Außer Atem: Das Berlinale Blog

Von der ungeheuren Wirkung konzentrierter Musiklosigkeit

Von Ekkehard Knörer
15.02.2003. Der Goldene Bär geht an Michael Winterbottoms Film "In this World", der Silberne Bär an Patrice Chereaus "Son frere" - und Ekkehard Knörer gratuliert der Berlinale-Jury.
Drei Filme habe ich gesehen auf der diesjährigen Berlinale, deren Bilder ich so schnell nicht vergessen werde - Murnau, Ozu und die Shaw-Brothers mit ihren jeweiligen Retrospektiven natürlich nicht gezählt. Es waren das Patrice Chereaus "Son Frere", Johnnie Tos "PTU" und Christian Petzolds "Wolfsburg". Nur einer davon, "Son Frere", lief im Wettbewerb, die anderen beiden hatte man im Forum und im Panorama versteckt. Natürlich weiß jeder, dass die vermeintlichen Nebenreihen oft genug - neben manch Obskurem - die aufregenderen, die kühneren und intelligenteren Filme zeigen; für den Verzicht auf die konzentrierte Aufmerksamkeit der filminteressierten Weltöffentlichkeit ist dieses Wissen aber kein Ersatz. Zu unüberschaubar sind die Programme von Panorama und Forum, zu diffus bleiben die Reaktionen, um über die Wirkung auf einzelne hinaus genug Licht auf die herausragenden Filme zu werfen. So wurde etwa "PTU" (als Weltpremiere im Forum zu sehen) kaum besprochen, Johnnie Tos bisher gewagtester Film (unsere Reaktion hier). Mit dieser Polizei-Ballade entfernt er sich mutig vom Hongkong-Action-Kino, dessen derzeit größter Meister er ist. Größere formale Eleganz war nirgends zu bewundern, To besitzt ein Rhythmusgefühl, das mehr mit Kino zu tun hat als begrüßenswerte Polit-Botschaften oder gar die mehr oder weniger manipulativen Emotionsmaschinchen, die Hollywood mit "The Hours" oder "Das Leben des David Gale" ins Rennen geschickt hatte. Dabei wurde "The Hours", der nicht mehr als Kunstgewerbe auf höchstem Niveau zeigte, sogar als Favorit gehandelt. Die Jury traf jedoch die richtige Entscheidung und zeichnete allein die drei Hauptdarstellerinnen mit dem Silbernen Bären aus: Meryl Streep, Nicole Kidman und Julianne Moore teilen sich den Preis.

Von den Wettbewerbsfilmen kam Steven Soderberghs "Solaris" der formalen Intelligenz Tos noch am nächsten. Nach seinen eher enttäuschenden letzten Filmen "Ocean's Eleven" und "Full Frontal" beweist Soderbergh mit seinem neuen Werk, dass er in Bildern und mit der Montage zu denken versteht wie kaum ein anderer in Hollywood. Allerdings wird die Wirkung des Films nicht zuletzt durch die - neben Ed Harris' Geschauspielere in "The Hours" - manierierteste Darstellerleistung des Wettbewerbs beeinträchtigt (über "Ja Zuster, Nee Zuster" decken wir lieber gnädig den Mantel des Schweigens): der Goldene Gummibär für Grimassieren und Gefuchtel geht an Jeremy Davies. Das - unter Inkaufnahme teils beträchtlicher Nähe zum Kitsch - bildmächtigste Werk des Wettbewerbs war Zhang Yimous politisch freilich höchst fragwürdiges Martial-Arts-Epos "Hero", das immerhin den nach dem Berlinale-Gründer benannten Alfred-Bauer-Preis erhielt.

