Außer Atem: Das Berlinale Blog

In den saftigsten Farben: Merzak Allouaches 'Investigating Paradise' (Panorama)

Von Anja Seeliger
17.02.2017.


Wie stellen Sie sich das Paradies vor, fragt die Frau. Als Land, in dem Milch und Honig fließen, sagt der eine, da muss man nicht mehr arbeiten, der andere, es gibt Früchte im Überfluss, so der dritte. Und Wein, darum gibt es nämlich das Paradies, damit wir hier so gottesfürchtig leben, dass wir dort dann im Überfluss genießen können, was uns auf der Erde verboten ist, sagt ein fünfter. Etwa die Hälfte der befragten Männer sind überzeugt, dass jeder Mann im Paradies die Zärtlichkeiten von 72 ihm allein zugedachten Houris empfängt. Und was machen die Frauen im Paradies? Da gucken alle ganz verblüfft, diese Frage haben sie sich noch nicht gestellt.

Die Frau, die in Merzak Allouaches Film "Investigating Paradise" nach dem Paradies fragt, ist die algerische Schauspielerin Salima Abada, die hier als Journalistin Nedjma auftritt. Die Befragungen sind dagegen authentisch dokumentarisch. Ob dieser kleine Trick, der es Allouache erlaubt, ein paar kleine inszenierte häusliche Szenen einzuflechten,  wirklich nötig war? Ich glaube nicht, aber es stört auch nicht.

Befragt werden in diesem Film Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Nicht mitmachen wollten - wegen der Kamera -  Frauen aus ländlichen Gebieten und zwei salafistische Prediger, die den Märtyrertod verklären, indem sie im Internet, in Fernsehen und Radio das Paradies in den saftigsten Farben ausmalen. Nicht jeder Mann kauft ihnen das ab (die Frauen sowieso nicht). Auch unter den jüngeren gibt es sehr kritische Geister. In einer Rapper-Gruppe zum Beispiel treffen völlig konträre Meinungen aufeinander: der eine sieht Frauen als generell unrein und als Spalterinnen an, der andere hält das für Blödsinn und will im hier und heute leben, mit Frauen. An das Paradies glaubt er nicht. Auch ein muslimischer Gelehrter widerspricht entschieden den salafistischen Wunschträumen: Gott entscheidet, was mit dir nach deinem Tod geschieht, nicht ein Imam, sagt er richtig empört.

Betrachtet man die Befragten, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die algerische Gesellschaft ungefähr in der Mitte gespalten ist. Aber das stimmt wohl nicht, die Salafisten gewinnen immer mehr Zulauf. Er könne 30 säkulare Fernsehsender empfangen und 1500 religiöse, erklärt der Schriftsteller Kamel Daoud im Interview. Dazu kommt die Verbreitung der salafistischen Botschaft übers Internet, Youtube, die sozialen Medien. Sie erreicht täglich Millionen Menschen.

Einen der schönsten Sätze im Film sagt - wenn ich mich richtig erinnere - Boalem Sansel: Er spricht über die Frauen in der arabischen Welt und warum ihre Gleichberechtigung für ihn wesentlich ist. Nicht, weil sie ihn zum besseren, moralischeren Menschen macht, sondern weil sie ihn überhaupt erst zum Menschen macht. "Die Freiheit der Frauen ist meine Freiheit. Wenn sie nicht frei sind, bin ich es auch nicht." Damit spiegelt er einen Satz von James Baldwin, der in Raoul Pecks unbedingt sehenswerter Doku "I'm not your negro" (unsere Kritik) etwas ganz ähnliches sagt: Die Anerkennung der Gleichberechtigung der Schwarzen sei nicht etwas, dass Weiße für Schwarze tun müssen, es ist etwas, das sie für sich selbst tun müssen. Denn wenn der Schwarze kein Mensch ist, dann kann der Weiße es auch nicht sein.

Tahqiq fel djenna - Investigating Paradise. Regie: Merzak Allouache. Frankreich / Algerien 2017, 135 Minuten. (Vorführtermine)