Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 9. Tag

Von Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
18.02.2005. Ein nobler Film: Gu Changweis "Kong Que" im Wettbewerb. Hundertprozent 2004: Jacques Audiards Wettbewerbsfilm "De battre mon coeur s'arrete". Nobuhiko Obayashi "Riyuu" erzählt eine komplizierte Mordgeschichte - aber nicht mit den Mitteln des Kriminalfilms. In Lee Yoon-kis "This Charming Girl" hat die Kamera ein Verhältnis mit der Protagonistin.Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
Zwingt niemandem seine Größe auf: "Kong Que - Peackock von Gu Changwei (Wettbewerb)

Drei Geschwister, chinesische Provinz, siebziger Jahre. Von diesen Äußerlichkeiten aus arbeitet "Peacock", das Regiedebüt des Kameramanns Gu Changwei nach einem hervorragenden Drehbuch von Li Qiang, so entschieden wie sorgfältig nach Innen. Er erzählt die Geschichte einer Familie, so einfach kann man es sagen, so einfach geschieht es. Im ersten Teil konzentriert er sich auf die Tochter, aus der Großes werden könnte. Sie sprengt die Grenzen, die das Elternhaus, das Dorf, die Konventionen ihr setzen. Eines Tages landet neben ihr ein Fallschirmspringer auf der Wiese, der weiße Schirm senkt sich auf sie, sie befreit sich und will als Fallschirmspringerin zum Militär. Das Vorhaben scheitert, keine große Geschichte, aber es wird die Geschichte ihres Lebens.

Der eine ihrer beiden Brüder ist fett, er ist geistig zurückgeblieben, er wird von allen gehänselt. Sein Bruder, seine Schwester schämen sich für ihn. Eines Nachts, der Film erzählt auch das mit dem ihm eigenen Understatement, wollen sie ihn vergiften. Die Mutter bemerkt es und am nächsten Morgen vergiftet sie vor den Augen der Beinahe-Mörder eine Gans. Sie stirbt, die Kamera verweilt auf dem Tableau, zeigt, wie das Tier sich windet, aber im rechten Moment, noch bevor sie tot ist, wird abgeblendet.

Das ist die große Kunst von "Peacock": Das Gefühl für das Abblenden im rechten Moment, für das Zeigen im rechten Maß, für das Schweigen da, wo es angebracht ist. Nicht einmal hascht dieser Film nach einem Effekt, nicht einmal glaubt er, etwas explizieren zu müssen, das sich auch implizit zeigen lässt. Er ist nüchtern bis ans Herz und doch nicht kalt. Er hat Mitleid mit den Leidenden und sucht nicht ein bisschen nach einer Versöhnung, die immer nur falsch sein müsste. Der Kameramann Gu Changwei entwirft als Regisseur und mit Hilfe seines Kameramanns Yang Shu Bilder, die nicht aus sich heraus beeindrucken wollen, sondern einfach präzise sind, die zeigen, ohne den Zuschauer zu irgendetwas zu nötigen. Nicht zu Tränen, nicht zu Mitgefühl, nicht zum Hass auf die Borniertheit der ganz normalen Unmenschen, die man hier sieht.

Allen lässt der Film Gerechtigkeit widerfahren. Die Eltern, die der Tochter und dem jüngeren Sohn das Leben zur Hölle machen, lieben den behinderten Sohn bedingungslos. Und umgekehrt: Die Tochter, die in dem ihr gewidmeten Kapitel das Mitsehnen und Mitgefühl auf sich zieht, scheut vor dem Mordversuch an dem Bruder, den sie sonst immer zu verteidigen sucht, nicht zurück. Erzählt wird die Geschichte vom kleinen Bruder, der sich in einem sparsam eingesetzten Voiceover-Ich aus dem Off erinnert. Fast ist die Stimme wichtiger als das, was er sagt. Diese Stimme ist, wie der Film "Peacock", auf eine sanfte, aber tiefe Traue gestimmt. Er erzählt von der Vergangenheit ohne den leisesten Anflug von Nostalgie. Es ist ein Film, der seine Größe niemandem aufnötigt, und umso nobler ist er. An keiner Stelle erweitert er die Möglichkeiten des Kinos, das ist wahr. Aber er besitzt eine Sicherheit im Ton, im Rhythmus, im Maß der einesetzten filmischen Mittel, die ihn im Umfeld des diesjährigen Wettbewerbs doch zu einem Ereignis macht.

Und noch etwas: Bei aller Bewunderung für den einen Ton, auf den Julia Hummer und Sabine Timoteo ihre Figuren in Christian Petzolds "Gespenster" zu stimmen verstehen. Die Leistung von Zhang Jingchu in der Rolle der Schwester (alle Figuren bleiben namenlos) überragt alles, was ich an nuancierter Ausdrucksfähigkeit in der letzten Woche gesehen habe. Sie macht, wie der ganze Film, gar nicht so viel. Wie aber fast unvermerkt die Verwandlung von der lebenslustigen jungen Frau zur etwas verhärmten Geschiedenen in ihrem Gesicht, in ihrer Körperhaltung sich abspielt, das ist von jener Überzeugungskraft, die im Unspektakulären liegt und eben darum gerne übersehen wird.

