft ins Zeug." (Mehr Berlinale-Texte im Tagesspiegel hier) Michael Althen freut sich in der FAZ darüber, dass "Heaven" trotz des internationalen "Kuddelmuddels" ein "Tom-Tykwer-Film, wie er im Buche steht" gelungen ist. Holprigkeiten lastet er Kieslowski an, dem "wie so oft die Puste ausgegangen ist". Fritz Göttler bewundert in der SZ die "schöne Gelassenheit" des Films, hält sich aber mit einer Bewertung zurück.

FR- und Welt-Kritiker sind dagegen vollkommen begeistert. Daniel Kothenschulte schwärmt in der FR von der Einfachheit des Films: "Man kann diese Einfachheit in ihrer Haltung naiv nennen, in ihrer Ausführung ist sie es nicht. Was sich in Tykwers sehr ähnlich angelegtem Liebesfilm 'Der Krieger und die Kaiserin' als formales Problem ankündigte, wird hier meisterlich zu Ende gebracht: ein Verständnis von Film als geradezu traumtänzerisch gehandhabter Organisation von Zeit." Hanns-Georg Rodek sieht das in der Welt ähnlich: "Darin liegt das eigentlich Wunderbare von 'Heaven': wie Tykwer komplexeste Zusammenhänge dermaßen vereinfacht, dass man sie sofort begreift - und in ihrer gesamten Komplexität." (Mehr Berlinale-Texte in der Welt hier)

Am ungnädigsten behandelt Christina Nord den Film in der taz: Es komme nie "nie zu der Intensität, die bei Lars van Trier zum Widerspruch treibt. Tykwer will die religiöse Dimension, er will das Pathos und das Antirationale, er will Figuren, die sich selber richten, aber bitte in goutierbaren Bildern." (Mehr Berlinale-Texte in der taz hier)

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