Außer Atem: Das Berlinale Blog

Vom Umgang mit Läsionen und Verformungen beim 'Visionary Archive' im Forum Expanded

Von Nikolaus Perneczky
19.02.2016. Das Visionary Archive zeigt am Beispiel von Indonesien und Nigeria, wie man mit schwer verletztem Filmmaterial umgehen kann.


Zu den Höhepunkten des Forum Expanded zählten für mich, wie schon im letzten Jahr, die Präsentationen im Rahmen des (offenbar sich verstetigenden Projekts) Visionary Archive. Archivbestände und -praxen aus aller Welt werden hier vorgestellt, mit besonderem Augenmerk auf vernachlässigte, bedrohte oder - so bei den beiden Veranstaltungen, die ich dieses Mal besucht habe - vor kurzem erst gehobene Schätze. Eine weitere Besonderheit: Oft sind es zunächst künstlerische Annäherungen ans (beschädigte) Material, die unter dem Deckmantel des Visionary Archive versammelt werden, oder doch Herangehensweisen, die einer sehr speziellen Idee vom archivarischen Auftrag verpflichtet sind.

Läsionen und Verformungen des Filmstreifens, etwa infolge des gefürchteten Essigsyndroms (aber auch Schimmelbildungen und andere biochemischer Verfallsprozesse), wurden von den hier vertretenen Archivaren, die selbst als Filmemacher oder Künstler tätig sind, in die Nähe eines von staatlicher Seite gewollten oder zumindest zugelassenen historischen Vergessens gerückt; das vom analogen Filmmaterial erlittene physische Trauma - laut Duden eine "durch Gewalteinwirkung entstandene Verletzung des Organismus" - mit kollektivpsychischen Traumatisierungen assoziiert. Daraus ergibt sich eine gegenüber gängiger Archivpraxis veränderte Auffassung davon, was an diesen Beständen relevant bzw. aufbewahrenswert ist. Über Darstellung und Dargestelltes, die Filme als Kulturerbe oder historisches Zeugnis hinaus beginnen sich die Künstler-Archivare des Visionary Archive für die Einschreibungen der Überlieferungsgeschichte ins Trägermaterial selbst zu interessieren. Und anstatt diese Einschreibungen, einem restaurativen Perfektibilitätsideal folgend, möglichst spurenlos zu beseitigen, greifen sie diese Spuren auf in dem Bemühen, sie lesbar zu machen: als Spuren (infra-)struktureller Gewalt, die sich direkt in den Deformationen des Materials aus- bzw. abdrücken.

Der oftmals mit seinen Filmen im Forum vertretene indonesische Filmemacher Edwin stellte die Arbeit des Kollektivs Laba Laba vor, das mit den Beständen des ehemaligen Propagandafilmstudios Produksi Film Negara (PFN) - verantwortlich unter anderem für den blutrünstigen antikommunistischen Propagandafilm "Pengkhianatan G30S/PKI", aus dem Ausschnitte in Joshua Oppenheimers "The Act of Killing" zu sehen sind - sowohl archivarisch als auch schöpferisch umgeht. PFN war seit der holländischen Kolonialära aktiv, eine Linie führt von dort über die Zeit der japanischen Besatzung bis zum Militärregime Suharto; Schwerpunkt des von Edwin durch einen glücklichen Zufall entdeckten Fundus sind die 1970er bis frühen 1990er Jahre.