Gleich zweimal vertreten war der Drehbuchautor Charlie Kaufman im Wettbewerb. In "Adaptation" hat er sich gleich selbst in den Film geschrieben und in einem Akt der Schizophrenie einen Zwillingsbruder gleich dazu. Beide differieren beträchtlich in ihrem Schreibansatz, Action will der eine, der andere liefert eher eine Art postmodernen Existenzialismus. Das Ergebnis ist eine höchst selbstreflexive Mischung aus beidem - die Pointen jedoch sind vorhersehbar und Spike Jonzes Regie bleibt (wie schon in "Being John Malkovich") einfallslos. "Adaptation" erhielt den Großen Preis der Jury. Über George Clooneys Debüt "Confessions of a Dangerous Mind" wird man dasselbe nicht sagen können. Die Undiszipliniertheit von Kaufmans Skript wird hier durch die Regie, die jedem passenden und leider auch jedem unpassenden Einfall nachgibt, noch verdoppelt. Der Silberne Bär für den Hauptdarsteller Sam Rockwell und seine Tour-de-Force-Leistung als Fernsehproduzent und CIA-Killer Chuck Barris jedoch ist durchaus gerechtfertigt. Ähnlich unkonzentriert wie Clooney ging nur Spike Lee zu Werke, dessen Moritat vom verantwortungslosen Drogendealer, "The 25th Hour", den 11. September, sämtliche in Manhattan aufzutreibenden Ethnien und mehr als eine überflüssige Nebengeschichte unter einen Hut bekommen wollte. Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß viel zu lang, viel zu redselig und auf die Dauer ungeheuer ermüdend aus.

Eher finster ging es zu im Wettbewerb, die Presse gewöhnte sich nur mühsam an die regelmäßig zur frühen Morgenstunde ausgeteilten weltpolitischen Tiefschläge . Der beste unter den politischen Filmen blieb der erste, Michael Winterbottoms "In This World", das halbdokumentarische Road-Movie einer Flucht von Pakistan nach London. Beherzt folgt die digitale Kamera ihren Hauptfiguren und die heikle Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion, die der Film unternimmt, glückt durchweg. Der Goldene Bär für "In This World" geht deshalb völlig in Ordnung.

In die düstere Welt des illegalen Kohlebergbaus in Nordchina zwang einen Li Yangs auch mit deutschem Geld finanzierter "Blinder Schacht", der sich als Parabel auf den Transformationsprozess im heutigen China versteht. Auch ihn hat die offenkundig den engagierten Filmen zugeneigte Jury mit einem Preis bedacht: der Regisseur, Li Yang, erhält den Silbernen Bären für den wichtigsten künstlerischen Beitrag.

Zwei Filme postierten sich und ihre Geschichten ausdrücklich an der EU-Außengrenze, Damjan Kozoles Schleuser-Porträt "Ersatzteile" an der italienisch-slowenischen, Hans-Christian Schmids Episodenfilm "Lichter" an der deutsch-polnischen. Womit wir bei den deutschen Filmen wären. Schmid, ohne Frage einer der vielversprechendsten unter den jüngeren deutschen Regisseuren, enttäuschte mit seinem Ensemblestück. Zu plakativ fielen die einzelnen Geschichten aus, zu wenig Raum blieb angesichts des abzuarbeitenden Erzählpensums für die Details, fürs Nebenbei, als dessen Meister sich der Regisseur in seinen bisherigen Filmen erwiesen hatte.

Dem freundlichen Echo bei Presse und Publikum zum Trotz: Wolfgang Beckers mit Spannung erwartete DDR-Tragikomödie "Good Bye, Lenin!" scheitert auf der ganzen Linie, und zwar am Unvermögen des Drehbuchs, aus der hübschen Grundidee - ein Sohn gaukelt seiner Mutter die Weiterexistenz der DDR nach der Wiedervereinigung vor - mehr als die absehbaren Pointen zu entwickeln. Ein bisschen mehr als ein Trostpreis ist der von der Jury an den Film vergebene "Blaue Engel". Der mit Abstand beste deutsche Film freilich lief nicht im Wettbewerb, sondern im Panorama, Christian Petzolds fürs Fernsehen entstandenes Auto-Schuld-und-Sühne-Drama mit dem sehr treffenden Titel "Wolfsburg", das aus der Strenge seiner Form eine bewegende Geschichte entwickelt, deren Präzision keiner der anderen deutschen Filme nahe kam.