Ekkehard Knörer

"Kong Que" - Peacock". Regie: Gu Changwei. Mit Zhang Jingchu, Feng Li, Lv Yulai, China 2004, 144 Minuten. (Wettbewerb)


Hundertprozent 2004: "De battre mon coeur s'est arrete - Der Schlag, der mein Herz verspielte" von Jacques Audiard (Wettbewerb)

Der beste Klavierlehrer der Welt ist eine Chinesin. Sie zeigt Tom, wie er seine Arme halten soll, aber sie zwingt ihm keine Interpretation auf. Sie kann es gar nicht, denn sie spricht nur Chinesisch.

Tom ist eigentlich im Immobiliengeschäft. Er vertreibt Mieter aus Sanierungsobjekten, vorzugsweise mit Hilfe eines Sacks voller Ratten. Wenn es sein muss, auch mit Prügeln. Danach gehen er und seine Kumpels in eine Bar, die Musik ist hart, laut und schnell, die Männer reden übers Geschäft oder den nächsten Fick. Wie im Fieber bewegt sich Tom, keine Sekunde steht er still. Auch nicht zu Hause. Da übt er Bach. Das wunderbare an Jacques Audiards Wettbewerbsfilm "De battre mon coeur s'est arrete - Der Schlag, der mein Herz verspielte" ist, dass es keinen Bruch gibt zwischen Bach und dem Elektropop, den Tom am liebsten hört, zwischen dem Schläger Tom und dem Pianisten Tom. Er bewegt sich nicht zwischen zwei Welten, er lebt in einer.

Audiard hat die fiebrige Atmosphäre dieses Films großartig inszeniert. Aber das beste an dem Film ist sein Hauptdarsteller: Romain Duris. "De battre ..." ist ein Remake von James Tobacks "Fingers". 1977 spielte Harvey Keitel die Hauptrolle. Ich habe diesen Film nie gesehen, kann mir Keitel aber gut in der Rolle vorstellen. Keitels Agressivität scheint immer direkt aus dem Zentrum seiner Person zu kommen. Duris spielt den Tom mit dem Lächeln eines Daniel Day Lewis und der Agressivität eines britischen Rockstars, sagen wir Liam Gallagher. Sie ist schon real, aber die Pose scheint immer mitgedacht. Noch in fünfzig Jahren wird man nach den ersten Szenen auf Anhieb erkennen, dass dieser Film im Jahr 2004 gedreht wurde. Das ist mehr, als man über die meisten anderen Wettbewerbsfilme sagen kann.

Anja Seeliger

"De battre mon coeur s'est arrete - Der Schlag, der mein Herz verspielte". Regie: Jacques Audiard. Mit Romain Duris, Aure Atika, Emmanuelle Devos, Niels Arestrup u.a., Frankreich 2004, 107 Minuten. (Wettbewerb)


Nobuhiko Obayashi: Riyuu (Panorama)

Vier Tote, ein komplizierter Mordfall, bei dem die Dinge anders liegen als man denkt, und seine gründliche Aufarbeitung. Es gibt zwei ermittelnde Polizisten, es gibt einen Kreis von Verdächtigen. Dennoch ist "Riyuu" kein Film, der den Konventionen des Kriminalgenres gehorchte. Schon deshalb, weil der Kreis der Verdächtigen um einen Kreis der Beteiligten, der Nachbarn, der Zeugen und weiterer Personen erweitert wird, denen teils ausführlichere Porträts gewidmet sind. Dieser Mord berührt, wie sich zeigt, eine Unzahl von Personen, mit großer Geduld öffnet der Film eine Tür nach der anderen, zeigt, erzählt, berichtet. Man verliert irgendwann ein wenig den Überblick, aber das ist durchaus Absicht, es macht nichts, ja, es mindert nicht einmal die Spannung, mit der man dieser Entfaltung bis zuletzt folgt.

"Riyuu" gibt sich als Mischung aus Dokufiktion und Spielfilm. Ein Filmteam sucht die Beteiligten auf, rekonstruiert das Geschehen, führt Interviews. Die Dokuszenen gehen bruchlos in die Spielfilmszenen über und der Film unternimmt keine besondern Anstrengungen, den Fake-Charakter der Dokumentation zu verhehlen. Dafür leistet er sich kleine Scherze wie den, immer wieder jemanden ins Zimmer treten zu lassen, der dem Dokufilm-Team, das man nicht sieht, etwas zu trinken anzubieten. Das geschieht aber eher nebenbei, es ist ein Spiel, kein Ernst gemeinter Kommentar zum Verhältnis von Dokumentation und Fiktion. Liebenswert ist "Riyuu" für seinen hübsch unterkühlten Humor, auch für den Sinn fürs Detail, der sich beispielsweise in einem rosa Kleidchen fürs Telefon, das man nur ganz kurz zu Gesicht bekommt, ebenso ausdrückt wie in der sanft verstrubbelten Frisur des Hausmeisters, der nachts aus dem Bett geholt wird.