Laba Laba begreift sich als Laboratorium; experimentiert wird nicht nur mit dem Filmmaterial selbst, sondern auch mit dessen Distribution und Präsentation - und mit den diversen historischen Bewegtbildtechnologien, die, ungenutzt und angestaubt, im PFN-Archiv lagerten. Eine der gezeigten Arbeiten war die Rekonstruktion eines fast vollständig verbrannten Animationsfilms - abzüglich der Bewegung. Einzelne Cells wurden an einer Wand des Archivs zu einem Raster angeordnet, das die unterschiedlichen Stadien der Zerstörung taxonomisch veranschaulicht. Erwähnt wurde außerdem ein Collagefilm aus Zensurschnippseln - noch eine Form von politischer Gewalt, die direkt ins Material sich einschreibt bzw. -schneidet, und die hier noch einmal anders verfügbar gemacht werden soll. "Occupy the site of propaganda production": so erklärte Edwin die Logik dieser Archivbesetzung. Der vor ihrer eigenmächtigen Besetzung inexistente Zugang zum PFN-Archiv gilt den Laboranten von Laba Laba nicht einfach als zu behebender Missstand, sondern als Ausdruck eines politischen Willens, die Geschichte Indonesiens vergessen zu machen, den sie nun ihrerseits repolitisieren wollen. Für ihre kritische Vorführpraxis benutzen sie einerseits die Archivräumlichkeiten selbst; andererseits gehen Mitglieder des Lab auf die Straße, um sich an eine breitere Öffentlichkeit zu wenden. Statt sowjetischer Kinozügen oder kubanischer mobile film units: ein sympathischer Nerd mit umgehängtem Bauchladen, auf dem ein umgekehrter Laptop mit Kopfhörern Passanten zum Filmekucken einlädt.

Die Zukunft von Laba Laba ist derzeit ungesichert. Ganz deutlich wurde aus Edwins Ausführungen nicht, worin das Problem liegt. Den momentanen Inhabern des PFN-Archivs scheint die gesteigerte kritische Aufmerksamkeit, die ihrer Institution zuteil wird, seit das Kollektiv seine Arbeit aufgenommen hat, nicht mehr ganz geheuer zu sein, weshalb sie kurzerhand den (soweit ich verstanden habe: nie formell erteilten) Zugang wieder untersagten. Ein Klage ist anhängig; man kann nur hoffen, dass Edwin und seine Crew sich durchsetzen werden können.

Ein anderes, noch in Kinderschuhen steckendes Projekt kommt aus Nigeria. Wieder ein Zufallsfund (wie vieler solcher verlorenen Schätze es wohl geben mag?): Die Lagos Film Society, ein Filmclub, der Kino aus aller Welt in die ehemalige nigerianische Hauptstadt bringt, ist in einem stillgelegten Trakt des Gebäudes, wo ihre Filmvorführungen stattfinden, auf einen riesigen Haufen rostiger Filmdosen gestoßen. Bei diesen Dosen, größtenteils fein säuberlich beschriftet, dürfte es sich um Newsreels und Dokumentarfilme in erzieherischer Absicht handeln, die von den allerersten Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit bis Ende der 1980er gedreht wurden, als die Räume etlicher staatlicher Institutionen infolge der Hauptstadtverlegung von Lagos nach Abuja einfach zurückgelassen wurden.

Die Filmrollen selbst sind, soweit erste Proben Rückschlüsse auf den Gesamtbestand zulassen, in sehr schlechtem und teils vermutlich unrettbaren Zustand. Was weiterhin mit ihnen geschehen soll, ist noch ungeklärt. Didi Cheeka, "off-Nollywood filmmaker" und einer der Projektbeteiligten, berichtet, dass eine erste Inventarisierung geplant ist, von der ausgehend besser erhaltene Titel für eine Restauration oder Digitalisierung ausgesucht werden sollen. Glaubt man einer Wortmeldung aus dem Publikum, hat es sich inzwischen herumgesprochen, dass das Berliner Arsenal-Kino die Digitalisierung einiger solcher bedrohter afrikanischer Filmbestände (z.B. aus Guinea-Bissau und dem Sudan) in den letzten Jahren begleitet hat. Bedarf gäbe es reichlich. Wenn die Mittel vorhanden sind, um weitere Zugänge aufzunehmen, könnte sich Berlin zu einem einzigartigen Zentrum marginalisierter Bewegtbildgeschichte(n) mausern: aufregende Zeiten!