Der beste, der einzige wirklich große Film des Wettbewerbs war jedoch Patrice Chereaus Brüderdrama "Son Frere", das den mit "Intimacy" eingeschlagenen Weg der Erkundung des menschlichen Intimbereichs radikalisierend fortsetzte. Spektakuläre Bilder hat Chereau dabei nicht nötig - das Wunder seines Films ist eine Eindringlichkeit, die sich aus dem Verzicht auf psychologische Erklärungen, aus dem beharrlichen Blick auf sich auflösende Grenzen des Zwischenmenschlichen ergibt. Atemberaubend der Musikeinsatz, unendlich weit entfernt vom gefühlserpresserischen Philip-Glass-Gedudel von "The Hours"; erst kurz vor Schluss durchbricht Chereau die bis dahin ganz auf Geräusche und Dialoge konzentrierte Musiklosigkeit. Die Wirkung des bewusst gesetzten Pathos ist ungeheuer: einen größeren Moment als die ersten Klänge von Marianne Faithfulls Song hatte das Festival nicht zu bieten. Nach dem Goldenen Bären für "Intimacy" vor zwei Jahren wollte die Jury wohl nicht erneut den Hauptpreis an Chereau vergeben. Zur Entscheidung, ihm den Silbernen Bären für die Beste Regie zu verleihen, kann man ihr daher nur gratulieren.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)


"Comandante" (Panorama)

Keine Frage: Oliver Stone hat sich verliebt. In Kuba, zum einen, dann aber auch, Hals über Kopf, in Fidel Castro, den "Comandante", den er in seinem Interview-Dokumentarfilm gleichen Titels porträtiert. Dreißig Stunden Material hat er auf neunzig Minuten gekürzt und ist dann doch selbst öfter, als es einem bescheidenen Mann geziemt, im Bild. Stone stellt Fragen, philosophische, politische, private - und er bekommt oft genug Antworten. Sensationelles erfährt man nicht. Nein, Folter, hat es in Kuba nie gegeben, und Che Guevara war ein wenig ungeduldig. Castro legt den Arm um Stones Schulter, krault sich im Bart und versichert, dass er durch den Verzicht auf die morgendliche Rasur Monate seiner Lebenszeit gespart habe. Die Chemie stimmt zwischen den beiden, keine Frage, irgendwann landen sie sogar bei Viagra-Scherzen.

Fidel Castro ist ein gewinnender Mensch, das bestätigt der Film, der, wie Stone in der Pressekonferenz (zu der Castro sogar beinahe gekommen wäre) mehrmals versichert, nicht mehr als ein persönliches Porträt einer historischen Legende sein soll. Auf alle kritischen Nachfragen zur vielleicht etwas zu affirmativen politischen Haltung von "Comandante" reagiert Stone gereizt. Was, meint er etwa, sei die Demokratie wert, wenn sie doch nur eine Frage des Geldes ist. Kuba sei das Paradies, wenigstens im Vergleich zu Staaten wie Brasilien oder Honduras. Worum auch immer es geht, Stone kann nicht anders, als das Kind mit dem Bad auszuschütten - und wenn er sich Fidel Castro dabei an die Brust wirft. Immerhin hat der die Stone-Filme "Platoon" gesehen, und auch "JFK". Im Gespräch versichert Castro dem strahlenden Regisseur, dass er sehr skeptisch sei, was die Alleintäterschaft Lee Harvey Oswalds angeht.

Stilistisch ist "Comandante" reiner Oliver Stone, also ein wilder Ansturm der Bilder, eine Reihung von Pawlowschen Reflexen, auf die bei ihm Verlass ist. Spricht Castro von der Atombombe, ist im nächsten Bild ein Atompilz zu sehen. Die digitalen Bilder zucken um Castro herum, ohne Sinn und Verstand schneidet Stone von einer Nahaufnahme des Gesichts zur nächsten, Hauptsache, es bewegt sich was. Historisches Material dazwischen, eine Handvoll kubanische Musik darunter, kein Klischee ist zu dumm, keine Assoziation zu hanebüchen. Wie stets geht es ihm bei seinen Zerlegungen der Bilder nicht um Analyse, schon gar nicht um Reflexion. Dinge, die man besser getrennt hielte, werden zusammengerührt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Andererseits: das war alles klar. Oliver Stone ist nicht Günter Gaus. Und ein trotz aller Einwände interessanter Blick auf einen faszinierenden Menschen ist "Comandante" allemal.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"Comandante", ein Dokumentarfilm von Oliver Stone. Spanien 2002, 90 Minuten.
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