Man hat mit Nobuhiko Obayashis "Riyuu" zudem das seltene Erlebnis, von einem Film in seine ganz eigene Welt gezogen und dann auch auf die Länge von 160 Minuten in ihr geradezu aufgehoben zu werden. Dem Dokucharakter zum Trotz setzt die kluge Regie ihre Authentizitätssignale stets nur zum Schein. Es dominieren die falschen Farben, körniges Bild-Geriesel, und immerzu spielt die Musik dazu. Ich kann mich täuschen, aber mir scheint, es bleibt kein einziges Bild ohne Musik. Erstaunlicherweise ist das hier eine wunderbare Sache. Es funktioniert ein wenig wie bei Wong Kar-Wei, als der noch nicht ins Kunstgewerbe weggedriftet war. Die Musik signalisiert nicht, was wir fühlen sollen, sie verdoppelt nicht das, was ohnehin zu sehen ist, sondern sie hat eigenweltstiftende Funktion. Der Film schafft sich und uns und seiner Geschichte einen eigenen Kosmos, entfaltet ihn mit großer Sorgfalt. Das Genre des Kriminalfilms hätte sich eine solche Variation nicht träumen lassen. Was kann man über Genrefilme besseres sagen?

Ekkehard Knörer

"Riyuu - The Motive". Regie: Nobuhiko Obayashi. Mit Ittoku Kishibe, Masami Hisamoto, Miyoko Akaza u.a., Japan, 2004, 160 Minuten. (Panorama)


Lee Yoon-ki: This Charming Girl (Forum)

Die Bilder verschweigen nicht, dass da mehr ist als die Gegenwart des charmanten, stillen Mädchens, die sie zeigen. Dass sie aber dieses Mehr nur flüsternd zeigen, dass sie kaum sprechen und es doch nicht verschweigen, das nimmt ein für "This Charming Girl", so lange dieses Flüstern währt. Die Kamera, in bewegter Nähe zum Gesicht, zum Körper, zum Hinterkopf, zum Gang des Mädchens durch die Straßen der Stadt, ist unaufdringlich, aber interessiert. Das ist mehr als eine Geste der Beobachtung, es ist in seiner Konsequenz ein Verhältnis, das sie eingeht - und das sie dann verrät in dem Moment, in dem sich alles klärt. Von einer Minute auf die andere verliert der Film seine Ambivalenz, ganz und gar. Was vorher Neugier war, Zärtlichkeit, was in seiner vorsichtigen Darstellung eines Alltags, im Postbüro, mit dem Ex-Mann, mit dem Schriftsteller, der regelmäßig zur Post kommt und das Rendezvous nicht einhält, zum leisen Porträt sich fügte, all das ist mit einem Schlag, mit einem Bild vereindeutigt.

Es ist nicht so, dass dieses Ereignis, an das die Protagonistin sich erinnert, sich erinnern muss, nicht schockierend wäre, im Gegenteil. Der Riss im Film, der Schlag, sie wären gerechtfertigt. Als Riss aber, als Schlag tritt die Erinnerung hier nicht ein. Der Film macht zunächst weiter wie zuvor. Die Ernüchterung liegt im Auge des Betrachters, der nun, in diesem Moment erst, begreift, dass der Film von Anfang an nur auf diese Erinnerung hinaus wollte, dass alles, was geschah, sich nun rückblickend ganz einfach verstehen lässt. Die in Luft aufgelöste Ambivalenz führt zur manifesten Enttäuschung. Die Kunst der Schwebe, die einen lange fasziniert hat, erweist sich als Kunstfertigkeit, die auf schlichtem psychologischem Grund gebaut war. Man hätte sich so sehr gewünscht, es gäbe hier kein schwer wiegendes Geheimnis. Von dessen Offenbarung aber erholen die Figur, der Film, der Zuschauer sich nicht mehr.

Zumal das Buch dann mit einer Wendung in Richtung Thriller fortfährt. Nicht, dass der Regisseur nicht auch hier ganz famos Töne zu setzen, Atmosphäre zu erzeugen und den Klang der Natur vibrieren zu lassen verstünde. Nun aber handelt es sich nur noch um die Umsetzung eines Traumas in Bild und Ton und gerade im Gekonnten dieser Inszenierung auch um eine Verharmlosung des Schreckens. Kurz stockt einem der Atem, als zuletzt die perlende Piano-Musik wieder einsetzt. Der falschen, weil allzu leichten Versöhnung weicht "This Charming Girl" in letzter Sekunde noch aus, aber nur um Haaresbreite. Ein durch Ambivalenz zunächst wunderbarer Film nähert sich, weil er nach thematischem Gewicht sucht, der leichtfertigen Konfektion. Eine vertrackte Sache, aber auch sehr lehrreich.

Ekkehard Knörer

"Yeoja, Jeong-hae - This Charming Girl". Regie: Lee Yoon-ki. Mit Kim Ji-soo, Hwang Jeong-min, Kim Hye-ok, Lee Dae-yeon, Lee Geum-ju u.a., Korea 2004, 99 Minuten. (Forum)